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Der Chronist der Winde

Der zehnjährige Straßenjunge Nelio stirbt. Stirbt auf dem Dach einer Bäckerei im brütendheißen Sommer. Er ist angeschossen worden. Er will nicht, dass der Bäcker, der ihn gefunden hat, ihn ins Krankenhaus bringt. Er will ihm seine Geschichte erzählen, die Geschichte eines Kindes, dessen Dorf überfallen und niedergebrannt, dessen kleine Schwester grausam ermordet wurde von den Rebellen, die ihm und den anderen Menschen in seinem Dorf die Freiheit bringen wollten. Dazu verschleppten sie ihn in die Berge und wollten ihn zwingen, einen Freund zu erschießen. Doch Nelio riss die Waffe herum, erschoss den Kommandanten und floh, floh in die große Stadt, wo er fortan als Straßenkind lebt. Der schwedische Autor Henning Mankell, in Deutschland bekannt geworden durch seine gesellschaftskritischen Kriminalromane, lebt die Hälfte des Jahres in Mosambik, wo er ein Theater leitet. Und hier lässt er auch seinen Roman "Der Chronist der Winde" spielen. Dieser Chronist ist Jose Antonio Maria Vaz, der seine Tätigkeit als Bäcker aufgegeben hat, um die Geschichte Nelios zu erzählen.

Simone Hamm |
    Nelio erinnert an Saint Exuperys kleinen Prinzen, ist weise, demütig. Er weiß, dass er sterben wird. Er hat keine Angst davor. Die Erwachsenen können ihm nichts vormachen. Schon gar nicht die Weißen, die Entwicklungshelfer:

    "Sie fuhren große Autos, waren Im allgemeinen sehr freundlich zu den Straßenkindern und gaben ihnen zuviel Geld für die Bewachung ihrer Autos. Sie hatten es gern, wenn sie von der Sonne rot im Gesicht wurden, und bemühten sich immer zu zeigen, dass sie keine Angst vor all den schwarzen Menschen hatten, die sie dauernd um Geld anbettelten, obwohl Nelio natürlich durchschaut hatte, dass sie in Wirklichkeit Angst hatten." Mankells Sprache ist einfach, erzählt doch ein einfacher Mann die Geschichte eines Kindes nach, eines Kindes, das keine Zukunft hatte und keine Hoffnung und das dennoch ein Überlebenskünstler war. Er erzählt nicht ohne Humor, ohne Ironie, ohne Bissigkeit. Von seinem Leben als Bäcker bei der theaterbessesenen Dona Esmeralda aus alter Kolonialfamilie, Tochter des Gouverneurs. Trotz ihrer achtzig Jahre hatte sie schnell begriffen dass die Revolutionäre im Unabhängigkeitskrieg siegen würden und auf der richtigen Seite gestanden:

    "In dem Chaos, das in der berauschten Zelt nach der Befreiung herrschte, wurde sie von dem neuen Präsidenten gefragt, welche Rolle sie in der soeben beginnenden revolutionären Umwälzung der alten Gesellschaft spielen wolle,. - Ich will ein Theater gründen, hatte sie ohne zu zögern geantwortet."

    Keiner der Schauspieler verstand, wovon ihre Stücke eigentlich handelten, aber sie waren alle besessen von der Bühne. Der Chronist der Winde hatte oft bei den Proben gelauscht, Nelios Gefährten hatten heimlich auf der Bühne gestanden und sich einen Traum erfüllt. Für sie alle ist das Theater ein magischer Ort, ein Ort des Träumens, aber auch des Todes. Denn im Theater wurde auf Nelio geschossen. Die Welt in Schweden ist kaum besser als die in Afrika. Alle Tabus sind gebrochen, alle Ideale verloren. Zynismus ist angesagt, Habgier und blanker Machtwille bestimmen die westlichen Luxusgesellschaften.

    Kommissar Wallander ist zutiefst verstört. Die Verbrechen, die er aufzuklären hat/ erscheinen grausam und sinnlos. Oder, wie Henning Mankell es ausdrückt:

    "Früher konnte man selbst das verstehen, was unbegreiflich erschien. Aber heute nicht mehr. Nicht einmal das ist mehr möglich in unserem Land."

