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Der EU-Gipfel in Sevilla soll Maßnahmen gegen Migrantenansturm treffen

19.06.2002
    Remme: Übermorgen beginnt der EU-Gipfel in Sevilla, und selten haben sich die Erwartungen im Vorfeld eines solchen Treffens so auf ein Thema konzentriert wie diesmal. Asyl und Immigration, diese Problemfelder stehen im Mittelpunkt. Konkrete Maßnahmen sollen verabschiedet werden, um dem Ansturm aus Drittländern Herr zu werden. Auch die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in einer Reihe von Mitgliedstaaten haben den Handlungsbedarf verdeutlicht. Die Ängste vieler Menschen in den EU-Ländern müssen ernster genommen werden. Am Telefon ist nun der Migrationforscher Klaus Bade, von der Uni Osnabrück. Herr Bade, seit Jahren reden wir von der "Festung Europa". Beobachten wir im Moment, wie die Zugbrücken hochgezogen werden?

    Bade: Das ist ein relativ langer Prozess, der über die Jahre hinweg zugenommen hat und jetzt zwei Seiten hat. Einmal ist es die Entgrenzung Europas nach Innen, das Aufheben der Binnengrenzen, und im gleichen Zuge ist umso mehr die Abgrenzung nach Außen deutlich geworden. Das bedeutet aber nicht, dass es eine Festung gibt, in die niemand mehr reinkommt. Erwünschte Zuwanderer können herein. Nur unerwünschte Zuwanderer haben es immer schwieriger, und am unerwünschtesten sind die Illegalen.

    Remme: Aber dieses Bild von der Festung hat einen negativen Touch.

    Bade: Das Bild von der Festung hat einen unbedingt negativen Touch. Man sollte bloß einen Gesichtspunkt dabei nicht vergessen: Es ist immer der Zweck einer Festung, nur diejenigen reinzulassen, die man haben will, und diejenigen draußen zu halten, die man nicht haben will. Das ist die Doppelbödigkeit des Bildes immer.

    Remme: Und ist dieses Problem der illegalen Einwanderung in den Griff zu bekommen?

    Bade: Das ist sehr schwierig. Viele Menschen denken sich in Deutschland, das sei so mit der Regelung der Migration wie mit dem Straßenverkehr; bei Rot sagt man: Schluss jetzt, die Illegalen bleiben draußen. Bei Gelb heißt es: Achtung an alle, die in der ganzen Welt auf den Koffern sitzen, um nach Deutschland oder Europa zu kommen. Bei Grün gibt es fünf Abstufungen, wo genau die Migranten kommen, die man haben will. Das ist nicht so einfach. Es gibt bei Migranten, auch bei Flüchtlingen, die verschiedensten durch den Einzelnen hindurchlaufenden Scheiben der Motivation sozusagen. Wir sprechen von multiplen Migrantenidentitäten. Es gibt nicht den heroischen Flüchtling, der aus nichts anderem besteht, als verfolgt zu sein und Rettung zu suchen. Und es gibt auch nicht den reinen Wirtschaftswanderer. Es gibt häufig Übergangsformen dazwischen, aber wir müssen Möglichkeiten finden, im Rahmen des Möglichen den Flüchtling, den Asylsuchenden, der um sein Leben läuft, unterscheidbar zu machen von dem illegalen Arbeitswanderer. Das ist das eigentliche Problem.

    Remme: Und geht die Europäische Union in diesem Fall einen vernünftigen Weg, oder wird da übertrieben?

