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"Der deutsche Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie ein Schwamm"

Seit dem 1. Mai hat Deutschland den Arbeitsmarkt für Osteuropa geöffnet. Ursula von der Leyen (CDU) sieht in der Freizügigkeit deutlich mehr Chancen als Risiken. Allerdings, so die Bundesarbeitsministeriun, müsse man das Thema Niedriglohnsektor ganz klar im Auge halten.

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Silvia Engels | 02.05.2011
    Silvia Engels: Am Telefon hat mitgehört die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Unsere erste Frage heute muss sich aufgrund der aktuellen Entwicklung an Sie als Mitglied der Bundesregierung wenden. Guten Morgen, Frau von der Leyen.

    Ursula von der Leyen: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Und die Frage lautet: Wie nehmen Sie die Meldung über den Tod Osama bin Ladens auf?

    von der Leyen: Nun, ich bin sicher keine Expertin in der Terrorbekämpfung, aber ich erinnere mich noch ganz lebhaft vor zehn Jahren, 9.11, der Anschlag auf die Twin Towers, und da ich einige Jahre mit meiner Familie in den USA gelebt habe, weiß ich genau, wie tief die Verletzung damals dieser Anschläge ging, bis heute nachgewirkt hat, und deshalb ist das jetzt eben auch heute nicht nur Balsam auf diese Wunde, sondern es gibt vor allen Dingen vielen Nationen Auftrieb, die ganz geschlossen in diesen zehn Jahren im Kampf gegen den Terror zusammengestanden haben. Das ist, glaube ich, entscheidend.

    Engels: So weit als erste Reaktion zu diesem Thema. – Nun kommen wir auf das Thema zu sprechen, zu dem wir eigentlich verabredet sind, denn seit gestern können Arbeitnehmer, die aus den baltischen Staaten, aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei oder Slowenien nach Deutschland kommen, ohne Beschränkung eine Arbeit ihrer Wahl aufnehmen. Gewerkschaften warnen vor einer Lohnspirale nach unten, Wirtschaft und Regierung hoffen dagegen auf Hochqualifizierte, die helfen, den Fachkräftemangel auszugleichen. So ist die Lage. Gestern haben wir von den Gewerkschaften noch einmal gehört, dass die Sorge vor der Zuwanderung in den Niedriglohnbereich besteht. Können Sie diese Sorge verstehen?

    von der Leyen: Zunächst einmal muss man sagen, es war richtig, sieben Jahre Übergangsfrist zu haben für den deutschen Arbeitsmarkt. Wir sehen heute auch aus den Erfahrungen der anderen europäischen Länder, die früher ihre Grenzen aufgemacht haben, dass es deutlich mehr Chancen als Risiken geben wird für Deutschland. Wir erwarten keinen großen Ansturm, sondern eher wenige, die kommen werden, aber es sind die jungen, es sind die qualifizierten, es sind die mobilen, die kommen, und die werden in der Tat hier auf dem Arbeitsmarkt doch deutlich gesucht. Mir sagen zum Beispiel auch Handwerksbetriebe in den grenznahen Regionen, dass sie damit rechnen, dass sie jetzt leer stehende Ausbildungsstellen auch durchaus besetzen können mit jungen Menschen. Also hier sind deutlich mehr Chancen, die wir mit der Freizügigkeit bekommen werden, als dass wir Risiken haben. Sicherlich muss man das Thema Niedriglohnsektor ganz klar im Auge halten, aber das ist nicht nur eine Frage der Freizügigkeit, sondern das ist eher eine Frage der Regeln, die unsere soziale Marktwirtschaft hat, die von allen eingehalten werden müssen. Es hat sich gelohnt, dass wir Mindestlöhne eingeführt haben, zum Beispiel in der Pflegebranche. Wir haben jetzt pünktlich zur Freizügigkeit in der Zeitarbeit den Mindestlohn im Gesetz stehen. Die müssen eingehalten werden. Aber im Großen und Ganzen werden eher die jungen und die qualifizierten hierher nach Deutschland kommen.

    Engels: Sie sprechen es an: in einzelnen Branchen gibt es einen Mindestlohn. Warum macht man das dann nicht flächendeckend? So lautet ja die Forderung der Gewerkschaften und das würde bestimmt vielen Menschen auch die Sorge vor der Konkurrenz aus Mittel- und Osteuropa nehmen.

    von der Leyen: Nun, ein Mindestlohn an sich ist weder eine Katastrophe für den Arbeitsmarkt, noch ist er ein Allheilmittel für schlechte Löhne, sondern ein Mindestlohn muss in der richtigen Höhe sein, damit er nicht Arbeitsplätze zerstört, also Menschen nicht mehr eingestellt werden, und deshalb eigentlich die Arbeitslosigkeit steigern würde, und er darf aber auch nicht zu niedrig sein, sonst wirkt er nicht. Deshalb sind wir hier in Deutschland doch sehr gut gefahren mit den Branchenmindestlöhnen. Das heißt, es sind die Experten in der eigenen Sache, in der Branche selber, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, die sich in den jeweiligen Branchen zusammensetzen und Mindestlöhne aushandeln, und wenn ihnen das gelungen ist, gemeinsam den richtigen Punkt zu finden, dann erstreckt die Politik den Mindestlohn. Das haben wir wie gesagt sehr erfolgreich lange schon im Bau, in der Abfallwirtschaft, beim Dachdeckerhandwerk, Gebäudereinigung, aber eben auch neu jetzt zum Beispiel in der Pflege. Das war ein längerer Prozess, der notwendig war, um den richtigen Mindestlohn zu finden. Und diese sehr deutsche Art und Weise, an den Mindestlohn heranzugehen, ist meines Erachtens eben auch ein typisches Signum der sozialen Marktwirtschaft, mit der wir so erfolgreich auch international dastehen, nämlich dass die Tarifparteien selber, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber die maßgeblichen Verhandler am Arbeitsmarkt sind, was Löhne angeht, und dann aber die sozialen Regeln, der Rahmen durch die Politik, in diesem Fall eben ein Branchenmindestlohn, erstreckt wird.

