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Der Landesvater Baden-Württembergs

"Ein Bürgermeister hat mehr Gestaltungsmöglichkeiten als mancher Minister", sagt Erwin Teufel, auf seine politisch aktive Zeit zurückblickend: Im Alter von 25 Jahren wurde er - bundesweit als Jüngster - Bürgermeister von Spaichingen, 1991 Ministerpräsident Baden-Württembergs. Nach einer 14-jährigen Amtszeit schied er 2005 als dienstältester Landesvater aus dem Amt.

Erwin Teufel im Gespräch mit Günter Müchler |
    Erwin Teufel. Geboren 1939 in Rottweil, Schwarzwald, Sohn eines Bauern. Mittlere Reife und Verwaltungsfachschule. Eintritt in die CDU 1956. 1961 Regierungsinspektor am Landratsamt Rottweil. 1964 Bürgermeister von Spaichingen. Jüngster Bürgermeister in der Bundesrepublik. 1972 Landtagsabgeordneter für den Wahlkreis Villingen-Schwenningen als Nachfolger von Lothar Späth ab 1978 und von da an 13 Jahre lang Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg.

    1991 nach Späths Ausscheiden infolge der Traumschiff-Affäre Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Von 1992 bis 1996 Chef einer Koalitionsregierung aus CDU und SPD. Von vielen beinahe abgeschrieben. Triumphaler Wahlerfolg 2001 über die junge SPD-Herausforderin Ute Vogt. 2006 als damals dienstältester Ministerpräsident Abschied von der Politik.


    "Erwin Teufel: Ich habe keinen Professor der Hochschule für Philosophie gekannt, aber ich habe alle gekannt aus Veröffentlichungen."

    Der Staatsmann als Student

    Günter Müchler: Herr Teufel, wenn ein Politiker Ihres Ranges aus dem Amt ausscheidet, dann in der Regel, um ein hochdotiertes Amt, um einen hochdotierten Posten in der Wirtschaft zu übernehmen. Sie haben das ganz anders gemacht. Als Sie im Alter von 66 Jahren 2005 ausgeschieden sind, haben Sie sich in einen philosophischen Hörsaal gesetzt. Warum das?

    Erwin Teufel: Ich hatte das lange Zeit vor, mit den ersten 130 D-Mark, die ich verdient habe, habe ich mir sechs Monatszeitschriften abonniert und die habe ich jetzt alle im 50. Jahr und ich habe sie alle auf meinem Laptop. Ich habe also ein Leben lang, im letzten Winkel meiner Zeit, gelesen. Und darunter auch sehr viel Philosophisches, Theologisches, aber auch Geschichtliches.

    Und mit meiner Frau war ich mir einig, wenn ich aus diesem Amt scheide, kann ich nicht von 150 Prozent politischer Gestaltung auf 30 Prozent zurückgehen, dann muss ich was völlig anderes machen. Natürlich war das bedingt, wie ich gesundheitlich aus dem Amt herauskomme. Aber zehn Jahre war das klar, es wusste allerdings nur meine Frau davon und ich habe es keine Stunde bereut. Ich habe keinen Professor der Hochschule für Philosophie gekannt, aber ich habe alle gekannt aus Veröffentlichungen.

    Müchler: Ja. Ein Lebenstraum, den Sie sich erfüllt haben?

    Teufel: Ja.

    Müchler: Ich habe neulich ein Büchlein von Ihnen gelesen, das heißt "Maß und Mitte". Und diesem Büchlein ist ein Zitat des Philosophen Karl Popper vorangestellt. Popper sagt dort, bezogen auf die Politik, "die Grundeinsichten in der Politik sind ganz einfach." Das ist eine Aussage, die vorangestellt über ein Buch, das ein Politiker geschrieben hat, die etwas überrascht. Warum ist Politik so einfach?

    Teufel: Sie ist leider gar nicht einfach. Und noch schlimmer ist, dass die Politiker inzwischen wie die Ärzte, wie die Naturwissenschaftler eine Fachsprache sprechen. Aber das finde ich, ist in der Politik eine Katastrophe. Denn Politik richtet sich an die Menschen jeglichen Berufes und ist darauf angewiesen, dass sie verstanden wird.

    Und deswegen sagt Popper im ersten Satz, den ich zitiere, "die Probleme sind alle sehr schwierig." Und das gilt für die internationalen Probleme und das gilt für die großen nationalen strittigen Fragen. Aber er fügt hinzu, "die Grundeinsichten sind ganz einfach." Und deswegen meine ich, wir müssen in ein einer Sprache, die die Menschen verstehen, mehr über die Grundeinsichten sprechen, denn über die ungeheuer komplizierte Probleme, so dass wir tatsächlich von den Menschen verstanden werden.

    Müchler: Haben wir zu viel Fachwissen, zu viel Wunsch nach Expertise in der Politik? Sind die Politiker, die ja heute meistens Berufspolitiker sind, nicht mehr in der Lage, die Sprache des Volkes zu sprechen?

