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'Der Kanzler will weiterhin eine rot-grüne Koalition'

    Meurer: Heute stellt zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Kanzler die Vertrauensfrage. Die Entscheidung erfolgt in namentlicher Abstimmung. Der Ablauf: die Saaldiener werden die Urnen aufstellen, in welche die Abgeordneten ihre Stimmkarte einwerfen, eine blaue Karte für Ja, eine rote für Nein, weiß steht für Enthaltung. 666 Abgeordnete sitzen im Bundestag. Die erforderliche Kanzlermehrheit: sie beträgt 334. Nur sechs Neinstimmen aus dem eigenen Lager kann sich die Koalition leisten, nachdem gestern eine Abgeordnete die SPD-Fraktion verlassen hat. Am Telefon in Berlin begrüße ich nun Franz Müntefering, den SPD-Generalsekretär. Guten Morgen Herr Müntefering!

    Müntefering: Guten Morgen Herr Meurer.

    Meurer: Was erwarten Sie heute von der Abstimmung?

    Müntefering: Eine Kanzlermehrheit und damit auch eine klare Entscheidung für Gerhard Schröder, für Rot-Grün und für das Mandat zur Bekämpfung des Terrorismus.

    Meurer: Sie sind ganz sicher, dass die SPD-Fraktion geschlossen mit Ja stimmen wird?

    Müntefering: Nachdem Frau Loercher ausgeschieden ist, was wir bedauern, ja, Einstimmigkeit bei uns.

    Meurer: Es gibt ziemlich heftige Kritik gerade an Ihnen, Herr Müntefering. Haben Sie zum Beispiel Frau Loercher aufgefordert, ihr Mandat niederzulegen?

    Müntefering: Nein, das hat gestern der Landesvorstand der SPD in Baden-Württemberg gemacht. Sie ist über die Landesliste in den Bundestag eingerückt. Sie hat einen guten Namen, aber sie weiß selbst und wir alle wissen, ohne dass die SPD dahinter gestanden hätte wäre sie nicht in den Deutschen Bundestag gekommen. Also hat man nach langen Diskussionen, nach vielen Tagen Diskussionen gestern im Landesverband Baden-Württemberg darüber gesprochen und hat sie gebeten, ihr Mandat der Partei zu geben, damit abgestimmt werden kann im Sinne der Vertrauensfrage. Das wollte sie aber nicht und ist dann aus der Fraktion ausgeschieden.

    Meurer: Ist das vom Landesvorstand legitim, sie zu bitten?

    Müntefering: Ja, das ist sicher legitim.

    Meurer: Das verstößt nicht gegen Artikel 38, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten?

    Müntefering: Nein, sie kann sich doch entscheiden. Es zwingt sie ja keiner. Aber man muss doch sehen, es gibt auch ein Gebot der Fairness gegenüber der eigenen Partei. Wenn ich in eine Partei hineingehe, wenn ich mit ihr Bundestagswahlen gewinne, wenn ich in den Deutschen Bundestag komme, dann wird das normalerweise immer so gehandhabt, dass in den Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen und in der Fraktion sich die Meinung in der Sache herausbildet. Da ist es legitim, bei der Minderheit zu sein, aber wenn die Fraktion dann entschieden hat, dann ist es üblicherweise so, dass alle mitstimmen, damit man auch die Regierungsmehrheit hat. Anders kann Politik ja gar nicht funktionieren. Darüber muss man dann auch miteinander reden können und streiten können. Entscheiden kann sich jeder wie er will; er muss dann auch die Konsequenzen tragen.

    Meurer: Haben Sie ähnlich wie bei der Mazedonien-Abstimmung durchblicken lassen, dass es eine Listenaufstellung gibt und diejenigen, die abweichen könnten, das berücksichtigen müssen?

    Müntefering: Wir haben alle dazugelernt und wir haben in diesem Prozess in den letzten Wochen sehr darauf geachtet, dass wir miteinander diskutierten, offen und intensiv. Alle die damals mit Nein gestimmt haben, haben bei uns erfreulicherweise gesagt, wir machen nicht wieder den Fehler, eine frühe Festlegung, sondern wir warten ab, wie die Dinge sich entwickeln, wie die Argumente zu setzen sind, welche Entwicklungen da sein werden. Das hat uns in den letzten Tagen und Wochen befähigt, uns aufeinander zu zu bewegen und jetzt zu einem guten Ergebnis zu kommen.