    Kurt Wallander will den Polizeidienst quittieren. Er hat einen Menschen erschossen, in Notwehr. Aber das Gefühl, eine große Schuld auf sich geladen zu haben, läßt ihn nicht mehr los. Seit über einem Jahr ist er krank geschrieben. Da taucht ein alter Bekannter bei ihm auf, ein Anwalt, dessen Vater bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben gekommen ist. Der Sohn glaubt nicht an Selbstmord. Wallander schickt ihn fort. Wenige Tage später wird der Anwalt ermordet. Und wieder fühlt Wallander sich schuldig. Er will die Morde an den beiden Anwälten aufklären und kehrt zur Polizei zurück. Der alte Anwalt hat nur einen einzigen Klienten gehabt: Alfred Hardenberg, schwerreich, Industrieller, Kunstmäzen, Inhaber vieler Orden und Ehrendoktortitel, stets sonnengebräunt, stets lächelnd. Dem Polizeipräsidenten passt es ganz und gar nicht, dass Wallander diesen Mann sehr bald ins Fadenkreuz seiner Ermittlungen stellt: als Drahtzieher der Morde.

    Auf Wallander wird ein Anschlag verübt. Br ist verunsichert. Was hat Alfred Hardenberg zu verbergen? Ist er nicht doch eine Nummer zu groß für einen kleinen schwedischen Polizisten?

    "Plötzlich bekam Wallander Angst. Er warf einen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob sich jemand auf dem Rücksitz versteckte. Aber er war allein. Der Wind rüttelte am Wagen, drang kalt durch die Fensterritzen. Er dachte an Alfred Hardenberg, den Mann, der lächelte. Natürlich weiß er, was geschehen Ist. Ich muss sein Lächeln besiegen."

    Ein ungleicher Kampf beginnt. Hardenberg hat Steuern in Millionen und Abermillionenhöhe hinterzogen, hat die Exportaufsichtsbehörde getäuscht, etliche Urkunden gefälscht. So ist er reich und mächtig geworden. Aber der Anwalt hatte kurz vor seinem Tod noch mehr herausgefunden. Und auch Wallander kommt diesem Verbrechen auf die Spur, das so ungeheuerlich ist, dass er bisweilen an seinem eigenen Verstand verzweifelt. Im Auto des Anwalts ist ein Plastikbehälter gefunden worden, ein Spezialbehälter, ein Behälter in dem Organe transportiert werden, die zur Transplantation bestimmt sind. Offenbar arbeitet Hardenberg mit Organisationen in Südamerika und Asien zusammen, bei denen man menschliche Organe bestellen kann - und nicht nur die Organe, die sich bitterarme Menschen herausnehmen haben lassen für ein bißchen Geld.

    "Es wird gemordet, um das Gewünschte zu beschaffen. Eine Niere hat kein Gesicht, keine Identität. Man tötet ein Kind In Südamerika und verlängert jemandem in einem westlichen Land das Leben, jemandem, der bezahlen kann und nicht warten will, bis er mit einer Transplantation dran ist."

    Hier ist die Verbindung zwischen den reichen und armen Ländern. Erst werden die Böden in den Ländern der sogenannten dritten Welt ausgebeutet, dann die Menschen, zuletzt deren Körper.Vielleicht überspannt Henning Mankell den Bogen. Zu unglaubwürdig erscheint die Geschichte von der Organmafia mit ihrem schwedischen Kopf. Die Romane Mankells sind jedoch immer dann gut, wenn sie schwedische Verhältnisse beschreiben, und auch die Schattenseiten des Wohlstandsstaates. Kurt Wallander sieht sich als Vertreter einer ganzen Generation, einer Generation, die einmal aufgebrochen war, das Land und seine sozialen Verhältnisse zu verändern, eine Welt zu schaffen, in der alle in Frieden und Wohlstand miteinander leben konnten. Wie die anderen 68-ger sieht er sich getäuscht. Das wahre Schweden sieht anders aus - ebenso wie die anderen westeuropäischen Länder. Die klugen Gesellschaftsanalysen des bisweilen bitter ironischen Kommissar Wallander machen Mankells großen Erfolg aus - auch in Deutschland.

    Mit "Der Chronist der Winde" hat er ein ganz anderes Buch vorgelegt, ein Buch voll von Träumen und bunten Erzählungen, aber auch voller entsetzlicher Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten. Ein kleines, anrührendes Buch, einfach geschrieben. Bin Buch, dem zu wünschen ist, das es seinen Platz behaupten kann neben den spannenden Wallander Romanen.