    Teufel: Ich glaube, dass wir ohne Spezialisierung, ohne Arbeitsteilung überhaupt nicht auskommen. Jeder Mensch ist Spezialist in seinem Beruf. Aber jeder spricht auch eine Fachsprache. Und wenn Politiker eine Fachsprache sprechen, ich sage es noch mal, dann werden sie nicht mehr verstanden. Und deswegen müssen Politiker Übersetzungsarbeit leisten, damit sie verstanden werden. Darum geht es mir. Zusammenhänge erklären können, argumentieren können und dies ohne Fremdwörter und in einer Reihenfolge, in einer Argumentationskette, dass sie von dem Menschen verstanden werden.

    "Teufel: Eine Generation zuvor war man noch bildungshungriger, als man es heute ist."

    Bildung lohnt sich immer

    Müchler: Herr Teufel, Sie stammen aus einfachen Verhältnissen. Sohn eines Bauern, mittlere Reife, Verwaltungsfachschule. Ihr erstes eigenes Geld haben Sie als Regierungsinspektor im Landratsamt Rottweil verdient. Was sagen Sie jungen Leuten, wenn Sie heute mit denen sprechen? Fleiß lohnt sich immer?

    Teufel: Das glaube ich schon. Bildung lohnt sich immer. Eigene Anstrengung muss sein. Man muss sich Fachwissen erwerben in einem Beruf. Aber man sollte auch noch über den eigenen Beruf hinausschauen. Ich habe immer Termine bei Oberstufen angenommen, auch bei Berufsschulen angenommen, auch bei Studentenverbindungen angenommen.

    Und wenn ich gefragt worden bin, so wie Sie jetzt fragen, was sollen wir denn eigentlich machen, es waren in der Regel politisch interessierte Leute, dann habe ich gesagt, sobald ihr es finanziell machen könnt, eine gute Tageszeitung, eine gute Wochenzeitung und eine gute Monatszeitschrift, das halte ich für unumgänglich.

    Müchler: Heute neigt man ja dazu, alles grau in grau zu malen, auch was die Bildungschancen, die Möglichkeiten aufzusteigen angeht, obwohl heute mit Sicherheit sehr viel mehr Geld für das Bildungssystem ausgegeben wird, als dass bei Ihnen, in Ihrer Zeit der Fall war. Woran liegt das, diese Verdrossenheit, das Sich-nichts-mehr-Zutrauen?

    Teufel: Noch nie hatte eine junge Generation so viele Bildungschancen wie die heutige junge Generation. Es wird ihr fast nachgeworfen, vielleicht ist das der Grund. Die letzte Generation war noch etwas hungriger auf Bildung. Vielleicht ist das auch der große Vorsprung heute, wenn man Indien oder China geht. Wobei ich gerne zugebe, dass das, was ich jetzt sage, sehr verallgemeinert ist. Es gibt ja nicht die junge Generation, so wenig wie es die ältere Generation gibt. Aber ich glaube, eine Generation zuvor war man noch bildungshungriger, als man es heute ist.

    Auch für die Lehrer gilt natürlich, dass sie die wichtigste Aufgabe darin haben, junge Menschen zu motivieren, dass sie lernen und dass sie ein Leben lang lernen und dass sie die Aufgabe haben, Zusammenhänge darzustellen. Auch Lehrer werden heute als Spezialisten ausgebildet, zwei, drei Hauptfächer. Das muss sein. Eine wissenschaftliche Ausbildung des Lehrers muss sein. Aber dass er pädagogische Fähigkeiten mitbringen muss, dass das mindestens so wichtig ist, ist keine Frage. Natürlich haben wir auch immer über den Satz gelacht: "Non scholae, sed vitae discimus! Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir!" Das begreift man eigentlich erst außerhalb der Schule. Aber dennoch, den Inhalt des Satzes muss man vermitteln in der Schule.

    "Teufel: Ein Bürgermeister hat mehr Gestaltungsmöglichkeiten als mancher Minister."

    Der jüngste Gemeindevorstand

    Müchler: 1964 sind Sie Bürgermeister geworden, Ihr erstes Wahlamt in Spaichingen. Sie waren damals der jüngste Bürgermeister in der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Früher waren Bürgermeister wichtige Mandatsträger in den Landtagen, auch im Bundestag. In den meisten Bundesländern gibt es inzwischen die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat. War die Durchsetzung dieses Grundsatzes nicht ein Fehler?

    Teufel: Zunächst möchte ich Ihnen recht geben, dass das Amt des Bürgermeisters immer kraftvolle Persönlichkeiten angezogen hat, zumindest in den süddeutschen Ländern, wo ja die Ämter des Bürgermeisters und des Stadtdirektors in einer Hand waren. Inzwischen ist dieses Modell auch in Norddeutschland eingeführt worden.

    Das zieht kraftvolle Persönlichkeiten an. Und selbstverständlich gibt es unter denen sehr viele, die auch qualifiziert sind für ein Landesparlament, für ein Bundesparlament, für eine Landesregierung. Ich habe es deswegen immer für falsch gehalten, um Ihre Frage präzise zu beantworten, dass man Bürgermeistern verwehren will, in ein politisches Parlament zu kommen, in einen Landtag, in einen Bundestag. Und um ehrlich zu sein, mich hätte niemand in den Landtag gebracht, wenn ich das Amt des Bürgermeisters hätte aufgeben müssen. Ich musste es dann praktisch aufgeben, weil ich schon ab dem ersten Tag in der Zugehörigkeit zum Landtag in die Landesregierung berufen worden bin. Das ist klar, dass man es dann nicht nebeneinander machen kann.

