Lange: Wie wird denn die Entwicklung in Afghanistan seit dem 11. September insgesamt beurteilt? Ist da immer noch ein allgemeines Gefühl der Befreiung, oder hat sich das gewandelt?
Hörstel: Nein, man hat hier eigentlich eher das Gefühl, dass man nicht so ganz frei ist, und die Menschen fühlen sich auch nicht frei genug, um mit mir zu sprechen. Zum ersten Mal seit 17 Jahren, seit ich in Afghanistan zu tun habe, reden die Menschen nicht offen in meine Kamera, auch wenn ich erkläre, dass ich nicht Amerikaner sei. Teilweise erst nach stundenlangen persönlichen Gesprächen öffnen sie sich, und dann wird allerhand Kritik gegenüber den Amerikanern und ihrer Verwaltung laut, und vor allen Dingen ihren Eingriffen in das, was die Afghanen als ihre Souveränität empfinden. Man hat außerdem nicht vergessen, dass durch das amerikanische Bombardement zur Verjagung der Taliban-Herrschaft immerhin etwa 10.000 Zivilisten wohl gestorben sind, und das haben die Amerikaner billigend in Kauf genommen, und das macht das Ganze für Afghanen sehr schwierig. Sie waren damals dagegen. Sie haben dann zugeschaut, als die Truppen hier im Land waren, wie sich dann auch entwickelt, und jetzt ist der Kredit aufgebraucht, und demnächst wird es blutig.
Lange: Wie sieht denn so ein Durchschnittsalltag im Moment aus? Wie und wovon leben die Leute?
Hörstel: Die Leute haben ein außerordentlich karges Leben. Der Kampf ums Dasein ist ganz hart. Es gibt fast nichts. Das Allermeiste in diesem Land ist einfach kaputt, und trotzdem schaffen sie es, freundlich und fröhlich zu sein. Das ist tatsächlich ein Wunder, und dass man als Ausländer, zumal westlicher Verbündeter der Amerikaner, so aufgenommen wird, wie das bei mir passiert, ist auch nicht ganz leicht, eigentlich erstaunlich. Aber irgendwie kommen sie immer über die Runden. Sie sind ja außerordentlich zäh, findig und sehr genügsam.
Lange: In den letzten Tagen - Sie haben das gerade ein bisschen angedeutet - gab es schwere Rückfälle. Die Anschläge, einmal auf einem Markt in Kabul und dann auf den Präsidenten Karsai in Kandahar. Was sagt das aus über die Stärke der restlichen Taliban und der El Quaida-Strukturen? Wie intakt sind sie noch?
Hörstel: Man muss dazu sagen, dass sehr viele Taliban unter der Bevölkerung leben. El Quaida war ja zahlenmäßig nicht so stark und hat auch mit den Taliban klare Verluste erlitten, aber damit ist das Rückgrat keineswegs gebrochen. Die große Masse dieser Leute hält sich weiter im Land auf und ist intakt. Dazu kommt, dass der Islamismus, die islamistische Bewegung wesentlich größer ist als die Taliban. Das Einzugspotential für mögliche Kämpfer gegen ausländische Truppen ist viel größer als das, was die Taliban aufzubieten haben, und inzwischen reicht ja die Kritik gegen die Amerikaner bis in deren alte Freundeskreise, also die Freunde und Anhänger des Königtums, hinein, und das macht es so schwierig, weil die Kritik jetzt eben unisono kommt.
Lange: Karsai ist offenbar immer noch nicht viel mehr als ein Oberbürgermeister von Kabul. In den letzten Tagen gab es Kämpfe im Osten von Afghanistan um die Vorherrschaft. Wer kämpft da gegen wen und um was?
Hörstel: Der Stamm der Sadran, der im Süden von Khos lebt, und der auch bekannt ist, unter seinem Oberherrscher Vadjahan kämpft hier gegen den von Kabul eingesetzten und auf dem Gebiet machtlosen aber persönlich sehr netten und anständigen Gouverneur Tanihual. Die beiden haben sich in den letzten Tagen Kämpfe geliefert, die Vadjahan offenbar verloren hat. Wenn es nicht der Fall gewesen wäre, hätte es auch sehr ernst ausgesehen. Heute gab es ein Feuerüberfall auf amerikanische Stellungen bei Khos. Diese Kämpfe gibt es schon seit den Russen, und es ist eigentlich nichts anderes als ein Kombinationspunkt von Kritik an den Amerikanern und an von Kabul eingesetzten Strukturen. Dass das jetzt militärisch noch gut geht, sagt gar nichts aus über die Zukunft, und Karsai wird von den Afghanen heruntergestuft vom Oberbürgermeister Kabuls zum Beherrscher seines eigenen Stuhls. Diese Aussage habe ich hier unter hohem Gelächter mehrfach hören müssen, und das ist ein unangenehmes Gefühl, wenn man bedenkt, wie stark Karsais Stellung in den westlichen Medien ist. Das hat mit seiner Stellung im Lande faktisch nichts zu tun, es ist eine völlig abgekoppelte Sichtweise.
Lange: Osama Bin Laden ist ein Jahr nach den Anschlägen noch nicht gefasst. Wo wird er zur Zeit vermutet?
Hörstel: Es gibt Vermutungen, er sei in Afghanistan. Es gibt Vermutungen, er sei in Pakistan. Es gibt auch Vermutungen, er sei ganz woanders im Leben im Luxus. Diese Spekulationen sind alle eigentlich müßig. Interessant ist nur, dass er bisher nicht gefunden wurde. Und die Frage ist: Warum nicht? Weil gleichzeitig hier immer mehr die Informationen durchsickern, dass die Amerikaner nicht mit letzter Kraft versuchen, alle diese Leute aufzufinden, so dass man hier Eindruck gewonnen hat, dass die Amerikaner diese Kräfte auch nicht auftreiben wollten, weil das ihr Verbleiben im Land mit Truppen rechtfertigt, ungefähr so wie das Verbleiben von Saddam Hussein im Amt das Verbleiben amerikanischer Truppen in Kuwait und Saudi-Arabien rechtfertigt.
Lange: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio