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Der Finanzdiktatur Einhalt gebieten

Die Politik ist hinter einer deregulierten Wirtschaft in die zweite Reihe gerückt. Im Haus der Kulturen der Welt in Berlin trafen sich deshalb zehn Intellektuelle zu einer "Intervention". Sie beklagten, "wie demokratiefern und marktnah in der EU Entscheidungen getroffen werden".

Von Frank Hessenland | 19.12.2011
    "Jedermann weiß, dass wir uns heute in einer Atmosphäre, einer Situation, einem Millieu des Staatsstreichs befinden."

    Sie waren nicht gekommen, um Blätter vor den Mund zu nehmen, die drei Wissenschaftler, vier Journalisten, zwei Autoren und ein Filmemacher. Sie waren gekommen, um ihrer Besorgnis Ausdruck zu geben, dass wir uns inmitten eines "silent system change" befinden könnten, eines stillen Systemwechsels weg von der Demokratie hin zu einer oligarchischen Finanzdiktatur.

    "Wir befinden uns mitten in einem Kampf um Entscheidungshoheit zwischen staatlichen Funktionären, ökonomischen Akteuren und demokratisch legitimierten Institutionen. Ein Kampf mit bis auf weiteres offenem Ausgang."

    Neben Kulturwissenschaftler Joseph Vogel von der Humboldt-Universität machte Carolin Emcke, Publizistin der Wochenzeitschrift "Die Zeit", ihrem Unmut über den Souveränitätsverlust europäischer Politiker Luft.

    "Irland, Griechenland, Portugal, Italien. Die Politiker hetzen von Gipfel zu Gipfel, getrieben vom Diktat der Märkte, als ob das ein eigener Akteur sei."

    Franziska Augstein, Feuilletonistin der "Süddeutschen Zeitung", ging noch weiter:

    "Kein normaler Mensch will, dass irgendwelche Investmentfonds und andere Großanleger ihm und seinen Mitmenschen vorschreiben, mit wem sie was teilen. Das ist das Dilemma. Derzeit kuscht die Politik. Das geht so nicht."

    Vor allem am Beispiel des Bedeutungsverlustes der Parlamente entzündete sich das Feuer der Teilnehmer:
    "Das Parlament und seine Kompetenzen sind ausgehebelt!"

    Bürgschaften in Billionenhöhe sollen von den Gemeinwesen in Europa garantiert werden, mit Entscheidungsfristen über das Wochenende, bevor die Börsen in Asien öffnen. Schulden machen, ohne Diskussion, an wen eigentlich das Geld fließt und warum der eine für den anderen zahlen muss, führen unweigerlich von der finanz- über die wirtschafts- in die ideelle Systemkrise, sagt Carolin Emcke

    "So wundert es nicht, dass sie keine Idee entwickeln wofür, für welches Europa wir da eigentlich kämpfen und sparen sollen. Es geht um mehr als eine Währung, hier geht es darum, was wir wollen für Europa, ja, was für ein Europa wir wollen."

    Grundsätzliche Fragen, über die zu reden uns in unserer ständig über alles redenden Gesellschaft scheinbar der Wunsch oder die Fähigkeit uns auseinanderzusetzen abhanden gekommen ist. So klagt Harald Welzer, Soziologe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Initiator der Intervention im Haus der Kulturen, dass...

    "wir einen Totalausfall an Zeitdiagnose haben. Wir hören aber nichts aus den Universitäten dazu. Wir hören nichts von den Soziologen, den Politologen, den Historikern usw. An keiner Exzellenzuniversität hat auch nur ein Symposium dazu stattgefunden oder ein Workshop oder ein Treffen, kein akademisches Journal äussert sich dazu."

    Allen "Interventionisten" der gestrigen Veranstaltung war der Wunsch gemein, dass sich die Politik wieder an den Wählern zu orientieren habe und nicht mehr an den globalen Geldverleihern. Alle forderten hierfür eine Art klaren Beschluss der Regierungen und Parlamente. Die Frage, was aber passieren soll, wenn daraufhin etwa die globalen Geldverleiher, also Fondmanager ihr Geld den defizitären Schuldenökonomien nicht mehr leihen wollen, blieb unbeantwortet.

    Wer zahlt die Schulden? Wer soll auf Forderungen verzichten? Die Sparer und die Verbraucher über die Inflation oder die Unternehmen über Steuern und Konkurrenzfähigkeit oder die Reichen über Enteignung? Blöde Fragen, hieß es dazu. Nächste Fragen.