    Aber ich sage Ihnen, ein Bürgermeister hat mehr Gestaltungsmöglichkeiten als mancher Minister. Und deswegen leicht würde man ein solches Amt nicht aufgeben. Ich war Fraktionsvorsitzender. Ich habe erlebt, wie stark die Stellung der Bürgermeister in der Fraktion gewesen ist, einfach durch ihren täglichen Kontakt mit den Menschen und mit den Problemen, die die Menschen berühren und auch mit ihrer Kompetenz. Natürlich könnte ein Landtag nicht 30 Bürgermeister verkraften, aber fünf, sechs sind ein großer Gewinn für ein Parlament. Gott sei Dank gibt es die Möglichkeit noch in Baden-Württemberg, aber auch bei uns denkt man daran, eine Unvereinbarkeit herzustellen.

    Müchler: Und das hielten Sie für einen Fehler?

    Teufel: Ja, ich habe es immer für einen Fehler gehalten und ich habe es auch immer verhindert, sowohl als Fraktionsvorsitzender wie als Ministerpräsident. Aber den Einfluss habe ich heute nicht mehr, und ich werde ihn auch nicht geltend machen.

    Müchler: Wie kommt das eigentlich? Ist die kommunale Selbstverwaltung, die in Deutschland, in weiten Teilen Deutschlands jedenfalls, immer als wichtige Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung in der Demokratie gehalten wurde, das geht ja zurück bis auf die Steinsche Städteordnung, kann man sagen, dass die kommunale Selbstverwaltung, was ihr Ansehen angeht, auf dem absteigenden Ast ist?

    Teufel: Glaube ich eigentlich nicht. Sondern ich sehe die Ursache wo ganz anders, dass man nämlich heute in vielen Fällen direkt von der Universität in ein Mandat kommt, in den Bundestag, in den Landtag. Ich habe auch jetzt bei der Aufstellung, bei der Nominierung wieder die Erfahrung gemacht, da kommt ein Handwerksmeister, ein gestandener Handwerksmeister auf 47 Prozent. Aber er schafft es letztlich mit 53 Prozent im zweiten Wahlgang, der Junge, der noch relativ sehr nahe an der Hochschule ist.

    "Teufel: Daran habe ich versucht, mich zu orientieren, an einzelnen Persönlichkeiten, die aufrecht durch die Diktatur gegangen sind."

    Der aufrechte Gang

    Müchler: 1956 sind Sie der Jungen Union und der CDU beigetreten. Damals waren Sie 17 Jahre alt. Der Parteivorsitzende der CDU hieß zu dieser Zeit Konrad Adenauer und war 80 Jahre alt. Heute schwer vorstellbar, dass von einem solchen Patriarchen eine Anziehungskraft auf junge Leute und ihr Engagement ausgegangen ist.

    Teufel: Ich habe ihn als 16-Jähriger schon kennengelernt, als ich mit einer großen Gruppe katholischer Jugend aus meiner Heimat nach Bonn gefahren bin und wir hatten ein Gespräch mit Adenauer. Wissen Sie, was faszinierend war an diesem Mann? Dass er diese Bundesrepublik Deutschland nach Westen orientiert hat. Und das war ja nicht nur eine geografische Orientierung nach Westen, sondern das war eine Orientierung hin zu den freiheitlichen Rechtsstaaten des Westens. Die Deutschen sind ja nicht nur eine verspätete Nation, wir sind auch eine verspätete Demokratie, ein verspäteter Rechtsstaat.

    Nie wussten die Deutschen, wohin sie gehören. Wir haben uns immer wechselnden Allianzen angeschlossen und es haben sich Gegenallianzen gebildet. Und unsere Nachbarn wussten nicht, woran sie sind. Und nun diese Orientierung nach Westen. Die europäische Einigung. Die Versöhnung mit Frankreich. Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika.

    Das hat doch der jungen Generation, die in ein Trümmerfeld hineingewachsen ist, überhaupt nur Hoffnung gegeben. Und das Zweite, warum wir den aufrechten Gang noch gehen konnten, war der Widerstand im Dritten Reich und auch daran habe ich versucht, mich zu orientieren, an einzelnen Persönlichkeiten, die aufrecht durch die Diktatur gegangen sind, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben.

    Müchler: Es wird immer wieder gesagt und wahrscheinlich zu Recht, dass es an Vorbildern fehle. Die Männer und Frauen des Widerstandes gegen Adolf Hitler, aber auch solche, die Widerstand geleistet haben gegen die Kommunisten in der SBZ, in der DDR, die sind heute, nicht alle, aber doch fast alle, vergessen. Ist das nicht ein großer Fehler, ein großer Mangel der Erinnerungskultur in diesem Lande?

    Teufel: Schauen Sie, ich habe ein Leben lang versucht, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Wir haben in Baden-Württemberg eine Gedenkstättenarbeit systematisch begonnen und haben Gedenkstätten an Stellen des ersten KZs, an Stellen, wo zuerst sogenanntes lebensunwertes Leben, Geisteskranke verbrannt worden sind, oder auch an Stellen, wo Widerstandskämpfer gelebt haben, in Lautlingen, für Graf Stauffenberg. Aber auch für den Matthias Erzberger haben wir einem Dorf, auf der schwäbischen Alb sein Elternhaus gekauft, in dem er aufgewachsen ist und haben eine Gedenkstätte für diesen hervorragenden Mann eingerichtet, der hier ganz in der Nähe erschossen worden ist.

