Engels: Im Kern der Arbeit des Konvents steht die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europaebene und der nationalen Ebene, und das ist ja auch eine von Ihnen vertretene Forderung. Erwarten Sie, dass der Konvent die EU hier deutlich voranbringen kann?
Schäuble: Ich hoffe das. Es ist schon ein gutes Zeichen, dass der Gipfel von Laeken diesen Auftrag und diesen Punkt in den Kern der Aufgabenstellung für den Konvent gerückt hat, denn er ist in der Tat das größte Problem. Wenn wir ein stärkeres Europa wollen - und das brauchen wir dringend -, dann müssen wir auf der anderen Seite klarer abgrenzen, was den Mitgliedstaaten, den Nationalstaaten in der Zukunft verbleibt. In dem Maße, in dem wir das genauer abgrenzen, können wir auch die europäischen Institutionen stärken.
Engels: Welche Bereiche sollten Ihrer Ansicht nach bei den Nationalstaaten verbleiben? Welche sollten nach Europa gegeben werden?
Schäuble: Ich finde, wir müssen in Europa alles machen, was mit dem gemeinsamen Markt, mit einer funktionierenden Wettbewerbsordnung, mit einer stabilen Währung zu tun hat. Das ist auch unbestritten in der Bevölkerung, und da gibt es schon den großen Erfolg in der europäischen Entwicklung über Jahrzehnte, das wollen die Menschen auch weiterhin so haben. Ich glaube, wir brauchen - und das wissen wir seit dem 11. September genauer und besser - auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik ein stärkeres, ein handlungsfähigeres Europa. Aber wir sollten auf der anderen Seite das, was der ganz unterschiedlichen kulturellen und zivilisatorischen Tradition der einzelnen Nationalstaaten entspricht, in der Zuständigkeit der Nationalstaaten belassen oder es gegebenenfalls wieder zurückführen. Alles, was mit der sogenannten Zivilgesellschaft zu tun hat, alles, was zu tun hat mit den Familienstrukturen, mit sozialer Sicherheit, mit dem inneren Aufbau der Staaten, aber beispielsweise auch solche Bereiche wie Ehrenamtlichkeit, Gemeinnützigkeit, Kultur, Bildung, Sport und dergleichen, das ist in den einzelnen Nationen ganz unterschiedlich gewachsen, und das sollte in der Zuständigkeit der Nationalstaaten bleiben.
Engels: Auch solche Fragen, wie die innere Sicherheit?
Schäuble: In der inneren Sicherheit wird es eine vorrangige Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten auch in Zukunft geben. Bedenken Sie doch, dass in Deutschland innere Sicherheit, Polizei in erster Linie Ländersache ist, und damit sind wir auch nicht schlecht gefahren. Aber natürlich müssen die Polizeibehörden auch über die Grenzen hinweg besser zusammenarbeiten. Die Herausforderungen durch das professionelle Verbrechen - Drogenhandel, Geldwäsche und jetzt auch Terrorismus - kann man jetzt nicht mehr national bekämpfen. Da müssen die Sicherheitsorgane der einzelnen Länder stärker und institutionell gesichert zusammenarbeiten.
Engels: Sie haben die Außen- und Sicherheitspolitik angesprochen als mögliches Feld, das von Europa stärker gelöst oder bewältigt werden sollte. Nun hat ja gerade der Gipfel gezeigt, dass man nicht einig ist, wie soll beispielsweise eine EU-Beteiligung an einer UN-Friedensmission in Afghanistan aussehen. Zeigt das nicht, dass man hier gar nicht bereit ist, aufeinander zuzugehen?
Schäuble: Es zeigt jedenfalls, wie viel noch zu tun bleibt in Europa, denn wir haben seit dem 11. September erlebt, dass die Stimme Europas im Grunde ausgefallen ist. Wir hatten die Stimmen der einzelnen Nationalstaaten - Großbritannien, Frankreich Deutschland - aber wir könnten eine bessere, eine verantwortlichere, eine effizientere Rolle spielen, wenn es Europa gemeinsam wäre. Das muss geleistet werden, und davon sind wir noch ein ganzes Stück weit entfernt.
Engels: Das Neue - kommen wir noch einmal auf die Struktur des Konvents zu sprechen - dieses Konvents ist, dass in diesem Fall die Parlamentarier die Mehrheit im Gremium haben, wenn man die EU-Parlamentarier und die nationalen Abgeordneten zusammenrechnet. Wird das denn mehr Bewegung in dieses Gremium bringen?
