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Der Fall der Tschetschenin Mainat Abdulajewa

Wenn Mainat Abdulajewa diese Klänge hört, steht ihr die gesamte Leidensgeschichte ihres Volkes vor Augen. Dieses Lied wurde zur Hymne der unter Stalin deportierten Tschetschenen, jetzt ist es ein Stück Kaukasus mitten in Deutschland. Für ein halbes Jahr kann sie hier, dank des deutschen PEN-Klubs, endlich ihr seit Jahren geplantes Buch schreiben, ein Totenbuch.

Von Sabine Adler | 06.06.2005
    "Das soll ein Buch werden über Menschen, die ich kannte. Über meine Freunde, von denen einer nach dem anderen getötet wurde, über meine Klassenkameraden, die tot sind, über meine Lehrer, die es nicht mehr gibt. "

    Freiwillig hat sie sich diese Auszeit nicht genommen, Maskierte haben ihr gedroht und dieses Mal verstand sie, dass es ernst ist.

    "Ich habe im Grunde genommen schon lange damit gerechnet. Wenn ich mindestens drei Mal am Tag mit meinem riesigen Satellitentelefon, das nur unter freiem Himmel funktionierte, meine Reportagen für Radio Liberty absetzte, konnte jeder, der in einem solchen Moment vorbeikam, mithören. Das war nur eine Frage der Zeit."

    Sobald es geht, will sie nach Tschetschenien zurückkehren, deshalb bat sie nicht um politisches Asyl. Mainat Abdulajewa war 20, als sich der Krieg brutal in ihr Leben drängte.

    "Ich wollte Schriftstellerin werden, Philosophie studieren. 1991, als ich alt genug für ein Studium in Moskau war, haben meine Eltern mich nicht gelassen, denn dort begann gerade die Jagd auf die Tschetschenen, die man für alles Schlechte verantwortlich machte. Ich wurde ein ums andere Jahr vertröstet und schrieb solange für eine tschetschenische Zeitung über Rockkonzerte und so etwas. "

    Ihr Journalistikstudium an der Universität Grosny hatte sie gerade hinter sich, als die ersten Panzer in die Stadt einrückten. Über ihrem Heimatdorf Samaschki warfen russische Flieger Bomben ab, zogen Soldaten marodierend und brandstiftend durch die Straßen.

    "Damals waren von dem gesamten Dorf nicht einmal mehr zehn Häuser übrig. 200 Menschen sind in den Flammen umgekommen. Meinen Vater, ein alter Mann von 75 Jahren, haben sie nachts aus dem Bett geholt. Ausgerechnet ihn, der schon 10 Jahre im Gulag gesessen hatte. Sie folterten ihn drei Tage lang, bis es uns endlich gelang, ihn freizukaufen. "

    "Insgesamt viermal haben wir unser Haus neu aufgebaut. allein im zweiten Krieg drei Mal. Wie sehr sehne ich mich nach einem normalen Leben, nach Ruhe, einem gemütlichen Heim. Aber ich habe beschlossen, dass ich kein Haus will. Wofür etwas bauen, etwas kaufen, einrichten, wenn doch sofort wieder die Russen kommen, die alles zerstören oder mitnehmen? "

    Als der zweite Tschetschenienkrieg begann, verhängte der Kreml über die Kaukasus- republik die totale Zensur. Wer unabhängig berichten wollte, konnte dies nur inkognito tun, sich aber dafür der Solidarität der Tschetschenen gewiss sein. Immer wieder wechselte Mainat Abdualjewa ihren Wohnsitz, doch als wochenlang die tschetschenische Hauptstadt bombardiert wurde, saß sie in einer Falle.

    "Das war zum Jahreswechsel 2000. Als alles vorüber war, verließ ich die Stadt zu Fuß. Ich wog noch gerade mal 42 Kilo, sah aus wie ein Skelett, war halbtot. Ich fuhr nach Moskau, wollte ein Zimmer mieten und alle meine Eindrücke in einem Buch zusammenfassen. Ich mochte nichts mehr sehen oder hören außerhalb dieses Zimmers. Aber ich musste von irgendetwas leben." Sie nahm Kontakt mit Redaktionen auf, fand die Nowaja Gaseta, die einzige Zeitung, die objektiv über den Krieg berichtete und fuhr wieder nach Tschetschenien zurück.

    "In Grosny haben mich die Russen sofort verhaftet. Sie hielten mich für eine Scharfschützin, die es auf russische Soldaten abgesehen hatte, weil sie in meinen Aufzeichnungen Skizzen fanden. Sie glaubten, es seien Karten von ihren Truppen- verbänden, dabei hatte ich einen Lageplan von Massengräbern gezeichnet. In Grosny befanden sich kaum noch Menschen, dafür aber in Kellern, auf Straßen Berge von Leichen, die eilig begraben wurden. Und damit die Leute wissen, wo sie später ihre Angehörigen suchen können, habe ich aufgemalt, in welcher Straße an welcher Stelle sich ein solches Massengrab befindet. "

    Als Tschetschenin für eine russische Zeitung zu berichten, ist für Mainat Abdulajewa kein Problem, solange sie die Wahrheit schreiben kann. Und dennoch war ihr klar, dass man ihren Artikeln mit Vorbehalt begegnete, deshalb beschränkte sie sich darauf, wann immer es ging, Tatsachen sprechen zu lassen.

    "In Grosny wurde eine Zeit lang Wasser aus Tankwagen verkauft. Als eine Nachbarin mit ihren Eimern kam, sprangen aus einem heranfahrenden Jeep Maskierte und erschossen sie. Keiner wusste warum. Wir brachten die Leiche ins Haus und als wir wieder herauskamen, waren die Hofhunde schon dabei, ihr Blut aus der Lache aufzuschlecken. Ich habe versucht, den Krieg anhand von Details darzustellen. meine berühmteste Geschichte war die über die Millionen von Ameisen, die aus den tschetschenischen Wäldern weggeflogen sind, als dort die Bomben fielen. Dunkle Wolken mit riesigen Schwärmen von Ameisen und Marienkäfern flohen über den Gebirgskamm nach Dagestan. "

    Mainat Abdulajewa ist alles andere als eine typische Tschetschenin. Dass sie ihr eigenes Geld verdient, verdankt sie ihrem Mann. Selbst Schriftsteller kann er verstehen, dass sie eher mit ihrem Beruf, denn mit ihm verheiratet ist. Ihre Eltern hätten ihr diese Arbeit nie gestattet, er lässt sie gewähren und ist damit selbst eine Ausnahme. Auf ein Kind allerdings wollte die 30-jährige dennoch nicht verzichten.

    "Ich habe während des ersten Tschetschenienkrieges geheiratet und die ganze Zeit auf den richtigen Augenblick für ein Kind gewartet. Dann, als der zweite Krieg begann, habe ich begriffen, dass es in Tschetschenien nie den richtigen Augenblick geben wird. Aber die Vorstellung, dass nichts von mir bleiben wird, fand ich auch unerträglich."

    Die schmale Frau mit den langen blonden Haaren und blauen Augen ist eine Kämpfernatur, die es wohl am liebsten persönlich mit Präsident Putin aufnehmen würde, vor allem, wenn er behauptet, dass der Krieg doch längst vorbei sei.

    "Die frontalen Kämpfe mit großen Truppenverbänden, die Bombardierungen der Städte sind vorbei. Aber die Kämpfe in den Bergen, die Bombardements dort dauern an.Es ist ein Partisanenkrieg geworden. Noch immer verschwinden jede Nacht Dutzende Menschen, jeden Moment kann dein Haus in die Luft fliegen, kannst du auf offener Straße in Schusswechsel geraten. Ständig stößt man auf nicht mehr identifizierbare Leichen, werden Massengräber entdeckt. Was soll das anderes sein als Krieg? Frieden ist das ja wohl auf keinen Fall. "

    So dankbar sie dafür ist, derzeit in Deutschland Schutz und Ruhe zu finden, so wenig kann sie sich an Kanzler Schröders Freundschaft mit Putin gewöhnen.

    "Die Unterstützung Putins kommt zu uns als Bumerang zurück, denn diese Unterstützung bedeutet, Putins Politik zu rechtfertigen. Solange Putin an der Macht ist, wird dieser Krieg fortdauern. "