Archiv


Der gute Mann und der Flüchtlingsjunge

In seinem neuesten Film nimmt sich der finnische Regisseur Aki Kaurismäki eines sozialen Problemthemas an: der schwierigen Lage von Flüchtlingen im französischen Le Havre. In seiner Hand entsteht aber kein sozial-realistisches Kino, sondern ein Märchenkino, betont Filmkritiker Rüdiger Suchsland.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Beatrix Novy |
    Beatrix Novy: Aki Kaurismäki hat unser Bild vom Finnischen an sich stark beeinflusst mit seinen nordisch schwermütig-kauzigen Filmen, die nicht jedermanns Sache sind, aber für fast jedermann Sprichwörtliches kreiert haben wie die Leningrad Cowboys. Heute startet sein neuester Film in deutschen Kinos, "Le Havre". Was man bei diesem Titel schon ahnen kann: Es geht um Flüchtlinge, um jene Ver- und Getriebenen, deren Schicksal Ariane Mnouchkine in bewegenden Theaterbildern fasste, oder man kann auch an den französischen Filmregisseur Philippe Lioret denken und seinen Film "Welcome". Ist Kaurismäkis "Le Havre" so etwas Ähnliches auf Kaurismäkisch? - Die Frage geht an Rüdiger Suchsland.

    Rüdiger Suchsland: Ja, das ist es wohl schon. Also man muss ganz klar sagen, es ist nicht das Kino, was man von Ken Loach oder Philippe Lioret kennt. Es ist eher schon so - und auch dafür ist der Ort Le Havre ganz wichtig -, das französische klassische Kino, das heißt das Vorkriegskino und Kriegskino von Marcel Carné, von René Clair, auch von Jean Renoir, an solche Filme kann man denken. Es gibt zahlreiche Referenzen zum Beispiel. Die Hauptfigur heißt Marcel wie Carné, seine Frau heißt Arletty wie die berühmte Darstellerin in den "Kindern des Olymp". Das heißt, es gibt eine ganz klare Referenz zu diesem Kino und dann zum französischen Kino der 50er-Jahre, und in Le Havre hat Marcel Carné mehrere Filme gemacht.

    Was wichtig ist stilistisch: Das ist ein Anti-Nouvelle-Vague-Kino. Kaurismäki, der ja schon mehrere Filme mit Jean-Pierre Leaud gemacht hat, mit dem berühmten Darsteller der Truffaut-Filme, der frühen, der hat Leaud diesmal wieder besetzt in der Rolle des einen großen Schurken, des missgünstigen verräterischen denunziatorischen Nachbarn dieser Hauptfigur, der dann irgendwann eben auch das Flüchtlingskind, was bei dem versteckt wird, verrät. Und das ist natürlich auch, wenn man so will, ein Kommentar. Das heißt, Kaurismäki macht sich filmisch eigentlich stark für die Gegner der Nouvelle Vague, er macht sich stark für so ein Märchenkino, was nicht wirklich an Realismus interessiert ist, und das merkt man auch an dieser Geschichte, die er erzählt, die ja eine sehr ...

    Novy: Es ist aber doch eine sehr aktuelle, also seit Jahren aktuelle und immer aktueller werdende Geschichte, die da erzählt wird. Also sie hat was mit der Realität zu tun!

    Suchsland: Ja, unbedingt! Also es ist eine Geschichte aus dem Herz unserer Gesellschaft, und natürlich legt Kaurismäki den Finger in die Wunde. Natürlich ist das ein engagierter Film, politisch und sozial engagierter Film. Er nimmt ganz klar Partei für die Flüchtlinge, in diesem Fall die afrikanischen Flüchtlinge, und man weiß ja auch, dass die Normandie der Ort ist, in dem die von der Regierung Sarkozy zum Teil in so lagerähnliche Unterkünfte gesperrt wurden.

    Es ist allerdings natürlich die Frage, wie er sie darstellt. Es ist ein sehr idealisiertes Bild. Man kann dann sagen, er ist ein humaner Filmemacher, der diese Flüchtlinge auch als Menschen zeigt, indem er sie schön fotografiert, indem sie ganz sauber sind, nicht dreckig, nicht zerlumpt, nicht hungrig. Auf der anderen Seite kann man auch das kritisieren und sagen, die wahre Lage der Flüchtlinge, die wird hier natürlich geschönt und bis zu einem gewissen Grat verschleiert. Also noch mal: Es ist kein sozial-realistisches Kino.

    Novy: Was ist dagegen zu sagen?

    Suchsland: Nichts! Es ist absolut nichts dagegen zu sagen. Für mich als Zuschauer, der jetzt schon eine ganze Reihe von Kaurismäki-Filmen auch gesehen hat, mir geht es ein bisschen so, dass ich es ein wenig langweilig finde. Die Tatsache, dass Kaurismäki sich mit Flüchtlingen beschäftigt, das ist etwas Neues. Aber im Grunde sind wir in diesem Kaurismäki-Kosmos drin. Die Realität der Flüchtlingslager wird in den Kaurismäki-Kosmos integriert, und ich persönlich finde, dass da nicht so viel Neues wirklich passiert. Man weiß, dass das sehr vorhersehbar ist. Ich glaube, ich möchte im Kino ein bisschen mehr provoziert werden, auch filmisch, ich möchte ein bisschen mehr Sachen sehen, die mir was Neues zeigen, was mich überrascht, was in irgendeiner Weise mir wirklich auch viel zu denken gibt, wenn ich aus dem Kino rausgehe.

    Novy: Wie wirkt der Film handwerklich?

    Suchsland: Ja, er ist sehr schön gemacht, er ist gut gespielt mit einer ganzen Reihe von Darstellern, die man aus vielen Kaurismäki-Filmen kennt. Er ist fotografiert in dem klassischen Stil, auch hier orientiert sich Kaurismäki an vor allem der französischen Klassik. Das heißt, es gibt einen fast quadratischen Bildschirm, keine Breitwand, es gibt Farben, die so diese Technicolor-, diese satten, diese etwas farblich intensivierten Farben sind. Die Kamera ist relativ ruhig. Gleichzeitig gibt es für Kaurismäki regelrechte Action-Szenen und es gibt auch so Slapstick-Momente. Es gibt ein paar Momente, wo man wirklich auch lachen kann, obwohl vieles ja trist ist, was Kaurismäki zeigt.

    Novy: Dies ist nach längerer Zeit wieder ein Film von Kaurismäki. Was verspricht er wohl für die Zukunft dieses Regisseurs? Kann man sich da eine Vorstellung machen?

    Suchsland: Ja! Ich denke, die letzten beiden Filme davor, die kamen auch bei der Kritik und auch bei den richtigen Fans nicht so supergut an, und was man schon merken kann, ist vielleicht, dadurch, dass er eben so ein aktuelles drängendes politisches Thema aufgreift, dass Kaurismäki auch selber gespürt hat, er muss neue Geschichten finden, gerade um seinem Stil treu bleiben zu können, dem formalen Stil. Und ich könnte mir vorstellen, dass Kaurismäki vielleicht weiter erzählt. Die meisten seiner Filme spielen ja auch in Finnland. Einer hat mal in den USA gespielt, einer in London und jetzt eben ist er in Frankreich. Also er versucht schon, sich auch räumlich, wenn man so will, ein neues Terrain zu erobern.

    Novy: Aki Kaurismäki, gelandet in Le Havre. Der Film läuft heute an. Und das war Rüdiger Suchsland.