Schäuble: Das hoffe ich schon. Aber man muss sich im Klaren sein, dieser Konvent wird ja nicht einfach mit Mehrheiten abstimmen. Nur, wenn er einen geschlossenen Willen entwickeln kann, kann er den Druck ausüben, der notwendig sein wird, um die Regierungen der 15 Mitgliedsstaaten dazu zu bringen, die Vorschläge des Konvents anzunehmen. Das ist ja der zweite Schritt, und der wird nur gelingen, wenn es der Konvent schafft, einen starken öffentlichen Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben. Das geht nicht mit Mehrheit, sondern das geht durch die Kraft der Konzeption und der Argumente, die hoffentlich in diesem Konvent entwickelt werden.
Engels: Bislang hat ja die Vergangenheit gezeigt, dass die Staats- und Regierungschefs, wenn es darauf ankam, nicht sonderlich gewillt waren, an die Parlamentarier viele Kompetenzen abzugeben. Warum sollte das denn diesmal anders sein? Nur über öffentlichen Druck?
Schäuble: Ich glaube, wir haben alle inzwischen verstanden - auch die Staats- und Regierungschefs -, dass Europa so nicht weitermachen kann, dass dieser Weg der europäischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten an einem Punkt angelangt ist, wo das, was jetzt zusätzlich geleistet werden muss, mehr Effizienz, mehr demokratische Legitimation, nicht mehr durch den bisherigen Prozess, wo sich die Regierung irgendwie mühsam verständigen, geleistet werden kann. Und wenn wir demnächst mehr Mitgliedstaaten haben, nach dem Beitrag unserer Nachbarn im Osten, dann wird es noch hoffnungsloser. Deswegen brauchen wir europäische Institutionen, die handlungsfähig sind, aber deren Entscheidungen auch transparent sind und die für ihre Entscheidungen demokratisch legitimiert sind. Deswegen muss das Europäische Parlament eine viel stärkere Rolle spielen, die Kommission muss vom demokratischen Vertrauen getragen sein, d.h. sie muss gewählt sein, am besten durch das Europäische Parlament, und die Regierung müssen sich bei der europäischen Gesetzgebung auf die Rolle einer zweiten Kammer beschränken.
Engels: Kritik - zumindest leise Kritik - gab es ja auch an der Wahl Giscard d'Estaings zum Vorsitzenden des Konvents. Mancher traut dem 75jährigen offenbar nicht zu, noch genug Durchsetzungskraft zu haben. Wie sehen Sie das?
Schäuble: Ich meine, Giscard d'Estaing hat in den zurückliegenden Jahrzehnten die europäische Entwicklung in wichtigen Phasen erheblich vorangebracht, das sollte man nicht ganz vergessen. Deswegen denke ich, man sollte ihm eine Chance geben, er hat auch zwei Stellvertreter. Im Übrigen hängt es auch vom Konvent als Ganzes ab. Deswegen finde ich, wenn sich der Rat darauf geeinigt hat, dann sollte man ihn unterstützen. Je mehr Unterstützung er hat, umso mehr wird der Konvent unter seiner Präsidentschaft erreichen können.
Engels: Kommen wir noch auf ein zweites Thema zu sprechen. Heute ist ja der Tag, wo der Euro endlich für die Deutschen greifbar wird. Das Interesse an der Münzauswahl, die ab heute bei den Banken erhältlich ist, scheint groß zu sein. Überwinden die Deutschen nun endlich ihre Euro-Skepsis?
Schäuble: Ich bin zuversichtlich. Das Interesse zeigt ja, dass die Deutschen begriffen haben, der Euro wird Wirklichkeit. Und hinter diesem Interesse verbirgt sich ja doch auch ein Stück Vorfreude. Und ich glaube, wir werden alle erleben, dass der Euro in unserem Interesse sein wird, dass wir mit einer gemeinsamen Währung bessere wirtschaftliche Chancen in der Zukunft haben werden. Im Übrigen, man muss daran erinnern, der Euro, der ja finanztechnisch schon seit drei Jahren besteht, hat seine Bewährungsprobe bereits bestanden. Wir hatten in den letzten Jahren Ölpreisexplosionen, die wir mit viel weniger Problemen überstanden haben, als es in den 70er Jahren der Fall war, in denen es eine gemeinsame Währung nicht gegeben hat. 60 Prozent unserer Exporte gehen in andere Länder, die auch den Euro haben werden, d.h. Wechselkursveränderungen werden unseren Außenhandel viel weniger beeinflussen als in der Vergangenheit.
Engels: Holen Sie sich heute auch die neue Münzauswahl? Sind Sie neugierig auf das Geld?
Schäuble: Ich bin heute ziemlich beschäftigt. Ob ich es heute oder übermorgen habe, das ist nicht so wichtig. Ich bin ja für den Euro. Jetzt sollen vor allem diejenigen, die noch ein wenig skeptisch waren, ihn zuerst in den Händen halten, damit wir möglichst viele haben, die sich auf den Euro freuen.
Engels: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schäuble.
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