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"Der Besuch"
Israelischer Alltag und unvollendete Realität

Das Romandebüt der israelischen Autorin Hila Blum über eine Jerusalemer Familie erzählt die Geschichte einer Ehe in ihrem neunten Jahr. "Der Besuch" ist ein kluger, aber an Ereignissen armer Roman, der durchaus Geduld von seinen Lesern einfordert.

Von Tanya Lieske | 09.03.2015
    Der Debütroman der israelischen Autorin Hila Blum überrascht durch seine immense Privatheit. Erzählt wird die Geschichte einer Ehe in ihrem neunten Jahr. Verschleiß ist eingetreten, der Alltag beherrscht also die Lage, samt seiner kleinen Heimlichkeiten. Nili und Nati sind die Eheleute. Dida ist die dreizehnjährige Tochter aus der ersten Ehe des Mannes, Asia das gemeinsame, fünfjährige Kind.
    Nili, Nati, Dida, Asia, die Namen klingen wie Verkleinerungen, und ob das nun beabsichtigt ist oder nicht – man hat als Leser den Eindruck, in den Kokon einer Familie einzudringen. Die Außenwelt spielt eine nachgeordnete Rolle in dem kammerspielartigen Verlauf dieses Romans. Die Erwachsenen Nili und Nati kommen selbst aus kleinen Familien, eine Schwester und zwei Mütter tauchen auf, sonst keine Verwandten, keine Nachbarn, kaum Arbeitskollegen, und weiter: Es gibt keine nennenswerte Geschichte, weder familiär noch kollektiv, es gibt auch keine Politik in diesem israelischen Alltag.
    Das, was erzählt wird, könnte in Frankfurt spielen, in New York oder eben in Jerusalem, wo die Autorin Hila Blum lebt. Cocooning, der totale Rückzug ins Private, ist ein Wort, mit dem der Kosmos dieses Romans gut beschrieben werden kann. Entsprechend aufgeladen in ihrer Bedeutung ist die Wohnung, die Nili und Nati zu Beginn ihrer Ehe gekauft haben:
    Totaler Rückzug ins Private
    "Vor sechs Jahren, als sie diese Dachwohnung im Emek Refaim in Jerusalem gekauft haben, hielten sie sich für Glückspilze. Phänomenale Glückspilze. Niedrige Lampen würden mit ihrem weichen Licht die hohen Wände erhellen. Die Böden würden mit Teppichen und Büchern bedeckt sein. Besucher würden bei ihnen sitzen, Wein aus Kristallgläsern trinken. Über Literatur und Musik diskutieren. (...) Es waren vollkommen quadratische Zimmer, vollendet in ihrem Verhältnis von Länge, Breite und Höhe, geometrischer Adel im goldenen Schnitt, oder proportioniert wie das vollendete Rechteck einer Kreditkarte – wie hätte man auf so etwas verzichten können?"
    In das Leben in der Trutzburg platzen nun zwei Nachrichten, eine mit symbolischem Charakter, die andere eine Ankündigung. Beide werfen die Protagonistin, die 38-jährige Ehefrau Nili, aus deren Sicht der Roman erzählt wird, aus dem sicheren Trott ihres Alltags. Die erste Nachricht betrifft ein entführtes Kind, es ist der Sohn russischer Einwanderer, und über ihn wird in allen Medien berichtet. Die zweite Nachricht ist die des titelgebenden, angekündigten Besuchs.
    Dieser Besucher führt Nili in ihren Gedanken zurück in die ersten Wochen ihrer Liebe zu Nataniel. Damals reisten sie nach Paris, es war ein Liebesurlaub, der ein tragikomisches Ende fand. Am letzten Abend dinierten Nili und Nati in einem der teuersten Restaurants der Stadt, die Rechnung belief sich auf viele hundert Euro, und am Ende des Abends stellten sie fest, dass Natis Portemonnaie samt der Flugtickets verloren war. Ein sehr lauter, sehr pompöser und sehr reicher Franzose namens Duclos lieh ihnen damals Geld, half ihnen aus der Patsche, hinterließ eine kometengleiche Leuchtspur in der Geschichte ihrer jungen Zweisamkeit:
    Die unvollendete Realität wird zur vollendeten Geschichte
    "Es war ihre Lieblingsgeschichte aus dem Parisurlaub, die Tausendundeine-Nacht-Erzählung, die Touristen am Zoll vorbeischmuggeln, ein Skalp am Gürtel. Und ab und zu haben sie, in stillschweigendem Einverständnis, die Version ausgeschmückt. Ein Detail da, ein anderes dort. Sie übertrieben Duclos' lärmende Stimme, schoben ihm eine Zigarre in den Mundwinkel, verwandelten ihn in ein echtes Schwein mit polierten Schuhen und einer goldenen Uhr. Sie kreierten eine vollendete Geschichte."
    Die vollendete Geschichte oder genauer - die unvollendete Realität, die durch wiederholtes Erzählen in eine vollendete Geschichte umgewandelt wird, das ist das Thema dieses Romans. In den anderthalb Tagen, die vergehen werden, bis der Franzose Duclos in Jerusalem eintreffen wird, lässt Nili ihr Leben Revue passieren. Sie benennt und verwischt Ereignisse, die sie geprägt haben, jeden als Person, sie alle als Paar und Familie. Dabei entstehen aus scheinbar unverbundenen Ereignissen neue, miteinander kommunizierende Muster.
    Ausgehend von dem russischen Jungen wird zum Beispiel das Thema des entführten oder des kranken Kindes zu einem solchen Muster, es wiederholt sich in einem epileptischen Anfall, den Asia erleidet, und in Nilis Sorge, ihre Tochter nie wieder zu sehen, als diese für ein paar Tage mit Nilis Schwester nach Eilat fährt. Auch Schwesternschaft ist ein Thema, aus dem neue Muster entstehen, auch die seismischen Verschiebungen in einer Partnerschaft.
    Hila Blum arbeitet in all diesen Fällen mit Doppelungen und Spiegelungen, was erzählerisch durchaus reizvoll ist. Wenn Nili etwa an den Franzosen Duclos und an dessen Frau Pauline denkt, beschreibt sie zugleich die Ambivalenzen in ihrer Ehe mit Nati:
    Erwartungen werden unterlaufen
    "Und was Duclos und seine Frau betrifft, gibt es ebenfalls mehr Geheimnisse als das, was man von außen sieht. Wer kann erraten, wie ihr Leben hinter verschlossenen Türen abläuft? Selbstverständlich haben sie schon damals, in Paris, ein Spiel mit ihnen gespielt. Eines dieser Spiele, die man erst während des Spiels versteht, ein Spiel der neuen Generation, bei dem die Spieler ihre eigenen Regeln finden müssen. Aber um welche Labyrinthe und Drachen geht es? Um was für eine Odyssee?"
    Das Gedankenlabyrinth wird zum Erzähllabyrinth. Nilis Erinnerungen sind sprunghaft, folgen keiner Chronologie, vielmehr schreiten sie in den benannten thematischen und motivischen Vignetten voran. Insofern ist "Der Besuch" ein an Ereignissen armer Roman - also einer, der durchaus Geduld von seinen Lesern einfordert. Auf den angekündigten Besuch des Herrn Duclos in Jerusalem wartet man lange. Dann folgt ein großes Finale, eine Enthüllung, in der sich das Drama eines ganzen weiteren Lebens zeigt, dieses so raumfüllend wie ein ganzer weiterer Roman.
    Das klingt nach Knalleffekt in der Zielgeraden, und so ist es auch. Es ist, als hätte die Autorin ihrer eigenen, eher verinnerlichten Erzählstimme misstraut, was schade ist. Entstanden ist ein kluger, aber in seiner Komposition nicht ganz ausgereifter Roman. Ein Roman zudem, der viele Erwartungen unterläuft, die man an ein Stück israelischer Gegenwartsliteratur heran trägt.

    Hila Blum: "Der Besuch."
    Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler.
    Berlin Verlag, 2014, 416 Seiten, 22,99 Euro.