    Müchler: Einen ehemaligen Zentrumspolitiker der Weimarer Republik, der ermordet wurde.
    Teufel: So ist es. Ein großer Reichsfinanzminister und ein großer Friedenskämpfer, der ja mitten im Ersten Weltkrieg eine Mehrheit zustande gebracht hat für eine Friedensresolution im Deutschen Reichstag, die leider von der politischen Führung nicht beachtet worden ist. Und weil man ihn dann hingeschickt hat, den Waffenstillstand in Compiègne zu unterschreiben, haben ihn Rechtsradikale ermordet einige Monate später.

    Müchler: Es ist, Herr Teufel, noch nicht lange her, da wurde man, weil man einem bestimmten Milieu angehörte, quasi in eine Partei, in eine Parteirichtung hineingeboren. Das war, wenn ich das so salopp sagen darf, eine politische Rekrutierung durch die Gene. Das ist heute ganz anders. Muss man das bedauern, dass das heute anders ist?

    Teufel: Ich muss Ihnen sagen, ich bin zwar in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, aber nicht in einem politischen Elternhaus. Und ich erinnere mich sehr genau daran, dass ich während meiner Schulzeit an alle Jugendorganisationen der politischen Parteien, drei gab es damals, in Bonn geschrieben habe und Informationsmaterial angefordert habe. So von vornherein bin ich nicht geprägt gewesen, nur den Weg in die CDU zu nehmen.

    Es war vor allem die Beschäftigung mit dem Dritten Reich. Meine Mutter, eine einfache Bäuerin, aber eines sehr kluge Frau, hat mir Bücher gekauft, als ich zwölf, 13, 14, 15 Jahre alt war, von Widerstandskämpfern über Briefe, die sie an ihre Angehörigen geschrieben haben aus Plötzensee. Ich habe verschlungen, was es an Literatur gab zu diesem Thema. Das ist sicher einer der Motivationsstränge, warum ich hier in die Politik überhaupt gegangen bin.

    Dann hatten wir auch einen ausgezeichneten Abgeordneten, Bruno Heck, den späteren Generalsekretär und Bundesfamilienminister, der mein Talent für Politik in ganz jungen Jahren erkannt hat und mich auch gefördert hat. Und das ist eigentlich der Weg gewesen. Aber wahr ist natürlich, heute läuft das mit einer Stammwählerschaft nicht mehr von selbst, und damit wird aber die Verantwortung der aktiv politisch Tätigen für die, in Anführungszeichen, "Rekrutierung", für die Gewinnung von Nachwuchs, von Mitgliedern, von Anhängern, aber auch von Führungsnachwuchs, die wird damit immer größer. Und ich habe nicht den Eindruck, dass das sinnvoll im Umfang gesehen wird.

    Müchler: Haben Sie Achtung für Nichtwähler, für bewusste Nichtwähler?

    Teufel: Ich würde mit jedem Nichtwähler diskutieren und würde ihm sagen, es ist doch eine ganz große Chance, die sie haben, dass sie frei wählen können. Das gab es vor wenigen Jahren in der DDR nicht, das gab es vor wenigen Jahren bei uns nicht in der Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus. Ich würde sagen, sie brauchen nicht weniger als eine Viertelstunde in vier Jahren, so nahe ist das Wahllokal. Ich würde sagen, es wird Politik auf jeden Fall gemacht, ob sie wählen oder nicht. Es wird über sie Politik gemacht. Nutzen Sie die Chance, ich würde mit Max Frisch, dem Schweizer Schriftsteller, sagen, Demokratie heißt, sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischen. Deswegen habe ich wenig Verständnis für Nichtwähler.

    Aber ich kann mir sehr wohl einen Fall vorstellen, dass da eine ganze Liste ist von Persönlichkeiten, die man kennt und man bringt nicht die Kraft auf, nun einen von denen zu wählen, obwohl man oft auch das kleinere Übel wählen muss und nicht das, wovon man zu 100 Prozent überzeugt ist. Aber das halte ich für die Ausnahme. Und ich ärgere mich beispielsweise, wenn in Baden-Württemberg, wo wir immer noch höhere Wahlbeteiligungen hatten, ein Oberbürgermeisterwahl in einer Mittelstadt stattfindet und es ist eine Neuwahl, weil der bisherige nicht mehr kandidiert, und wir haben Wahlbeteiligungen von 30 und 35 Prozent. Das ist kein Ruhmesblatt, finde ich, für eine Stadt.

    "Teufel: Da ist klar, dass es am allerschwierigsten ist, Reformen, die den Namen Reform verdienen, in einer Großen Koalition zustande zu bringen."

    Die Angela-Merkel-CDU

    Müchler: Wir sprachen eben über die Adenauer-Zeit. Heute ist die CDU die Partei Angela Merkels. Die Mitgliederzahlen gehen in allen beiden Volksparteien drastisch zurück, bei der SPD vor allem, aber auch bei CDU und CSU. Da könnte man zu der Erklärung finden, dass es heute dann doch zu wenig Weltanschauung, der Angebote der Orientierung gibt von den großen Parteien. Gilt das nicht vielleicht sogar in besonderer Weise von der durch Angela Merkel geprägten CDU?

    Teufel: In der Zeit Angela Merkels ist ein Grundsatzprogramm verabschiedet worden, wo eine ganze Reihe von Freunden von mir, die aus den gleichen Quellen schöpfen, aus denen ich in die Politik gegangen bin, im Grundsatzteil erarbeitet haben, an dem ist, glaube ich, nichts auszusetzen.

    Aber die Bürger haben noch nie Grundsatzprogramme gelesen. Das sind die Wenigsten. Sondern man muss in der praktischen Politik spüren, dass da nicht nur Fachwissen am Werk ist, sondern auch Orientierungswissen am Werk ist, dass man ein Fundament hat, von dem aus man Politik macht, dass man selbstverständlich in der Politik Kompromisse schließen muss, dass Politik auch offen sein muss und dass man in einer Politik Mehrheiten schaffen muss, auf 51 zählen können muss, das ist die Voraussetzung in der Politik. Aber um Kompromisse zu schließen, muss man ja zuerst eine eigenen Standpunkt haben und einen eigenes Konzept haben, und das auch Überzeugung und mit Argumentationskraft vertreten können.

    Müchler: Ich will Sie jetzt gar nicht überreden, Kritik an der aktuellen CDU und ihrer Führung zu üben. Trotzdem, man sagt dem Politikstil von Frau Merkel nach, er sei kühl, er sei pragmatisch, sehr pragmatisch. Und auffällig ist ja auch, dass, obwohl die SPD im Moment ungefähr an der Talsohle des Ansehens angelangt ist, es der Union nicht gelingt, davon zu profitieren. Ist da nicht doch ein Defizit zu merken?

    Teufel: Zunächst muss ich sagen, aus wirklicher Überzeugung sagen, dass die Frau Merkel außenpolitisch eine sehr gute Figur macht.

    Müchler: Außenpolitisch?

    Teufel: Ja. Das höre ich auch in europäischen Hauptstädten, wo ich hinkomme, und das ist außerordentlich viel wert. Denn einer meiner Lehrmeister, Bruno Heck, hat einmal gesagt, fast kein außenpolitischer Fehler ist korrigierbar. Fast jeder innenpolitischer Fehler ist korrigierbar. Deswegen ist es nicht gering zu schätzen, dass das außenpolitische Koordinatensystem stimmt.

    Jetzt komme ich zur Innenpolitik. Da ist klar, dass es am allerschwierigsten ist, Reformen, die den Namen Reform verdienen, in einer Großen Koalition zustande zu bringen, weil die Großen immer im Clinch sind zueinander und nicht zu einem gemeinsamen Sprung nach vorne bereit sind, obwohl sie eine haushohe Mehrheit in beiden Kammern haben, im Bundestag und im Bundesrat haben, alle Chancen dafür hätten. Ich glaube, dass die Union da zu viel Fehler gemacht hat. Meine Erfahrung, ich habe auch einmal eine Große Koalition geführt, ist ganz simpel. Man braucht den Partner für alles, aber der Partner braucht einen selbst auch.

    Das heißt, man ist nicht gezwungen, etwas mitzumachen, was man als Fehler erkennt. Was passiert dann? Dann passiert nichts. Wenn nichts passiert angesichts des Reformbedarfs in deutschen Politik, der nach wie vor gegeben ist, dann ist das schlimm. Aber es ist besser, es geschieht ein paar Jahre nichts, als es werden eklatante Fehler gemacht.

    Müchler: Wären Sie erleichtert, wenn das Kapitel Große Koalition auf Bundesebene zu Ende ginge?
    Teufel: Ja. Ganz klar. Die Große Koalition muss der Ausnahmefalls sein. Ich habe immer so formuliert, es gibt nur zwei Gründe für eine große Koalition. Erster Grund Staatsnotstand. Den hatten wir Gott sei Dank noch nie. Zweiter Grund, es gibt keine andere Mehrheit. Dann muss selbstverständlich auch eine Große Koalition möglich sein. Dieses Situation war gegeben vor drei Jahren. Deswegen war ich der Meinung, dass die Große Koalition gebildet werden muss. Aber es muss der Ausnahmefall sein und darf nicht zum Regelfall werden.

    Und es war natürlich die Stärke der Bonner Republik im Unterschied zur Weimarer Republik, dass wir zwei große Volksparteien hatten, die allein oder mit einem kleineren Partner einander ablösen konnten. Das heißt, wenn die Bürger den Eindruck hatten in einem Land oder auf Bundesebene, es ist Zeit für einen Wechsel, dann hat der Wechsel von fünf, sechs Prozent der Wählerschaft in der Mitte von der einen Volkspartei zur anderen ausgereicht, um zu einem Regierungswechsel zu kommen.

    Müchler: Die CDU hatte früher ganz bedeutende profilierte Wirtschafts- und Finanzpolitiker auf der einen Seite, aber ebenso bedeutende Sozialpolitiker auf der anderen Seite. Heute findet man weder das eine noch das andere. Alles ist Mitte. Und Mitte ist nun einmal sehr unbestimmt. Wo müsste die CDU nach Ihrer Meinung mehr Profil zeigen?

    Teufel: Wenn die CDU, zehn, 15 Jahre keinen Außenminister, keinen Finanzminister, keinen Wirtschaftsminister mehr stellt, dann braucht man sich doch nicht zu wundern, dass da nicht Männer oder Frauen mit Profil für diese Aufgaben da sind. Dieses Profil gewinnt man nur partiell und unzureichend in der Opposition. Die Opposition beispielsweise kann keine Außenpolitik machen aus eigener Kraft.

    Ich glaube, dass die CDU viel zu lange auf diese Kernressource verzichtet hat, wenn sie in Koalitionen war und wir waren natürlich oft auch überhaupt nicht in einer Koalition, sondern waren in der Opposition.

    "Teufel: Ich denke selbstverständlich mit und nehme nicht alles als gottgegeben hin, was wirklich Menschenwerk ist und was reformiert und verbessert werden muss."

    Werte als Kompass

    Müchler: Ich komme wieder zurück auf das mehr Biografische. Es gibt andere Politiker, die ähnlich wie Sie aus kleinen Verhältnissen stammten, gewaltige Karrieren gemacht haben. Ich denke da an Männer wie Franz Josef Strauß oder Gerhard Schröder. Beiden hat man ein auffällig intensives Bemühen um Wirtschaftsbosse nachgesagt, um gute Kontakte zu großen Konzernen et cetera. Bei Ihnen war das anders. Ihr Thema war, wenn ich das mal so verkürzend sagen darf, die Sozialpolitik, war die Familienpolitik. Warum hat es Sie vor allem dort hingezogen?

    Teufel: Zum Ersten, weil ich als Christlich-Sozialer in die CDU gegangen bin. Zweitens muss ich Ihnen aber sagen, der Satz Walther Rathenaus, des Außenministers in der Weimarer Republik, "die Wirtschaft ist unser Schicksal", ist auch meine Grundüberzeugung. Ich habe mich deswegen auch stets mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt in einem Land wie Baden-Württemberg, dem Wirtschaftsland Nummer eins in Deutschland, ganz und gar unumgänglich.

    Baden-Württemberg ist das Land des Mittelstandes, ich habe mich um den Mittelstand bemüht, auch um Existenzgründungen bemüht, ein ganzes politisches Leben lang. Schon als Bürgermeister habe ich mich intensiv darum bemüht, später als Abgeordneter, als Fraktionsvorsitzender, als Ministerpräsident. Selbstverständlich spiele ich das nicht aus gegen die großen Betriebe. Gott sei Dank haben wir Daimler, Bosch, SAP und so weiter, große Unternehmen im Land, von denen wiederum Tausende und Abertausende Mittelständler leben. Die Stärke des Landes ist die Wirtschaft und das Schicksal der Menschen hängt natürlich von der wirtschaftlichen Entwicklung ab.

    Allerdings auch in Baden-Württemberg, nämlich in Freiburg, ist die soziale Marktwirtschaft von herausragenden Wirtschaftswissenschaftler entwickelt worden. Einer der Großen, Röpke, sagte, das Maß der Wirtschaft ist der Mensch. Und ich glaube, das Kapital eines Unternehmens sind doch nicht die Gebäude und die Maschinen, sondern das Kapital eines Unternehmens sind doch nun wirklich die qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

    Und deswegen bringt es mich schier um, dass ich da und dort den Eindruck habe, dass Unternehmen, die Milliardengewinne ausweisen, große Aktiengesellschaften, in dem Maße Stellen abbauen, natürlich ist Effizienz gefordert, aber wie es vielleicht in der Dimension nicht nötig wäre. Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch. Das kann man vielleicht vom Mittelstand sagen. Man kann es nicht mehr von jedem Großunternehmen sagen, wobei ich sagen muss, vielleicht darf man gar nicht mit dem Finger zeigen auf den Vorstandsvorsitzenden einer Aktiengesellschaft. Der muss ja inzwischen nicht nur in Jahreszahlen denken, der muss inzwischen in Vierteljahreszahlen denken, wenn er an die Entwicklung des Börsenwerts seines Unternehmens denkt. Und ein solches kurzatmiges Denken ist, glaube ich, ausgesprochen ungut für eine kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung.

    Müchler: Sie sind katholisch. Sie haben sich immer stark auch mit ethischen Fragen befasst. Sie sind heute Mitglied im Nationalen Ethikrat. Ich kann mich erinnern, dass Sie heftig Front gemacht haben seinerzeit gegen die Fristenregelung bei der Abtreibung. Trotzdem würde man Sie nicht als katholischen Fundi bezeichnen.

    Ich habe dieser Tage eine Rede nachgelesen, die Sie gehalten haben bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Katholisch-Theologischen Fakultät von Tübingen. Und da haben Sie gute Worte gefunden für Hans Küng, für einige Befreiungstheologen. Das hat mich überrascht.