    Leider haben sich bei den Grünen nicht alle daran gehalten. Es gab Ende der letzten Woche dann acht, die plötzlich mitteilten, definitiv nach draußen, und sie sind nun absolut überzeugt, mit Nein stimmen zu müssen. Also mussten wir das in Bewegung setzen, was jetzt geschieht.

    Meurer: Selbst wenn der Kanzler heute die Vertrauensabstimmung gewinnt, wie stabil ist die Koalition wirklich dann noch in den nächsten Monaten?

    Müntefering: Es ist eine neue Chance. Das was heute entschieden wird ist die Entscheidung für Gerhard Schröder, dann auch für Rot-Grün und für das Mandat in Afghanistan und gegen den Terrorismus. Wir werden unseren Parteitag in der nächsten Woche ganz sicher nutzen, die Möglichkeiten von Rot-Grün zu verdeutlichen und dafür zu sorgen, dass wir in das Wahlkampfjahr hinein - im Herbst ist ja dann Bundestagswahl - den Menschen noch mal deutlich machen, nicht nur das was wir getan haben, sondern vieles andere auch, was vor uns ist, ist dringend nötig und diese Koalition ist gut für das Land: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitnehmerrechte, Familienpolitik, Kindergeld, Atomausstieg und vieles andere ist noch zu tun.

    Meurer: Will Gerhard Schröder wirklich noch Rot-Grün, oder liebäugelt er nicht doch insgeheim mit Neuwahlen?

    Müntefering: Nein, er will Rot-Grün. Er hat das ausdrücklich noch mal deutlich gemacht. Er hat sogar auch schon deutlich gemacht, dass wenn die Wählerinnen und Wähler uns die Möglichkeit geben wir diese Koalition über 2002 hinaus fortsetzen müssen. Aber er braucht dazu auch das Vertrauen. Es geht nicht, dass man sagt, wir möchten mit dir als Bundeskanzler regieren, aber wir sind nicht bereit, dir auch das Vertrauen zu geben. Deshalb muss die Sache nun schlichtweg entschieden werden.

    Meurer: Müssen Sie im Fall der Fälle, falls es klappt, doch noch einmal den Atem anhalten beim Parteitag der Grünen in einer Woche?

    Müntefering: Beim Parteitag der Grünen?

    Meurer: Ja.

    Müntefering: Ich gehe mal davon aus, dass der Bundesvorstand und der Fraktionsvorstand der Grünen, die sich jetzt ja alle engagieren, dort auch die Meinung der Partei zu einem Ja bringen können. Die Ereignisse und Entwicklungen in Afghanistan machen das vielleicht auch ein bisschen leichter. Alle die in den letzten 14 Tagen die Unterbrechung der Aktivitäten in Afghanistan wollten, weil sie so kluge Militärstrategen waren, die müssen sich heute doch fragen lassen, war denn das vielleicht nicht doch richtig, was die Amerikaner dort gemacht haben, denn die Chancen der humanitären Hilfen sind dort deutlich verbessert. Die Menschen freuen sich, die Kinder können wieder Musik hören. Das ist noch nicht alles. Es geht darum, Bin Laden zu erwischen und das Verbrechernetz dort zu stoppen, aber ich finde die Bilder, die wir von dort bekommen, sind schon eine ganze Menge.

    Meurer: Nehmen wir einmal an, Herr Müntefering, es kommt doch nicht eine Mehrheit zu Stande, wird dann der Bundeskanzler heute noch zurücktreten?

    Müntefering: Damit wäre die Koalition zu Ende. Damit wäre die Anrufung des Bundespräsidenten nach Artikel 68 gegeben. Der müsste sich innerhalb von 21 Tagen dann dazu äußern und entscheiden, ob es Neuwahlen gibt. Das wird heute Mittag unmittelbar nach der Abstimmung bei uns im Präsidium erörtert werden können, wenn es denn nötig ist. Ich glaube nicht.

    Meurer: Also Sie glauben nicht, dass er zurücktritt im Fall der Fälle?

    Müntefering: Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ich glaube, dass wir 334 Stimmen Plus haben, also dass die Kanzlermehrheit da sein wird.

    Meurer: Der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering heute Morgen im Deutschlandfunk. - Schönen Dank Herr Müntefering!

    Link: Interview als RealAudio