Donnerstag, 28. März 2024

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Der Fall Wirecard
Multiples "Organversagen" von Kontrollen und Aufsichten

Mit Wirecard ist erstmals ein Dax-Konzern in die Insolvenz gerutscht. Während die Justiz ermittelt und Anleger ihre Verluste beklagen, läuft die Debatte, wieso Hinweisen auf mögliche Luftbuchungen nicht nachgegangen wurde - und welche Lehren aus dem Fall zu ziehen sind.

Von Mischa Erhardt | 10.07.2020
Es "brennt" bei Wirecard - der Finanzdienstleister stellt Insolvenzantrag (Fotomontage)
Nach dem Bilanzskandal beim Zahlungsdienstleister Wirecard wird nach nach besserer Kontrolle gerufen (imago/Sven Simon)
Als das Unternehmen Wirecard vor nicht einmal zwei Jahren in den Dax aufstieg, war es an der Börse 20 Milliarden Euro wert. Jetzt bemühen sich Insolvenzverwalter und Gläubiger, überhaupt noch etwas aus der Konkursmasse herauszuholen. Kleine wie große Investoren haben ihr Vermögen verdampfen sehen - darunter eigentlich hochprofessionelle Fondsgesellschaften wie die Deutsche-Bank-Tochter DWS oder die Deka Bank der Sparkassen.
Doch nicht nur die Anleger, sondern das gesamte deutsche Finanzsystem rings um die oberste Börsenliga, den Dax, wird durch die Wirecard-Pleite blamiert. Nicht von ungefähr spricht der Chefkontrolleur der Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin, Felix Hufeld, von einer "Schande" und einem "Desaster" – und das schließt eine gehörige Portion Selbstkritik ein. Aber nicht alle wundern sich über das Wirecard-Desaster.
Ein Schild mit der Aufschrift «wirecard» hängt während der Wirecard-Hauptversammlung 2019 im Tagungsgebäude. 
Wirecard-Skandal - "Im Grunde brauchen wir eine Bilanzpolizei"
Nach dem Bilanzskandal beim Zahlungsdienstleister Wirecard hat der finanzpolitische Sprecher der SPD, Lothar Binding, mehr Befugnisse für die Aufsichtsbehörden gefordert. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht habe gut gearbeitet, sie habe aber nicht genügend Reichweite, sagte Binding im Dlf.
Er sei nicht wirklich überrascht vom Kollaps Wirecards, sagt Dan McCrum, Journalist der britischen Tageszeitung "Financial Times " gegenüber dem rbb inforadio. McCrum und seine Kollegen haben seit Anfang 2019 regelmäßig über Scheinbuchungen und geschönte Bilanzen bei Wirecard in Asien berichtet.
Unstimmigkeiten im deutschen Unternehmen haben sie schon ab 2015 beschrieben. Was ihn allerdings überrascht hat, berichtet McCrum, war nun die Geschwindigkeit, mit dem das Betrugsgebäude namens Wirecard zusammenfiel.
Während also der Staub des Einsturzes noch in der Luft hängt, müssen sich viele renommierte Institutionen Fragen gefallen lassen: Was haben die Aufsicht Bafin, der Aufsichtsrat des Unternehmens, die Bilanzprüfer von EY, vielen besser bekannt als Ernst & Young, eigentlich die vergangenen Jahre gemacht?
"Das ist eine ganz besondere Erfahrung hier in Deutschland, dass man praktisch einem - so muss man jetzt ja wohl vermuten - schweren Betrugsfall erst mit großer Verzögerung auf die Spur kommt", sagt Jan-Pieter Krahnen. Er ist Professor für Kreditwirtschaft und Finanzierung an der Goethe-Universität Frankfurt.
Fast alle Menschen hierzulande sind Wirecard begegnet
Wirecard versprach rasantes Wachstum in einem Bereich moderner digitaler Technologien. Dort, wo sonst amerikanische Internetgiganten und allenfalls asiatische Konkurrenten das Sagen haben. Das Unternehmen aus Aschheim bei München überholte die Deutsche Bank im Börsenwert und ersetzte die Commerzbank im Dax. Der langjährige Unternehmenschef Markus Braun avancierte zum Börsen-Rockstar, wurde auf Konferenzen für Startups und neue Technologien gefeiert.