    Teufel: Das ist meine Position. Seit ich denken kann, ich bin mitten in meiner Kirche beheimatet, aber ich denke selbstverständlich mit und nehme nicht alles als gottgegeben hin, was wirklich Menschenwerk ist und was reformiert und verbessert werden muss. Da könnte ich Ihnen nun eine ganze Latte aufzählen. Ich möchte aber zunächst mal sagen, ich bin in das Zweite Vatikanische Konzil hineingewachsen. Ich war überglücklich, dass die französische Theologie, die bahnbrechend gewesen ist auf dem Weg zum Konzil, dass die sich auf einmal durchgesetzt hat und nach dem Konzil war ja eine Aufbruchstimmung auch in Deutschland bei der Würzburger Synode.

    Inzwischen ist der Zentralismus in der katholischen Kirche auf Rom fixiert, so stark, wie er überhaupt noch nie gewesen ist, stärker als vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Das halte ich für ein ganz großes Problem, warum in einer Enzyklika, nämlich in Quadragesimo anno 1931 ist das Subsidiaritätsprinzip erfunden und definiert worden. Das Subsidiaritätsprinzip ist die Lösung für unglaublich viele Probleme, auch für die europäische Maläse wäre das Subsidiaritätsprinzip die Lösung. Das Subsidiaritätsprinzip geht vom einzelnen Menschen, vom einzelnen Bürger aus und sieht das ursprüngliche Recht bei der kleinsten Einheit. Die kleinste Einheit ist die Gemeinde, ist die Stadt. Nur das, was über die Kraft einer Gemeinde hinausgeht, ist Sache des Kreises, was über die Kraft des Kreises hinausgeht, ist Sache des Landes, in der europäischen Sprache der Region. Nur was über die Kraft des Landes hinausgeht, ist Sache des Bundes. Und nur die Aufgaben, die über die Kraft des Nationalstaates hinausgehen, sind europäische Aufgaben.

    Europa ist nicht stark, wenn es sich um tausend Aufgaben und um tausenderlei Aufgaben kümmert, sondern um die richtigen Aufgaben. Und jetzt komme ich zur Kirche zurück. Obwohl sie dieses Prinzip der Subsidiarität erfunden hat, das heutige Gemeingut ist in der Politik, wendet sie es nicht an im eigenen Bereich, nämlich das ursprüngliche Recht, und Vollkirche im Sinne des Urwortes Kirche ist die Gemeinde vor Ort und dann die Gemeinde in Verbindung mit dem Bischof und dann der Bischof, der nicht ein Filialleiter ist von Rom, sondern seine Autorität unmittelbar auf die Apostel zurückführen kann, und dann selbstverständlich die Einheit mit dem Papst in Rom, selbstverständlich. Die will ich ja nicht ausspielen, aber ich will, dass die Kirche nicht von oben nach unten dirigiert wird, sondern dass sie die unglaublich vielen Kräfte, die es heute auch in der Gemeinde noch gibt, dass sie die nutzt.

    Müchler: Ich merke, dass Sie an dieser Stelle sehr leidenschaftlich werden. Einen Schritt zurück zum Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip hat ja auch immer stärker zu kämpfen, nicht zuletzt in Europa, wo es nicht allgemein als grundlegend anerkannt wird.

    Inzwischen verschlingen sich europäische Gesetzgebungsmaßnahmen, bundespolitische Maßnahmen, gesetzgeberische Maßnahmen der Bundesländer, sodass immer weniger sichtbar wird, wer verantwortlich ist für das Gute oder das weniger Gute, was geschieht. Wenn man sagt, Demokratie ist, dass möglichst viele Menschen die Möglichkeit haben zu erkennen, wer Schuld hat und sich entsprechend zu verhalten, dann hat es die Demokratie zweifellos immer schwerer, wenn nämlich die Verantwortung immer stärker im Nebel verschwimmt.

    Teufel: Ich stimme Ihrer Fragestellung und Beurteilung voll zu. Der Bürger muss beurteilen können, wer ist wofür verantwortlich, für eine politische Maßnahme oder für ein politisches Versäumnis. Er muss das dann auch zum Ausdruck bringen können an der Urne bei der nächsten Wahl. Wenn wir eine Vermischung der verschiedenen politischen Ebenen haben, haben wir eine Vermischung der Verantwortung. Deswegen habe ich, ich war einer der drei Gewählten, ein Vertreter der Bundesregierung, der Vertreter des Bundestags, ich war der Vertreter des Bundesrats im Europäischen Konvent zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung.

    Ich habe für nichts so entschieden eingesetzt wie für einen sauberen Aufgabenkatalog. Wofür ist Europa zuständig? Wo sind gemischte Zuständigkeiten? Wo sind ergänzende Zuständigkeiten? Worum darf sich Europa auf gar keinen Fall kümmern? Also das Subsidiaritätsprinzip. Und ich möchte Ihnen sagen, in diesem Verfassungsentwurf gibt es zum ersten Mal einen solchen klaren Kompetenzkatalog und ein verankertes Subsidiaritätsprinzip.

