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Der Kirschgarten wird zum Kitschgarten

Es sind historische Stoffe, die den französischen Komponisten Philippe Fénelon zu seinen Opern inspirieren. Jetzt hatte "La Cerisaie" nach Anton Tschechows "Kirschgarten" Premiere an der Pariser Opera Garnier, doch die Musik war vielen Zuhörern zu anachronistisch.

Von Frieder Reininghaus | 28.01.2012
    Uraufführungen großformatiger Opern fanden in der französischen Hauptstadt seit 20 Jahren mit schöner Regelmäßigkeit in der Opéra Bastille statt - "Melancholia" von Georg Friedrich Haas erschien als Ausnahme. Doch die Premiere "La Cerisaie" - "Der Kirschgarten" - wurde neuerlich in die alte Prunkburg, das Palais Garnier zurückverlegt. Vielleicht findet der Generaldirektor der Pariser Musiktheater, Nicolas Joel, ja auch das Ambiente rund um die Opéra Bastille so verranzt, dass er es den Premierengästen nicht zumuten möchte.

    Es sind ja nicht nur die Bauzäune, die zugeklebten Fenster - zum Beispiel einst auratischer Lokale wie des "Café français" - und andere unfeine Zeichen der spekulativen Umgestaltung der Stadt, die die schöne Aussicht beim Anmarsch einschränken. Mehr noch dürften es die deutlich vermehrten Zeichen des Elends beim Nachhauseweg sein. Die Telefonzellen, die es auf der Place de la Bastille noch gibt, waren jetzt jedenfalls völlig überbelegt mit Übernachtungsgästen - die Gitterroste, durch die leicht vorgewärmte Luft aus den Metroschächten dringt, ohnedies.

    Von Dekadenz, Niedergang und Perspektivlosigkeit handelt auch "Der Kirschgarten" von Anton Tschechow. Es ist ein Schauspiel, aus dem die Hohlheit einer überlebten Kaste und die Leere des unerfüllten Männer- und Frauendaseins gähnt. Ein Stück, das einst sozialen und politischen Oppositionsgeist eher dadurch entwickelte, was es wortreich nicht sagte.

    Nachdem bereits Rudolf Kelterborn vor drei Jahrzehnten dem reduzierten Tschechow-Text eine "gemäßigt moderne" Musik zuschrieb - seine Oper kam 1984 in Zürich heraus -, hat Philippe Fénelon ihr eine Tonspur zugedacht, die noch moderater modern ausfiel. Seine Partitur liest sich wie ein Eintopf verschiedenster Schreibweisen, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ost- und Westeuropa von meist akademisch angebundenen Komponisten gepflegt wurden.

    Georges Lavaudant zeigte die Geschichte der von einer Amoure aus Paris zurückgekehrten Witwe Liouba, der Elena Kelessidi reifes stimmliches und Lebensformat verleiht, gerahmt von altem Baum-Material: Dicht zusammengewachsen sind die roh gestalteten Stämme, ihre Äste und Luftwurzeln eng verschlungen wie bei manchen Urwaldriesen - an Kirschholz oder gar zarte Kirschblüte erinnert nichts.

    Im groben Baum-Expressionismus und der neureichen Kostümpracht, wie er an osteuropäischen Theatern der 1970er-Jahre die Geschmacksträgerschicht erfreut hätte, will Liouba nicht realisieren, dass sie ihr Gut mitsamt dem Kirschgarten an den Parvenü Lopachin verkaufen musste. Mit der sonoren Stimme von Igor Govolatenko verliert dieser sich ebenso in Erinnerungen wie die Familienmitglieder und die Repräsentanten des Personals. So reiht sich Traum an Traum.

    Die Frauenchöre sind dabei die musikalisch biedersten. Selbst auf der Erinnerung an die Liebesglut in Paris scheint Mehltau zu liegen. Die Intensität und Plausibilität der Partitur, die Philippe Fénelon vor 15 Jahren zu Flauberts "Salammbô" komponierte, erzielt Cerisaie nicht ansatzweise. Komponist und Regisseur haben aus dem Kirschgarten einen Kitschgarten gemacht.

    Tito Ceccherini nahm das die verschiedensten Facetten der Musik vorzüglich bedienende Orchester der Pariser Oper in die Pflicht, das in großer Besetzung anzutreten hatte für diese "Erinnerungsarbeit" an das alte Russland, das angeblich so traulich und so schön gewesen sei. Womöglich hat bei diesem Projekt die Idee eines politischen Brückenschlags stark mitgewirkt. Bereits Ende 2010 war Fénelons Kirschgarten-Musik am Bolschoi-Theater in Moskau gegeben worden.

    Der Beifall für den Komponisten Philippe Fénelon gestern in Paris und für die Produktion war, wie die Formel lautet, höflich - also kurz und nur wenig beeinträchtigt von Gegenstimmen. Aber das heißt nicht, dass das Werk als "gelungen" oder auch nur als "auf der Höhe der Zeit" irgendwie bedeutsam angesehen werden kann. Nicht nur deutsch-österreichisch geprägten Ohren kam das musikalische Gebräu anachronistisch vor - auch etliche Franzosen stöhnten in der Pause oder äußerten sich nach Vorstellungsschluss bissig, auch über den Regisseur, der "doch schon vor mehr als zehn Jahren hätte pensioniert werden" sollen.

    Gerade wenn man die Auffassung nicht teilt, dass an deutschem Wesen die Welt genesen und das mitteldeutsche Regie-Berserkertum der einzig selig machende Zugang zum Theatermachen sein soll, offenbart die neueste Pariser Premiere eine bedenkliche Entwicklung: das Historische wird hier musealisiert und das Neue gefriergetrocknet. Das ist jammerschade.