"Wir waren ja dankbar, wir haben endlich wieder was Vernünftiges: Auch Deutschland kann Hightech; nicht nur SAP, sondern auch Wirecard – IT-Bezahlsysteme. Und das Geschäftsmodell halte ich nach wie vor für interessant. Und da waren alle stolz drauf, so konnte man auch die kleinen Anleger wieder überzeugen, wieder an den Aktienmarkt zurückzukehren", sagt Robert Halver im Rückblick, er ist Aktienstratege der Baader Bank. Der Wunsch nach einem deutschen Champion in Sachen Zukunftstechnologien im Internet dürfte auch eine Rolle dabei gespielt haben, dass die Finanzaufsicht die aufgeblähte Bilanz hinter der Fassade von Wirecard nicht erkannt hat.
Ex-Wirecard-Vorstandsvorsitzender Markus Braun und das Logo des Unternehmens 
Ex-Wirecard-Vorstandsvorsitzender Markus Braun (pciture alliance/dpa - Sven Simon)
Jan-Pieter Krahnen: "Wenn ich viele Aufsichten habe und die Unternehmen, die einer Aufsicht zugeordnet sind, befinden sich vielleicht auch noch im internationalen Wettbewerb, dann ist die Versuchung, das Unternehmen, das man beaufsichtigt, mit zu stärken und zu stützen im internationalen Wettbewerb, kaum von der Hand zu weisen."
Der langjährige Unternehmenschef Markus Braun versorgte Anleger mit dem Stoff, aus dem die Börsenträume sind: Ein Markt für sich rasant ausbreitende neue elektronische Bezahlsysteme. Kritikern unterstellte Braun, sie wollten sich durch das Herunterreden von Wirecard selbst bereichern:
"In der Realität, wie gesagt, gibt es aus unserer Sicht keine Risiken. Und um auf Asien zu kommen: Ich halte das für einen sehr starken Wachstumsmarkt. Ich glaube, wir sind dort hervorragend positioniert".
So reagierte Braun im Interview mit dem Nachrichtensender Ntv, der ihn auf die Berichterstattung der Financial Times über aufgeblähte Bilanzen in Tochtergesellschaften in Asien und erfundene Geschäfte vor allem in Singapur ansprach.
Das Geschäftsmodell von Wirecard, das überall auf der Welt Wachstum versprach, waren elektronische Zahlungen zwischen Händlern und Kunden. Die hat Wirecard abgewickelt, und zwar in der realen Welt als auch online. Fast alle Menschen hierzulande sind Wirecard spätestens etwa im Supermarkt schon begegnet, auch wenn viele das vermutlich nicht wissen.
Anzeige gegen Journalisten
Kreditkartenunternehmen, der Allianz-Konzern und große Ketten wie der Discounter Aldi waren Kunden oder Partner des Unternehmens. Die deutsche Finanzaufsicht Bafin nahm 2019 nicht etwa die Berichterstattung der Financial Times ernst, sondern die Behauptungen des Wirecard-Chefs, dass da jemand von fallenden Kursen profitieren wolle - und erstattete Anzeige gegen die Journalisten wegen Kursmanipulationen.
"Wir haben damit gerechnet, dass Wirecard diese Anschuldigungen der Marktmanipulation gegen uns erheben wird. Denn in seiner Geschichte hat das Unternehmen sehr erfolgreich seine Kritiker dämonisiert, indem es sie beschuldigte, illegale Leerverkäufer zu sein oder den Aktienkurs manipulieren zu wollen. Was wir nicht erwartet hatten, war, dass die deutschen Aufseher die Beschwerden des Unternehmens so ernst nehmen. Es war beängstigend, als Krimineller beschuldigt zu werden und dieses Gefühl zu haben, dass die Deutschen Autoritäten diese Sichtweise teilen. In der Folge waren wir für einige Zeit einem sehr hohen Druck ausgesetzt".
Ein folgenschwerer Fehler der Finanzaufsicht Bafin. "Es ist wirklich skandalös, dass die Bafin nicht nur viel zu wenig gemacht hat, sondern da, wo sie etwas gemacht hat, in die falsche Richtung tätig gewesen ist und die Aufklärer angegriffen hat, statt den Vorwürfen wirklich nachzugehen", sagt Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende. Schick war bis 2018 Grünen-Finanzexperte im Bundestag.
Felix Hufeld, Präsident der BaFin steht vor einem Logo der Bundesanstalt.
BaFin-Präsident Felix Hufeld (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
Allerdings ist Wirecard früher in der Tat schon in den Fokus von Spekulanten geraten. So hatten vor rund zehn Jahren unter anderem Funktionäre der Schutzgemeinschaft für Kapitalanleger den Verdacht auf Unregelmäßigkeiten bei Wirecard geäußert. Ein Gericht stellte fest, dass sie auf fallende Kurse des Unternehmens gewettet hatten, und verurteilte sie 2012 wegen Marktmanipulation. Das Verfahren gegen den Report des Analystenhauses "Zatarra" von 2016 über kriminelle Machenschaften bei Wirecard wurde dagegen mittlerweile eingestellt. Herausgeber Fraser Perring, ein Brite, hofft, dass die Behörden nun auf seine Recherchen zurückgreifen.