    Engels: So viel zum Stichwort Mindestlohn. – Dann schauen wir noch mal auf die Kräfte, die möglicherweise aus Mittel- und Osteuropa kommen. Sie sind optimistisch, sagen, da kommen die gut ausgebildeten Fachkräfte. Andere Experten sagen, nein, die sind schon lange in Großbritannien oder Irland, wer hier jetzt kommt, sind möglicherweise die einfacher, oder gar nicht ausgebildeten Kräfte. Was macht Sie so sicher?

    von der Leyen: Zunächst einmal haben wir in den letzten sieben Jahren beobachten können, dass das Bildungsniveau, aber eben auch das Lohnniveau in den neuen EU-Beitrittsländern deutlich gestiegen ist. Der große europäische Gedanke, er hat gegriffen. Es ist nicht in den "alten" EU-Ländern das Wohlstandsniveau gesunken, sondern im Gegenteil: Die EU-Erweiterung hat Wohlstand und Bildung in die neuen EU-Länder gebracht.
    Zweitens sehen wir, dass Akademiker ja schon immer kommen konnten in den letzten Jahren. Wir hatten dafür die Schranken früher beseitigt. Und wenn ich es mal etwas einfacher ausdrücken darf: Die, die schwarzarbeiten wollten, sind schon hier, und hier muss konsequent bekämpft werden, Schwarzarbeit kontrolliert werden. Wir sind deshalb gut aufgestellt auch mit den Kontrollen. Jetzt kommen diejenigen, die ich vielleicht den fleißigen Mittelbau nennen kann, also tatsächlich die Fachkräfte, die Ausbildungsberufe, und die werden inzwischen deutlich gesucht. Wir sehen eben auch, dass in den Wanderungsströmen es genau diejenigen waren, die nach Großbritannien, oder eben auch nach Irland gegangen sind, und dadurch, dass diese Länder, Großbritannien und Irland, jetzt eher Probleme am Arbeitsmarkt haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser fleißige Mittelbau, die eben auf die Facharbeitsplätze gehen, die zum Teil in Deutschland leerstehen, und damit selber Wohlstand generieren, wieder Steuern zahlen, Sozialversicherung zahlen und selber Arbeitsplätze sichern, nämlich die der nachgelagerten Arbeitsplätze hinter einem Facharbeitsplatz. Dass die jetzt kommen werden, das ist eigentlich Meinung aller Experten.

    Engels: Nun ist es so, dass möglicherweise Zuwanderer auch im Laufe der Zeit ihren Job verlieren. In den ersten fünf Jahren haben sie dann keinen Anspruch auf Sozialhilfe hier. Aber der Präsident des ifo-Instituts Sinn warnt trotzdem davor, dass der deutsche Sozialstaat letztlich wie ein Wanderungsmagnet wirken könne. Können Sie das ausschließen?

    von der Leyen: Das Entscheidende ist ja der Arbeitsmarkt, und wir sehen im Augenblick, ...

    Engels: Im Augenblick!

    von der Leyen: ..., dass der deutsche Arbeitsmarkt dadurch, dass wir die Reformen der letzten Jahre erfolgreich durchgeführt haben, international – ich bin im Augenblick hier in Paris bei der OECD – und gerade auch innerhalb der OECD-Länder brillant dasteht, wirklich bewundert. Das heißt, wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Man darf nicht vergessen: Vor sieben Jahren, als die Freizügigkeit begann, da hatten wir fast fünf Millionen Arbeitslose, enorme Probleme am Arbeitsmarkt, und jetzt zahlt sich aus, dass konsequent der Arbeitsmarkt reformiert worden ist. Wir sind knapp unter drei Millionen bald mit den Arbeitslosenzahlen. Also: Der deutsche Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie ein Schwamm. Wir brauchen dringend Fachkräfte, das wird das Thema der nächsten Jahre sein, denn die Fachkräfte sichern dann eben auch für die Geringqualifizierten die Arbeitsplätze. Insofern sehe ich deutlich mehr Chancen durch die Freizügigkeit, dass Facharbeitsstellen eben auch besetzt werden. Wir müssen natürlich das inländische Potenzial qualifizieren beziehungsweise mobilisieren, das ist ganz stark bei uns, das Thema Frauen, die mehr arbeiten wollen, die in den Arbeitsmarkt hineindrängen und die in der Spitze weiter mitarbeiten wollen, und das Thema ältere Arbeitnehmer, die eigentlich die Gewinner der letzten Jahre am Arbeitsmarkt gewesen sind. Aber wir werden eben zusätzlich profitieren von dem Gedanken des gemeinsamen europäischen Arbeitsmarktes, und diese Chance sollten wir noch ergreifen.

    Engels: Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), und dieses Thema der Zuwanderung und der Freizügigkeit ist auch Thema in "Kontrovers" ab 10:10 Uhr. Diskutieren Sie schon einmal mit, ab acht Uhr sind unsere Anrufbeantworter geschaltet. – Danke an Sie, Frau von der Leyen. Ihnen noch einen angenehmen Tag.

    von der Leyen: Danke Ihnen!


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