    Bade: Die Sache ist meines Erachtens so zu sehen: Einerseits sind viele Abwehrmechanismen inzwischen schon so gut aufeinander abgestimmt, zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Grenzpolizei und Nachrichtendiensten in ganz Europa. Aber es gibt noch kein europäisches Migrationsrecht. Es gibt noch kein europäisches Asylrecht. Vieles an Bestimmungen greift dann in der Umsetzung noch nicht, zum Beispiel als die "Monika" unlängst aufgebracht wurde, mit fast 1.000 Flüchtlingen im Mittelmeer, als sie nach Italien dann geschleppt wurde, dann wusste man überall schon vorher, dass dieses Schiff kommen würde. Es wurde gesagt: Italiener, nehmt ihnen die Fingerabdrücke ab. Wir wollen sehen, wo sie eigentlich bleiben. Die Fingerabdrücke sind aber nie angekommen. Man ging davon aus, dass ein beträchtlicher Teil nach Deutschland kommen würde, und in der Tat sind sie inzwischen da, das heißt das Sickern ist nach wie vor offen, obwohl es diese Zusammenarbeit gibt, und das liegt an Mängeln in der internationalen Abstimmung, und die sollte man im Bereich von Immigrationsrecht und Asylrecht auf europäischer Ebene so schnell wie möglich beseitigen.

    Remme: Was erwarten Sie von diesem Gipfeltreffen, das Freitag beginnt?

    Bade: Vor allen Dingen defensive Maßnahmen. Ich erwarte also Sachen zur Bekämpfung der Schleuser, der Menschenschmuggler auf See. Ich erwarte auch Überlegungen für Bestimmungen zum gemeinsamen europäischen Grenzschutz und Beratungen über Sanktionen gegenüber Ländern, die zum Beispiel Menschen, die aus Europa abgeschoben werden, nicht zurückzunehmen bereit sind. Insgesamt glaube ich, werden wir hier mit einem stärkeren Maß an Abwehrreaktionen rechnen müssen, und mit einem nicht - das ist allerdings auch nicht die Aufgabe von Sevilla -, und das ist die Anerkennung der Tatsache, dass in der ganzen Welt, auch in Europa, am stärksten der sogenannte informelle Arbeitsmarkt wächst, bei dem wir selber als Arbeitgeber sozusagen auftreten, entweder indem wir Illegale im Haushalt beschäftigen oder sonst wo, oder aber über die Preise von Dienstleistungen von ihren Diensten Nutzen nehmen.

    Remme: Es gibt ein Instrument, das kontrovers im Vorfeld diskutiert wird, dass Drittländer, die nicht kooperieren, mit einer Kürzung von Unterstützung, zum Beispiel Entwicklungshilfe rechnen müssen. Halten Sie das für sinnvoll?

    Bade: Jein. Man muss sehr genau definieren, was man mit dieser Kooperation meint. Man kann von Drittländern nicht erwarten, dass sie ihre Auswanderungsregelungen den europäischen Einwanderungsängsten anpassen. Das geht nicht. Aber wenn es darum geht, dass Transitreglements durchdacht werden, die dahin führen, dass die Zuwanderung nach Europa, und zwar die illegale Zuwanderung durch solche Länder ohne Kontrolle geschleust werden kann, oder wenn es darum geht, dass Menschen, die aus Europa ausgewiesen werden, und die eindeutig nicht aus diesem Eingangsraum stammen, nicht zurückgenommen werden, weil der Ausgangsraum kein Interesse daran hat - nehmen wir mal Marokko - dann muss man darüber nachdenken - das scheint mir legitim zu sein -, inwieweit es noch sinnvoll sein kann, im gleichen Maße Wirtschaftshilfe beizubringen.

    Remme: Ich habe die Ängste in der Bevölkerung angesprochen. Wird sich dieses Problem der illegalen Einwanderung durch die geplante EU-Osterweiterung nun dramatisch verschärfen?

    Bade: Ich glaube nicht, dass es sich dramatisch verschärfen wird. Es wird einen Übergangsprozess geben, in dem wir gerade auch in der Bundesrepublik mit stärkeren Zuwanderungen rechnen müssen. Ich glaube aber dann, dass sich das ausgleichen wir, ähnlich wie damals bei der EU-Erweiterung in Richtung Spanien oder Portugal, und diese Wanderungen zu Pendelwanderungen übergehen werden. Aber gerade in den Grenzdistrikten wird es auch Zeitprobleme geben, und das Lohngefälle ist eben hier zum Osten hin sehr viel deutlicher, als dies zum Südwesten und zum Süden in der Europäischen Union gewesen ist.

    Remme: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio