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"Der Bourgeois"
Sieg des Kapitalismus und Tod der bourgeoisen Kultur

Der heroische Aufstieg und der dramatischen Abstieg in die Grauzone der Gegenwart stehen im Zentrum von Franco Morettis gleichnamigem Buch über den Bourgeois. Adorno hätte sein sympathetisches Vergnügen an Morettis Methode gefunden, ausschließlich durch das Medium der literarischen Form das heutige Verschwinden des Bourgeois im Diffusen der globalisierten Welt zu konstatieren, meint unser Rezensent.

Von Wolfram Schütte | 12.08.2015
    Um es gleich vorweg zu sagen: Schon lange habe ich kein Sachbuch mit dem gleichen intellektuellen Vergnügen und mit demselben literarischen Genuss gelesen wie Franco Morettis Suche, Aufdeckung und Konstruktion des "Bourgeois". Und zwar gar nicht einmal nur wegen dessen farbig-komplexer Imagination; sondern mehr noch, weil es ihm ebenso souverän wie originell gelingt, seine ungemein kenntnisreiche wie durch assoziativen Witz verdichtet Recherche nach dieser "Schlüsselfigur der Moderne" als ein essayistisches Abenteuer zu gestalten. Selbst im Getrippel seiner vielen Fußnoten läuft so mancher origineller Gedanke mit.
    Der Anglist Franco Moretti, im kalifornischen Stanford als Komparatist lehrend, ist der ältere Bruder Nanni Morettis, des weltweit viel bekannteren italienischen Autorenfilmers. Aber wie dieser in der gegenwärtigen Kinematografie ein Solitär ist, so fungiert der marxistisch operierende Literaturwissenschaftler Franco Moretti als eine internationale Ausnahmeerscheinung unter den Geisteswissenschaftlern. Er hat als erster weltweit statistische Untersuchungsmethoden der Soziologie zur Recherche bei seiner literaturwissenschaftlichen und literaturhistorischen Arbeiten verwandt. Auch in seinem "Bourgeois" greift er nun auf Datenbanken zurück. Aus ihrem Bestand digital erfasster viktorianischer Romane des 19. Jahrhunderts ermittelt er den Gebrauch oder Bedeutungswandel einzelner Begriffe oder sogar von Adjektiven oder grammatischen Formen. Die Ergebnisse verhelfen ihm, neben seinen klassisch geführten philologischen Analysen einzelner Texte, zu schlüssigen Einsichten in die Figur und das Selbstverständnis des "Bourgeois". Dessen Erscheinung sucht der Literaturwissenschaftler aber auch in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts auf. Oder, später, als die britische Bourgeoisie Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt ihrer Macht war und ihren bestimmenden Einfluss im "einzigen industrialisierten Land der Welt" unter pseudogotischer Architektur verbarg, unternimmt Moretti einen zweiten Ausflug in die Bildende Kunst. Er vergleicht analytisch die selbstbewusste Nacktheit von Manets "Olympia" mit John Everett Millais süßlich-verschämten Bildnis einer gefesselten Nackten, die ein Ritter in vollständiger Rüstung vor einer Vergewaltigung gerettet haben soll.
    Das französische Wort "Bourgeois", das man ins Englische übernahm, um der neuen Klasse einen Namen zu geben, die in den Handel treibenden Städten zwischen Adel und Bauern ab dem 18. Jahrhundert entstand, ist eindeutiger als das schillernde deutsche Wort des "Bürgers". Der "Bourgeois" ist die dem Materiellen, Wirtschaftlichen zugewandte Kehrseite der gesellschaftlichen Figur, die im Französischen politisch-ethisch als "Citoyen" auftritt. Der Bourgeois ist die typologische Inkarnation des von ihm entwickelten Kapitalismus. Sein "Altes Testament" hat Daniel Defoe im "Robinson Crusoe" von 1719 verfasst; und seine apokalyptische "Offenbarung Johannis´" liegt in den großen Gesellschaftsdramen des Norwegers Henrik Ibsen aus dem Ende des 19. Jahrhundert vor.
    Obwohl die Bourgeoisie als Klasse für Moretti weiterhin, wenn auch verdeckt und "verschleiert", in den westlichen Gesellschaften an der Macht ist, richtet er den Fokus seines Interesses auf deren heroischen Aufstieg und ihren dramatischen Abstieg in die Grauzone der Gegenwart. In ihr fällt (laut Moretti), "der Sieg des Kapitalismus, in dem die Konsumgüter zu dessen Legitimationsgrundlage wurden, mit dem Tod der bourgeoisen Kultur" zusammen, die ihr ideologisches Ethos der "protestantischen" Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegeben hatte.
    Vom schiffbrüchigen Abenteurer zum Ernst des Lebens
    Groß fing der Bourgeois als schiffbrüchiger Abenteurer literarisch an. Bis in den Satzbau hinein schlägt die produktive Zweckrationalität durch, mit welcher der gestrandete Crusoe die Robinsonade seiner Arbeits- und Lebenswelt vor unseren Leseraugen entstehen lässt. "Die Kultivierung der Arbeit", schreibt Moretti, "ist vermutlich die größte formale Leistung der bürgerlichen Klasse gewesen". Hier haben auch im "Ernst des Lebens" die gutbürgerlichen Maximen: Nützlichkeit, Arbeitsteilung, Effizienz ihren Ausgangsort. Ehe man sich versieht, landet man auf Morettis essayistischer Achterbahnfahrt zum Beispiel bei Goethes "Wilhelm Meister" oder Joseph Conrads "Herz der Finsternis".
    Aber das sind nur kleine Abschweifungen von einem Mainstream, der vornehmlich den viktorianischen Roman als "gleichsam versteinerte Überbleibsel einer einst lebendigen und problembeladenen Gegenwart" aus allen erdenklichen Perspektiven und mit allen möglichen Mitteln unter die Lupe nimmt. Hegel, Marx, Weber, Schumpeter, Lukacs, Auerbach, Spitzer, Barthes, Koselleck und Kocka : Franco Moretti, der wohl auch mehrere Sprachen zumindest lesen kann, operiert zitathaft mit den bekannten und auch bislang unbekannten analytisch fein geschliffenen Werkzeugen dieser Herrschaften (und noch einiger anderer) höchst präzise, um die ideale Physiognomie des "Bourgeois" freizulegen.
    Adorno hätte sein sympathetisches Vergnügen an Morettis Methode gefunden, "ausschließlich durch das Medium der literarischen Form" seinen historisch variablen Gegenstand aufzuspüren; aber auch, nach Ibsens Dramen, das heutige Verschwinden des "Bourgeois" im Diffusen der globalisierten Welt zu konstatieren. "Darin, dass er die Impotenz des bürgerlichen Realismus sichtbar macht, liegt Ibsens bleibende Lektion für die Gegenwart". So endet Franco Morettis weit ausgreifende brillante Studie "Der Bourgeois". Diesem letzten Satz müsste noch ein: "Fortsetzung folgt" hinzugefügt sein – damit man als Leser vollends glücklich wäre.
    Franco Moretti:
    Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne.
    Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 275 Seiten, Abb., 24.95 Euro