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"Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten"

Er inspirierte mit seinen Ideen die Französische Revolution und befruchtete die moderne Pädagogik. Aber er schrieb auch einen Liebesroman, komponierte und betrieb botanische Studien. Die zu Jean-Jacques Rousseaus 300. Geburtstag erschienenen Publikationen versuchen vor allem, der Vielfalt seines Werks gerecht zu werden.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 27.06.2012
    Mit der These, dass die Kulturentwicklung die Welt nicht humaner, sondern unmenschlicher gestaltet, wurde Rousseau 1750 schlagartig berühmt und berüchtigt. In diesem Sinne bemerkt der politische Philosoph Karlfriedrich Herb:

    "Er entdeckt diese Wahrheit, die er dann immer propagieren wird, dass der Fortschritt nämlich immer sehr ambivalent ist und dass Wissenschaften und Künste keineswegs zur Moralisierung beitragen, sondern im Gegenteil das individuelle und kollektive Elend eigentlich noch größer machen."

    Kein Wunder also, dass Rousseau im Zeitalter der Klimakatastrophen populär ist. Das zeigt die Vielzahl der neuen Publikationen. So skizziert der französische Pädagoge Michel Soëtard in seiner kurzen und gut lesbaren Einführung Rousseaus heute noch populäre Themen: Einsamkeit, Liebe, Natur, Erziehung und Gerechtigkeit. Karlfriedrich Herb und Bernhard Taureck konzentrieren sich in ihrem "Rousseau-Brevier" auf einzelne Schwerpunkte. Dazu bemerkt Herb:

    "Wir wollten aus gegebenem Anlass an Rousseau erinnern wollten ihn selbst zur Sprache kommen lassen und haben sehr prägnante Stücke aus Rousseaus Schriften ausgewählt, haben die eingeleitet, haben die kommentiert und wollten halt damit auch zeigen, dass die Texte, über 200 Jahre alt, immer noch aktuell sind."

    Doch es lässt sich bei Rousseau immer noch etwas Neues finden. Der Kulturphilosoph Alfred Hirsch entdeckt ihn als Friedensdenker. Im 18. Jahrhundert entwickelt sich erst langsam ein konkretes Nachdenken über den Frieden als Perspektive der Politik. Für Rousseau stellt der Frieden daher noch weitgehend einen Traum dar.

    Hirsch beginnt denn auch seine Ausführungen in seinem Buch "Rousseaus Traum vom ewigen Frieden" mit jenem Text Rousseaus, der im Titel den Traum enthält, nämlich "Träumereien eines einsam Schweifenden", so die bei Matthes & Seitz, Berlin erschienene Neuübersetzung des renommierten Literaturkritikers Stefan Zweifel, der sich darum bemüht, die Poesie und die Rhythmik des Originals nachzuempfinden. Im Zeitalter der aufgeklärten Vernunft fragt Rousseau im Stile eines offenen und keinesfalls bloß eines rationalen Denkens nach dem Gefühl und nach dem Leben. So schreibt Alfred Hirsch:

    "Dieser zwischen 1776 und seinem Tod verfasste Text verleiht dem tagräumerischen Denken nachträglich einen besonderen Stellenwert für seine Philosophie. Es sind die Träumereien, die von einer nahezu vollkommenen Form denkender Freiheit getragen werden. Sie haben einen spielerischen Charakter und unbeschränkten Entfaltungsraum, ohne doch einfach nur schönen Trugbildern nachzuhängen. Aber sie sind frei von Zwang und ohne unmittelbaren praktischen Zweck."

    Rousseau leidet ständig an sich selbst, an seinen Krankheiten wie an seinen Obsessionen, zudem an einer ihm feindlich gesonnenen Umwelt. Häufig bildet er sich das auch nur ein. So beginnt er seine Träumereien mit den Worten:

    "Daselbst stehe ich also, allein auf Erden, ohne Bruder, ohne Nächsten, ohne Freund, nur mich zur Gesellschaft, mich allein. So wurde, durch einhelligen Beschluss, der geselligste und leutseligste Mensch von allen geächtet. Sie suchten in den Zuspitzungen ihres Hasses, welche Marter meine sanfte Seele am tiefsten träfe, und durchtrennten mit tätiger Gewalt alle Banden, die uns einten. Ich hätte die Menschen geliebt, trotz allem. Meiner Zuneigung konnten sie sich nur entziehen, indem sie: keine mehr sind. Alldort also stehen sie, fremd sind sie mir, unbekannt, ein Nichts, denn sie haben es nicht anders gewollt."

