Der Gestank des Paradieses

Wer den Kopf in den Nacken legt, könnte fast glauben, alles sei in Ordnung: Palmwipfel bewegen sich im Morgenwind, der Himmel ist blau. Wären da nur nicht die vielen Fliegen und der penetrante Gestank. Wer den Blick senkt, sieht den Müll. Überall, unsortiert, jahrelang ohne Sinn und Verstand abgeladen. 14 Jahre lang, um genau zu sein.

Von Jörg-Christian Schillmöller mit Fotos von Dirk Gebhardt |
    Damals entschied die Präfektur der Kommune, hier die zentrale Deponie von Boipeba anzusiedeln. Mitten in der Natur, mitten im Atlantischen Regenwald.

    Seither rollen jeden Tag die Trecker aus den vier Dörfern an. Morgens fahren sie durch die Straßen, und die Müllmänner sammeln die Plastiktüten vor den Häusern ein und werfen sie hinten auf den Anhänger. Ist der Trecker voll, fährt er hinaus aus dem Dorf, durch waldige Sandwege hinauf - und hinab zur Halde.
    Jeden Tag kommen Trecker aus den Dörfern.
    Jeden Tag kommen Trecker aus den Dörfern. (Dirk Gebhardt)
    Wir sind mit Marcos und George hierher gekommen, zwei Wanderführern, die sich freiwillig auch um die Natur kümmern. Auf ihren Touren sammeln sie Müll, und regelmäßig säubern sie Strände und Mangroven.

    Zu Fuß dauert der Weg vom Dorfplatz zur Müllkippe keine 20 Minuten. Der Geruch erreicht einen als erstes - abgestanden, faulig, unangenehm. Ein steiler Weg führt hinab in die Deponie, die Trecker haben tiefe Furchen in den Boden gegraben.

    Müll gibt es hier von jeder Sorte: Plastikflaschen, Fahrradschläuche, alte Koffer, Schuhe, Fernseher, Computer, Blechdosen, Stühle, Flaschen, Kabel. Der Müll kracht und knistert unter den Schuhen, hier und da wachsen Pflanzen aus dem Durcheinander.

    Müll gibt es hier von jeder Sorte.
    Müll gibt es hier von jeder Sorte. (Dirk Gebhardt)
    Eine Deponie so groß wie zwei Fußballfelder
    "Schauen Sie mal, das da werden Kürbisse. Die kommen aus dem organischen Müll der Haushalte", sagt George. Er ist ratlos. Marcos auch. "Ich finde das sehr bedrückend. In den Dörfern ist heute alles sauber und ordentlich. Und das liegt daran, dass der ganze Müll hier landet."

    Die Deponie ist so groß wie zwei Fußballfelder und dürfte nach Auskunft der Wanderführer bis zu zehn Meter tief sein. Die Insulaner nennen den Ort nur "o lixão" (etwa: der Müllberg). Früher lagen hier kleine Teiche, die mit der Zeit zugeschüttet wurden. Heute gibt es nur noch an einer Ecke der Deponie einen Tümpel. Drinnen schwimmt - unter anderem - ein ziemlich großer Kühlschrank in Seitenlage.


    Marcos findet diese Stelle besonders scheußlich. "Wenn es regnet, läuft der Tümpel über und das Wasser fließt direkt hinunter in den Regenwald." George wird uns später 500 Meter weiter eine Quelle zeigen, aus der die Menschen früher tranken und Wasser zum Kochen und Waschen holten. Undenkbar heute, bei der Belastung, sagt George.



    Wir hören einen der Trecker kommen. Ein Fahrer, zwei Müllmänner, ein Anhänger. Der Trecker bringt Abfall aus Cova da Onça im Süden der Insel - und der Fahrer kippt ihn vor unseren Augen mitten in den kleinen Tümpel. Der Mann ist sich dessen vollkommen bewusst: "Es ist merkwürdig", sagt er, "dass wir unseren eigenen Müll hierher bringen und die Umwelt verschmutzen. Aber es gibt keine andere Lösung."

    Verseuchtes Grundwasser?
    Früher lagen hier Teiche - heute gibt es nur noch einen Tümpel.
    Früher lagen hier Teiche - heute gibt es nur noch einen Tümpel. (Dirk Gebhardt)
    Die Müllkippen auf dem Archipel stehen auf der politischen Agenda des Präfekten. Im Interview spricht er darüber als erstes. Und das nicht ohne Grund: Ein brasilianisches Bundesgesetz verlangt bis Ende 2014, dass die Kommunen eine Lösung für das Problem der Inseldeponien finden. So könnte der neue Abfall in Zukunft auf das Festland gebracht werden. Nur: Was geschieht mit dem Müll, der seit Jahren in den Deponien vor sich hin gammelt? Schwer vorstellbar, die vielen Tonnen herauszuholen und ebenfalls von der Insel fortzubringen.

    Ein Wunsch des Präfekten ist es, die Mülltrennung zu kommerzialisieren, also das Recycling als Auftrag an Firmen oder Familien zu vergeben und einen neuen Wirtschaftszweig zum Leben zu erwecken. Doch Marcos und George sind skeptisch: Es habe schon zig Versuche gegeben, den Müll auf der Insel zu trennen, erzählt Marcos - zum Teil mit Unterstützung durch Gelder des Konzerns Petrobras. Alle waren sie erfolglos - meist, weil sie schlecht geplant waren und inkonsequent durchgeführt wurden.

    Nicht nur die Wanderführer, auch viele Bürger Boipebas sind besorgt. Es gebe zum Beispiel Hinweise darauf - so hören wir - dass stellenweise das Grundwasser auf der Insel schon verseucht sei. Zu belegen ist das nicht. Sicher ist aber: Eine lose Initiative von Inselbewohnern will das Bewusstsein für die Müllproblematik schärfen und die Politik zum Handeln bewegen. Beim Info-Abend auf dem Dorfplatz waren die Aktivisten dann aber fast unter sich.
    Boipeba 2013: Die Müllkippe der Insel bekommt man nicht so leicht wieder aus dem Kopf. Nur einen bringt das Thema nicht aus der Ruhe: den Gärtner Julio. Er besitzt ganz in der Nähe der Kippe einen großen Garten in Hanglage, mit 5000 Ananas- und Hunderten Maniok-Pflanzen. "Das Unkraut-Jäten dauert hier das ganze Jahr", sagt er und lacht. Und was ist mit "o lixão", der Müllkippe? Julio winkt ab: Kein Problem. "Mein Garten liegt ja oberhalb", meint er. "Darum kriege ich davon nichts mit."
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    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.
    Karte von Boipeba