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Der Fall Ella
Gericht bestätigt Luftverschmutzung als Todesursache

Das Urteil könnte wegweisen sein: In Großbritannien hat ein Gericht erstmals Luftverschmutzung zur Todesursache erklärt. Die neunjährige Ella starb 2013 an einem Asthma-Anfall. Ihre Krankheit sei durch die starke Luftverschmutzung in ihrem Wohnviertel ausgelöst worden, stellte das Gericht fest.

Von Christine Heuer | 18.12.2020
Die neunjährige Ella lebte in Lewisham, einem Stadtteil im Südosten Londons
Die neunjährige Ella lebte in Lewisham, einem Stadtteil im Südosten Londons (Matt Dunham/ AP Photo)
Ella Adoo-Kissi-Debrah, als es ihr noch halbwegs gut ging. 2010 erkrankte das Mädchen an akutem Asthma. Drei Jahre später, da war Ella neun, starb sie in einem Londoner Krankenhaus an Herzstillstand. Die Ärzte hatten vergeblich versucht, sie zu reanimieren. In Ellas Totenschein schrieben sie als Todesursache "akute Atemwegsbeschwerden".
"Atemwegsbeschwerden: Das kann eine 100-jährige sein, die sich vor den Fernseher setzt und plötzlich stirbt. Ein Kind wird nicht plötzlich dermaßen krank. Aus dem Nichts heraus. Und stirbt. Dafür muss es einen Grund geben."

Ellas Mutter wollte Gewissheit

Warum genau ist meine Tochter gestorben? Diese Frage hat Rosamund Adoo-Kissi-Debrah umgetrieben. In den drei Jahren ihrer Krankheit wurde Ella fast 30-mal ins Krankenhaus eingeliefert. Im Jahr bevor sie starb, wurde sie als schwerbehindert eingestuft: "Alle diese Krankenhausbesuche, der Wiederbelebungsversuch an ihrem kleinen Körper. Manchmal hatte sie Angst, ich hatte Angst. Man wusste nie, woher der nächste Anfall kommt."
Die frühere Schuldirektorin forschte nach, sie kam in Kontakt mit Umwelt-Organisationen – und dann zum Schluss, dass Ellas schwere Erkrankung und ihr grausamer Tod mit der Luftverschmutzung in ihrem Viertel zu tun hatten. Ellas Familie lebt in Lewisham, im Südosten von London. Ihr Haus ist gerade mal 25 Meter entfernt von der South Circular, einer der größten und dichtest befahrenen Straßen der englischen Hauptstadt. In einem Land, das internationale Grenzwerte für Stickstoff-Dioxid und Feinstaub notorisch überschreitet.
Die Schadstoffe haben Ellas Asthma getriggert und verschlimmert: Davon war ihre Mutter schließlich so überzeugt, dass sie vor Gericht zog. Den ersten Prozess verlor sie 2014. Aber den zweiten hat sie gewonnen.

Schadstoffe erstmals offiziell als Todesursache

Diese Woche urteilte ein Untersuchungsrichter, Ellas Tod sei durch Atemwegsbeschwerden, starkes Asthma und durch die Luftverschmutzung ausgelöst worden, der sie ausgesetzt war. Es ist das erste Mal, dass Schadstoffe offiziell als Todesursache festgehalten werden: Ganz sicher in Großbritannien, vielleicht auch in der Welt. Für Rosamund Adoo-Kissi-Debrah ist das Urteil vieles zugleich: Erklärung, Bestätigung, Auftrag.
"Ja, hier ging es um meine Tochter. Endlich wird ihr die Gerechtigkeit zuteil, die sie so sehr verdient hat. Aber es geht auch um andere Kinder, wenn wir in unserer Stadt herumlaufen. Diese Sache ist also noch lange nicht zu Ende." - Ellas Mutter und die vielen Organisationen, die sie seit Jahren unterstützen, fordern strengere Umweltauflagen.
Ellas Vermächtnis könnte ein neues Immissionsschutzgesetz sein. Wissenschaftler sagen, dass in Großbritannien jährlich 40.000 Menschen an den Folgen der Schadstoff-Emissionen sterben. In Londons Innenstadt wurde zwar die weltweit größte Umweltzone eingerichtet. Dort dürfen nur Diesel-Autos gefahren werden, die die Grenzwerte einhalten, sonst sind tägliche Gebühren fällig. Trotzdem rechnen Experten damit, dass in der englischen Metropole die vorgeschriebenen Werte nicht vor 2025 eingehalten werden.

"Forderung an die Regierung, dringend zu handeln"

Das Urteil zu Ellas Todesursache wird keine unmittelbaren Folgen haben, weiß Jocelyn Cockburn, die die Familie des Mädchens anwaltlich beraten hat. Aber es kann der entscheidende Anstoß sein für politisches Handeln: "Wenn man bestätigt, dass Menschen wirklich sterben, wenn es nicht nur um Statistiken auf der Basis von Bevölkerungsstudien geht: Dann bedeutet das eine überwältigende Forderung an die Regierung, dringend zu handeln."
Die Regierung wirkt – jedenfalls noch – nicht überwältigt von dem Urteil im Ella-Prozess. Londons Bürgermeister Sadiq Khan wirft Downing Street vor, das Thema systematisch zu vernachlässigen. So ganz stimmt das nicht. Boris Johnson hat gerade erst angekündigt, Diesel-Fahrzeuge in wenigen Jahren ganz zu verbieten. Und als sein jetziger Staatsminister Michael Gove noch das Umweltressort leitete, wollte er im englischen Recht WHO-Grenzwerte für Luftschadstoffe verankern. Aber die Tory-Abgeordneten stimmten dagegen. Sie fanden Goves Plan wirtschaftlich nicht rentabel.