Auch hier hatte die Bafin sich also – wie es scheint reflexhaft – gegen Kritiker des Unternehmens gestellt. Zur Zeit der Veröffentlichung der FT-Artikels Anfang 2019 ging die Aufsicht noch einen Schritt weiter und verhängte in einem beispiellosen Markteingriff ein zweimonatiges Verbot von Leerverkäufen von Wirecard-Aktien, also ein Verbot von Wetten auf fallende Kurse. Natürlich ist es der Gegenstand dieser Wetten, dass Unternehmen schlecht dastehen. Allerdings kommt ihnen auch eine Alarmfunktion zu.
Börsenexperte Robert Halver: "Leerverkäufe haben für mich die Bedeutung, wenn sie ordentlich stattfinden, von einer Flurbereinigung. Das heißt, da werden dann Dinge abgearbeitet, bereinigt, die nicht stimmen. Also, wenn man sagen kann, wie die FT ja auch vor langer Zeit berichtet hat, da gibt es Bilanz-probleme, da könnte man sagen: Aha, wo Rauch ist, könnte auch Feuer sein. Da sollte man Leerverkäufe zulassen. Denn wenn sie wirken und der Aktienkurs fällt, dann wird das ja sofort den Vorstand und Aufsichtsrat eines Unternehmens dazu bringen Aufklärung zu machen."
Die Verantwortung aber dafür, dass Scheingeschäfte, Scheinbuchungen, Scheingewinne nicht aufflogen – die wird nun zwischen allen Beteiligten herumgereicht. Bafin-Chef Felix Hufeld erklärt: Wirecard sei in Abstimmung mit Finanzaufsehern in Bundesbank und Europäischer Zentralbank nicht als Finanzholding einzustufen gewesen. Die Bafin sei nur für die Aufsicht eines Teilbereichs des Konzerns, nämlich der Wirecard-Bank, zuständig gewesen.
Kriminelle Energie
Zudem zeige der Fall ein hohes Maß an krimineller Energie: "It’s a massive criminal act. What we have to digger out now is: Who actually deceived whom, who are the bad guys who are the good guys? And who where just not up to the challenge." So Hufeld auf einer Online-Finanzkonferenz vor wenigen Tagen. Die Bafin habe gar nicht prüfen dürfen, bevor die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, kurz DPR, nicht ihr Ergebnis vorgelegt habe. Die DPR wurde im Februar 2019 beauftragt, allerdings hat sie bislang nichts geliefert.
Die Prüfstelle nun erklärt, das Aufspüren von Bilanzbetrug und Ermittlungen seien nicht Teil ihres Aufgabenkatalogs. Ein Jahrzehnt schließlich hätten die Bilanzprüfer von EY, Ernst & Young, die Bücher des Unternehmens als makellos testiert. Ihren Stempel haben die EY-Prüfer erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal verweigert, als das 1,9 Milliarden tiefe Loch in der Wirecard-Bilanz offen lag. Aktionärsschützer Klaus Nieding.
Besucher an einem Stand von Wirecard zum Thema Bezahlsystem, Vernetzung und online Buchungen auf der Internationalen Tourismusboerse ITB in Berlin 2015.
Wirtschaftsprüfer: BaFin hat großen Fehler gemacht
Bei der Aufarbeitung des Bilanzskandals von Wirecard müsse auch geklärt werden, ob das Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY (ehemals Ernst & Young) Fehler gemacht habe, sagte der Wirtschaftsprüfer Hans Marschdorf im Dlf. Versäumnisse sieht er auf jeden Fall bei der Bankenaufsicht Bafin.
"Man muss natürlich auch die Frage nach der Verantwortung der Wirtschaftsprüfer stellen, die, ich sage mal in schöner Regelmäßigkeit die Jahresabschlüsse testiert haben und die natürlich auch im Rahmen dieser Testate bestätigt haben, dass die entsprechenden Konto-guthaben vorhanden sind. Wenn es so ist, wie es in der Presse kolportiert, dass seitens der philippinischen Banken dort kurz und bündig gesagt wird, dass bestimmte Konten nicht existieren, dann stellt sich schon die Frage, warum ist der Abschlussprüfer nicht in der Lage bei seinen Abschlussarbeiten dort anzurufen und sich einfach mal eine Bestätigung geben zu lassen."