    Was aber das Entscheidende ist, sie müssen das kontrollieren. Das darf nicht nur in Sonntagsreden gesagt werden und wir haben in diesem Verfassungsentwurf eine Kontrolle, und zwar nicht durch ein europäisches Organ, sondern durch sämtliche nationalen Parlamente, wo es zwei gibt wie in Deutschland, durch beide. Ein europäisches Gesetz, wenn diese Verfassung und diese Bestimmung Wirklichkeit wird, ein europäisches Gesetz muss im Entwurf nicht nur ans Europäische Parlament und den Europäischen Rat, sondern an jedes nationale Parlament und jedes kann binnen zwei Monaten sagen, ihr seid gar nicht zuständig, Subsidiarität verletzt und damit können Sie die nationalen Parlamente auch vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.

    Das wäre eine nennenswerte Verbesserung gegenüber dem seitherigen Zustand. Und die Bürger sehen auch nicht, was ist Gesetzgebung. Warum? Weil das jetzige Gesetzgebungsorgan auf der europäischen Ebene, nämlich die europäischen Räte, bis zum heutigen Tag nicht öffentlich tagen. Das ist das einzige demokratische Parlament der Welt, das nicht öffentlich tagt. Nach der Verfassung würde es selbstverständlich öffentlich tagen und damit würden sich gewaltige Verbesserungen ergeben im Sinne einer Transparenz. Und ein Bürger, der sich dafür interessiert, würde das dann auch beobachten und verfolgen können.

    Müchler: Nun ist die Europäische Verfassung noch nicht Verfassung.

    Teufel: So ist es.

    Müchler: So wenig wie die Föderalismusreform in Deutschland über die Hürde gebracht worden ist.

    Teufel: Der erste Teil, ja.

    Müchler: Der erste Teil, ja.

    Teufel: Und das ist der wichtigere.

    Müchler: Glauben Sie, dass der zweite Teil noch in dieser Legislaturperiode abgearbeitet werden kann?

    Teufel: Ich bin skeptisch, aber ich muss Ihnen sagen, lieber keine Föderalismusreform II, als eine falsche.

    "Teufel: Ich hatte schon den Eindruck, dass ich die Dinge noch in der Hand habe."

    Der richtige Zeitpunkt zum Ausstieg

    Müchler: Herr Teufel, Sie waren 14 Jahre dann Ministerpräsident. Als Sie ausschieden, waren Sie der dienstälteste Ministerpräsident. Ihr Ausscheiden war, gestatten Sie mir, wenn ich das so sage, holprig.

    Jetzt komme ich noch mal zurück auf die Grundeinsichten von Karl Popper. Zu den Grundeinsichten, jedenfalls des demokratischen Prozesses, gehört es, dass man klug beraten ist, den Zeitpunkt seines Ausscheidens selbst zu wählen, sich nicht drängen zu lassen. Auch in Ihrem Fall, muss man sagen, hat es in der Partei, Diadochenkämpfe gegeben, Sie sind gedrängt worden. Wieso ist das so schwer, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen?
    Teufel: Erstens, Diadochenkämpfe wird es immer und überall geben, weil es Leute gibt, die scharren und selbst in Ämter kommen wollen. Das ist die natürlichste Sache der Welt. Zweitens, ich habe am Tag meines Eingangs in das Amt des Ministerpräsidenten gesagt, es ist auch der Tag bestimmt meines Ausgangs, davon bin ich überzeugt. Ich glaube auch, dass ich geführt werde. Und dies ist alleinentscheidend. Drittens, ich habe den Zeitpunkt selbst bestimmt. Wenn Sie aber am Beginn einer Legislaturperiode, an dem die Wahl so war, dass alle großen Zeitungen in Baden-Württemberg von einem sensationellen Ergebnis gesprochen haben, wenn Sie da am nächsten Tag sagen, ich trete im Laufe dieser Legislaturperiode zurück oder trete das nächste Mal nicht mehr an, dann haben Sie doch 50 Prozent Ihrer Autorität und Ihrer Durchsetzungsfähigkeit verspielt.

    Ich habe aber in dieser Legislaturperiode noch gewaltige Reformen zustande gebracht. Und dass ich selbst entschieden habe, sehen Sie ja an folgendem Punkt. Ich war gewählt bis zum Ende der Legislaturperiode. Ich bin aber ein Jahr vorher gegangen, ausschließlich deshalb, weil ich ein Verantwortungsgefühl hatte für die nächste Landtagswahl. Ich wollte, dass mein Nachfolger als Ministerpräsident den Wahlkampf führen kann und nicht: Ich führe den Wahlkampf und nach der Wahl kommt dann ein Nachfolger. Ich hatte schon den Eindruck, dass ich die Dinge in der Hand habe. Aber ich habe auch die Erfahrung, dass wenn man das zur Unzeit sagt, die Führung in meinem Wahlkreis wusste Bescheid, und meine Frau wusste Bescheid, aber wenn man es zur Unzeit nach außen sagt, hat man den ganzen Gestaltungsspielraum verspielt.

    Müchler: Sie wollten als Nachfolger lieber Frau Schavan haben, nicht Herrn Oetinger Ist es eine Wunde, die noch schmerzt?

    Teufel: Das habe ich nie öffentlich zum Ausdruck gebracht. Aber Ihre Annahme ist nicht ganz falsch.

    Müchler: Herr Teufel, was möchten Sie, dass mal in den Geschichtsbüchern über Sie zu lesen ist?

    Teufel: Er war ein rechter Mann.

    Müchler: Vielen Dank für das Gespräch!

    Teufel: Gern.