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Eskandar Abadi: „Aus dem Leben eines Blindgängers“
Der Geschmack der Revolution

Eskandar Abedi erzählt aus dem Leben eines blinden jungen Mannes, der im Iran zur Zeit der Revolution Ende der 70er-Jahre Musiker wird. Er schließt sich revolutionären Zellen an und geht schließlich ins Exil nach Deutschland, wo er seine Erinnerungen niederschreibt.

Von Tanya Lieske | 11.08.2022
Eskandar Abadi: "Aus dem Leben eines Blindgangers"
Eskandar Abadi: "Aus dem Leben eines Blindgangers" (Portraitfoto: privat / Buchcover: Katapult)
Als blindes Kind zur Welt zu kommen, im Iran der 1950er-Jahre, konnte eine lebensgefährliche Angelegenheit sein. In der Familie des neu geborenen Nader jedenfalls entsteht gewisse Aufregung. Eine weit verzweigte Verwandtschaft spekuliert, ob es sich bei dieser Blindheit um eine Gottesstrafe handeln könnte. Auch um dieses Gerede zum Schweigen zu bringen, greifen die Eltern zu einer List. Sie gehen nachts zu einem Brunnen, wo sie vorgeben, dass der Vater das Kind ertränken wollte. Es kommt zu einem vorgetäuschten Handgemenge zwischen ihm und seiner Frau, schließlich schreitet die ebenfalls bestellte Großmutter ein. Sie ermahnt die Mutter des Kindes und spricht zugleich zur Menge der Schaulustigen:
„So lange ich lebe, wird niemand deinen Kindern etwas antun. Blind hin, Gottesstrafe her. Da sind auch Gottesgeschöpfe, und wenn jemand mein Haus betritt, um nur einen bösen Blick auf diese Kinder zu werfen, schmeiße ich ihn in den Brunnen, in den dieses Scheusal meine Enkel zu werfen gedachte, und sei es mein eigener Mann, der nur davon lebt, dass er ein Nachkomme des Propheten ist.“

Es riecht nach Kräutern und alten Frauen

Der junge Nader überlebt also, genauso seine etwas ältere Schwester Nasrin, die ebenfalls von Geburt an blind ist. Doch die Geschichte, die hier erzählt wird, folgt vor allem Nader, wobei sie die klassischen Stationen eines Bildungsromans aufgreift: Kleinkindzeit, Erziehung und Schule, die erste Liebe, Erweckung von speziellen Gaben und der Lebensaufgabe. Das alles geschieht mit zwei besonderen Vorzeichen, denn der Iran steuert auf die islamische Revolution des Jahres 1978/79 zu.
Außerdem wird dieser Roman konsequent aus der Perspektive des blinden Nader erzählt. Es entfallen alle äußeren Beschreibungen von Mensch und Umwelt. Das hat einen großen Reiz. Auch den Lesern werden viele Sinne geschärft, etwa wenn die Familie mit  Nader, der  nun ein Kleinkind ist, einen Ausflug in eine andere Stadt unternimmt.
„Isfahan roch anders, sogar die Autoabgase stanken anders. Wo es nicht nach Auto roch, roch es nach Kräutern, nach alten Frauen mit Körben voller Obst und Gemüse, nach frischem Gips und an etlichen Stellen nach faulem Abwasser. Aber auch das, was man hörte, war mir fremd. So gab es Schwärme von geschwätzigen Spatzen. Auch die Menschen hatten einen seltsamen Akzent. Sie sprachen viel gedehnter als wir und ließen ihre Wörter viel zu oft mit „-es“ enden.“

Aus der Aktentasche erzählt

Erzogen wird der kleine Nader von britischen Missionaren, später auf der weiterführenden Schule kommen deutsche Lehrer hinzu. Nicht alle Zusammenhänge und Entscheidungen der Eltern erklären sich, der Roman bewahrt seine tastende Binnensicht. Das bringt viel Unmittelbarkeit ins Erzählen, manchmal aber auch etwas Beliebiges, wenn sich eine Begebenheit des Jugendalters an die nächste reiht. Man merkt schnell, dass man es mit autobiografischem Material zu tun hat, auch wenn eine Fährte der Ablenkung gelegt wird.
Erzählt wird dieser Roman nämlich, sozusagen, aus der Aktentasche. Man trifft zu Beginn einen Iraner, der im Exil in Frankfurt lebt, und der behauptet, er habe das Manuskript eines Blinden in der Aktentasche nach Deutschland gebracht und es dort jahrzehntelang vergessen. Was bedeutet, dass sich der fiktive Herausgeber zur Geschichte seines Helden verhalten muss, jedenfalls so lange, bis er zu erkennen gibt, dass sie seine eigene ist. Dazu legt er sich eine manchmal irritierende, nämlich abwertende Diktion zu.
„So gesehen mutierte Naders Klage über den angeblichen Verlust des Vaters zu losem okzidentalen Geschwätz, das er unbewusst in den christlichen Heimen aufgesaugt hatte.“

Sittenpolizei des neuen Regimes

Im Herzen dieses Romans steht Naders Talent, schon früh merkt er, dass er musikalisch ist. Er muss sich durchbeißen, niemand steht ihm zur Seite, als er beschließt, das Geigenspiel zu erlernen. Er spart für und kauft sich das erste Instrument im Alter von nur zwölf Jahren, spielt lange nach Gehör und schafft es schließlich bis ins staatliche Rundfunkorchester. Um diese beeindruckende Lebensleistung herum gruppieren sich dramatische Ereignisse.
Naders Vater nimmt sich eine Zweitfrau, was, zusammen mit einer wachsenden Zahl von Kindern, zu beengten Verhältnissen führt.   Gleichzeitig brodelt es im Land, man bangt um die Sicherheit des jungen Mannes Nader, der irgendwann von der Sittenpolizei des neuen Regimes erwischt wird, die alle Zerstreuungen untersagt hat.
„Die vier Gardisten gingen in den Nebenraum und berieten sich offenbar. ‚Sollen wir die drei hängen oder erschießen?‘, fragte einer, der bislang kein Wort gesprochen hatte.  ‚Ach, wenn ihre Scheißinstrumente zerstört sind, dann sterben sie von selbst‘, sagte der Nachtwächter. Ich war wegen meiner Geige den Tränen nahe.“

Dieser Roman schmeckt reichhaltig

„Aus dem Leben eines Blindgängers“ ist ein Roman von einer beeindruckenden stofflichen Fülle. Allein die Beeinträchtigung und die Begabung des Helden, seine Jugend in einer grausamen Zeit bietet ein Tableau, aus dem sich ein Pageturner oder ein kapriziöser Schelmenroman gestalten ließen, was leider unterbleibt. Vieles bleibt unkonturiert und wirkt, als spielte Eskandar Abadi nicht nur mit seiner Figur, sondern auch mit sich selbst verstecken. Wenn man seinen Debütroman dennoch mit Gewinn liest, dann liegt das vor allem an der beeindruckenden Gestaltung der Sinneswelt. Selten gab es so viel zu hören, zu riechen und zu schmecken wie in diesem Debütroman.
Eskandar Abadi: „Aus dem Leben eines Blindgängers“
Katapult Verlag, Greifswald
320 Seiten 22,00 Euro.