EY wiederum behauptet: Das Unternehmen habe eben betrogen, da hätte man gar nicht dahinter kommen können. "Ich glaube, es ist ganz menschlich, dass jeder momentan erst einmal auf den anderen verweist, wenn wenngleich ich das auch nicht gutheiße", sagt die Chefin des Deutschen Aktieninstitutes Christine Bortenlänger. "Auch hier braucht es Aufklärung, und dann können wir den Finger in die Wunde legen und entscheiden, wo tatsächlich Versäumnisse stattgefunden haben."
Auch wenn Art und Ort der Fehler noch nicht konkret bekannt sind, zeigt der Fall, dass möglicherweise zu viele Institutionen in die Aufsicht solcher Konzerne eingebunden sind. Wirtschaftswissenschaftler Jan-Pieter Krahnen kritisiert, dass alle Institutionen sich bloß hinter ihrer formalen Zuständigkeit versteckten:
"Es ist wichtig, dass die Aufsicht der Zukunft aus diesen Versäumnissen lernt. Das heißt auch: Sie muss eine eigenständige, unabhängige Institution sein, nicht eine nachgeordnete Einrichtung des Finanzministeriums. Und aus ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, in der leitet sie ihr Mandat, das heißt: Sie wird im Rahmen ihres Mandates selber tätig und überlegt sich mit eigenem Sachverstand, was ist denn hier eigentlich los."
Reform der Finanzaufsicht angekündigt
Inzwischen hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Finanzaufsicht reformieren zu wollen. Schon in der Finanzkrise 2008 warfen Kritiker der Behörde vor, Zockergeschäfte von Banken nicht rechtzeitig erkannt zu haben - zum Beispiel im Fall des später in einer Notaktion verstaatlichten Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate. Auch den milliardenschweren organisierten Betrug mit den Cum-Ex-Geschäften, bei denen Betrüger Steuererstattungen mehrfach geltend machten, hat die Bafin nicht bemerkt.
 Olaf Scholz (SPD), Bundesminister der Finanzen, nimmt an der 167. Sitzung des deutschen Bundestages teil.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) (picture alliance / Kay Nietfeld)
Finanzminister Scholz will nun Unternehmen wie Wirecard in Deutschland generell der Finanzaufsicht Bafin unterstellen. Das zweistufige Prüfungsverfahren, wonach erst die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung spricht, will er abschaffen. Die Bundesministerien haben der Prüfstelle bereits den Vertrag gekündigt.
Dass Scholz außerdem der Bafin mehr Geld und mehr Stellen geben will, kritisiert allerdings die Opposition im Bundestag. Es sei die "Spitze der Absurdität", wenn die Bafin sich künftig noch um fast 40.000 Finanzdienstleister kümmern müsste, heißt es aus der FDP-Fraktion. Fabio De Masi, Fraktionsvize der Linken, fordert personelle Konsequenzen und einen Kulturwandel in der Bafin.
Auch Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende meint, dass eine "Aufrüstung" der Bafin am Kern des Problems vorbei führe. "Ich glaube nicht, dass die Kapazität das entscheidende Problem ist. Die Bafin hat in den letzten Jahren immer massiv aufstocken können, und es gibt auch wirklich gute Leute in der Bafin. Das entscheidende ist, die Kapazitäten auch der Priorität entsprechend einzusetzen und neueren Entwicklungen wirklich gerecht zu werden."
Eine klare Kritik an der Behördenleitung. Das Problem im Fall Wirecard sei, dass die Bafin die Rolle neuer Finanzunternehmen nicht verstanden habe. Der Markt der FinTechs entwickle sich stürmisch, und eine Aufsicht müsse eben Schritt halten. Gefragt sei deswegen aber vor allem eine schlagkräftige europäische Aufsicht solcher Finanzkonzerne, die weit über Landesgrenzen hinaus agieren.
Auch die Bundesregierung hat schon angekündigt, eine einheitliche europäische Aufsicht von Zahlungsdienstleistern zum Thema ihrer laufenden EU-Ratspräsidentschaft zu machen. Jan-Pieter Krahnen begrüßt das.
"Die Marktaufsicht in Europa ist unverändert eine nationale Verantwortung. Und damit in 27 Ländern, ich zähle England gar nicht mehr mit, in 27 Ländern auf seine eigene Weise organisiert. Das ist historisch, das ist eigentlich anachronistisch, dass wir eine Aufsicht haben, die sich so sehr nationalen Eigenwilligkeiten beugt und zuordnet. Wir brauchen eine europäische einheitliche Aufsicht mit Durchgriffs-möglichkeit, also mit echter, harter ‚polizeilicher Kompetenz‘. Dann können wir damit rechnen, dass auch ähnliche Standards überall gelten und das auch international Anerkennung findet."
Das sieht auch Aktionärsschützer und Rechtsanwalt Klaus Nieding so. "Es kann nicht sein, dass solche multinationalen Finanzkonzerne von, ich sage mal, Beamten bei Bezirksregierungen kontrolliert werden, die ansonsten für die Gewerbeaufsicht und Ähnliches zuständig sind."
"Es braucht eine Grundsatzreform bei den Wirtschaftsprüfern"
Aktivist Gerhard Schick fordert überdies, die zweifelhafte Rolle der Wirtschaftsprüfer wie in diesem Fall EY in den Blick zu nehmen. "Bei jedem großen Skandal stellen wir fest, dass die Wirtschaftsprüfer nicht gut gearbeitet haben, und dass es da massive Probleme in dem Sektor gibt. Als aber 2009 die EU-Kommission sich daran gemacht hat, Reformen in dem Sektor durchzusetzen und die Arbeit zu verbessern, ist es den vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, darunter eben EY, die jetzt bei Wirecard zum Thema geworden sind, denen ist es gelungen, die ganze Reform praktisch völlig auszubremsen. Und das muss jetzt noch mal neu auf die Tagesordnung: Es braucht eine Grundsatzreform bei den Wirtschaftsprüfern."
Gerhard Schick ist Volkswirt und ehemaliges Mitglied des Bundestages und der Grünen. Er ist Mit-Initiator des Vereins Finanzwende.
Gerhard Schick (Finanzwende)
Doch auch die Funktion von Aufsichtsräten empfiehlt Branchenexperte Dieter Hein aus dem Analystenhaus Fairesearch zu durchleuchten. "Da werden von den Gesellschaften normalerweise bei HVs , wenn Positionen neu zu besetzen sind, im Aufsichtsrat eben nur so viele vom Unternehmen vorgeschlagen, wie tatsächlich auch zu wählen sind. Das hat mit Demokratie überhaupt nichts zu tun. Das sind auch häufig Leute, die sich aus weder im Geschäft aus meiner Sicht gut auskennen, oder sie sind involviert, weil sie früher selber in der Verantwortung waren. Also von daher müsste man den Aufsichtsrat in der Besetzung wesentlich unabhängiger machen."
Und schließlich bleibt im Fall Wirecard auch die Frage, wie es das Unternehmen in den Dax schaffen konnte – und trotz Insolvenz voraussichtlich noch bis September dortbleiben wird . Dabei ist der Börsenwert kaum noch der Rede wert, die Aktie nur noch ein Spielball von Zockern.
Klaus Nieding: "Die Börse muss unbedingt Ihre Kriterien nachschärfen. Wir fordern dies bereits seit langem. Die Publizitätsanforderungen sind ganz wichtig, Transparenzkriterien sind wichtig, aber natürlich auch Kriterien, die die finanzielle Lage des Unternehmens betreffen. In jedem normalen Dauerschuldverhältnis ist es üblich, dass die jeweilige Vertragspartnerseite ein außerordentliches Kündigungsrecht hat, wenn die andere Seite in die Insolvenz zu rutschen droht. Das muss natürlich bei der obersten Börsen-Bundesliga auch der Fall sein."
Auch Christine Bortenlänger vom Deutschen Aktieninstitut zeigt sich zuversichtlich, dass die Deutsche Börse ihre Regeln überarbeiten wird. "Ich bin fast sicher, das ist zu neuen Regeln kommt. Ob das jetzt eine Nachschärfung ist – ich würde das eher als Verbesserung bezeichnen, aber das ist ein Wortspiel. Aber wie gesagt, so einen Fall hatten wir noch nicht. Insofern würde ich der Börse hier jetzt auch gar keinen Vorwurf machen, jetzt hat man ihn - und muss Schlüsse daraus ziehen".
Der Fall Wirecard stellt offenbar ein multiples "Organversagen" von Kontrollen und Aufsichten angesichts neuer Unternehmenstypen wie der modernen, digitalen Finanzdienstleister dar. Auch Staatsanwaltschaften, Gerichte und die politisch Verantwortliche werden sich nun mit dieser neuen FinTech-Welt und ihren Betrugsmöglichkeiten auseinandersetzen. Klar ist: Das Kontrollsystem muss so modern sein wie die Unternehmen, die es kontrollieren soll.