    So schreibt Alfred Hirsch:

    "Die Träumereien sind ein Ersatz – dies gibt Rousseau unumwunden zu – für das glückliche Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen!"

    Denn es kann keinen individuellen Frieden geben, wenn in der Gesellschaft kein Frieden herrscht. Daher liest Alfred Hirsch Rousseaus "Vom Gesellschaftsvertrag Du Contrat social" als Begründung einer Friedensperspektive, und nicht als Wegbereitung der Französischen Revolution.

    Karlfriedrich Herb, der zusammen mit Magdalena Scherl ein Buch über Rousseaus "Vom Gesellschaftsvertrag" unter dem Titel "Rousseaus Zauber" herausgibt, begreift das Denken Rousseaus als in sich höchst widersprüchlich:

    "Kant und Hegel werden den 'Contrat social' loben als Entdeckung des Prinzips der modernen Freiheit, also Rousseau als Philosoph der Freiheit und zur selben Zeit wird es Leser geben, die genau das Gegenteil im 'Contrat social' entdecken, nämlich die Begünstigung des Despotismus. Und im 20. Jahrhundert, im Zeitalter des kalten Krieges wird es sogar Rousseau-Leser geben, die sagen, er hätte den Archetypus des totalitären Denkens entfaltet. Also den Zauber Rousseaus, den gibt es, aber ob es ein böser oder guter Zauber ist, darüber sind sich die Leser und Leserinnen bis heute uneinig und in diesem Buch 'Rousseaus Zauber – Lesarten der politischen Philosophie' versuchen wir dieser zwiespältigen Lektüre Rousseaus nachzugehen und diesen Umstand auch produktiv zu werten."

    Auch bei der Frage der Gleichheit gehen die Deutungen weit auseinander. Rousseaus berühmtes Wort aus dem "Contrat social":

    "Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie."

    spricht den Herrschenden die Freiheit ab und kritisiert die Ungleichheit.

    Doch der Münchner Philosoph Heinrich Meier schildert Rousseau in seiner umfänglichen Studie "Über das Glück des philosophischen Lebens", in der er sich mit den "Träumereien eines einsam Schweifenden" auseinandersetzt, als einen elitären Vertreter der Ungleichheit,

    "der wie kein anderer im Jahrhundert der Aufklärung der Meinung entgegentritt, es gelte, es sei möglich oder auch nur erstrebenswert, die Philosophie populär zu machen, der mit den politischen Philosophen vor ihm wie nach ihm darin übereinstimmt, dass die Philosophie für die Gesellschaft ihrer Natur nach bedrohlich, dass die Wahrheit gefährlich und dass die Unterscheidung zwischen Philosophen und Nichtphilosophen unaufhebbar ist, weil die Menschen von Natur aus ungleich sind."

    Dem hält bereits der Kulturphilosoph Ernst Cassirer im frühen 20. Jahrhunderts in seinen beiden neu edierten Aufsätzen "Über Rousseau" entgegen:

    "In diesem Sinne ist die eigentliche Grundaufgabe des Staates, an Stelle der physischen Ungleichheit unter den Menschen, die unaufheblich ist, die rechtliche und moralische Gleichheit zu setzen."

    Das schränkt indes Karlfriedrich Herb insoweit ein:

    "Man kann Rousseau als einen Theoretiker der Freiheit lesen. Also sein Grundsatz "der Mensch ist frei geboren" der dominiert eigentlich sein ganzes Werk. Aber manchmal kommt man doch zum Eindruck, dass Rousseau gerade um diesen Grundsatz um die Freiheit des Menschen und die Freiheit des Bürgers zu sichern einen sehr hohen Preis zahlt. Also dieser berühmte Zwang zur Freiheit ist tatsächlich ambivalent, wenn man an den Gesetzgeber denkt, der das Volk betrügen muss, damit es die richtigen Gesetze anerkennt."

    Aber nicht nur sein politisches Denken durchziehen Widersprüche. In seinem Erziehungsroman "Emile", formuliert Rousseau selbst explizit zwei gegensätzliche Perspektiven. Karlfriedrich Herb:

    "Der 'Emile' ist philosophisch deshalb so interessant, weil Rousseau am Anfang eine Alternative formuliert. Er sagt nämlich für das Leben in der Moderne muss man eigentlich eine Wahl treffen, ob man sich für ein Leben in der Gesellschaft entscheidet, also zum Citoyen, zum Bürger wird oder ob man sein Leben eher am Rande oder außerhalb der Gesellschaft sieht, nämlich als homme, bloß als Mensch und dafür schreibt er auch ein pädagogisches Drehbuch. Er erfindet seinen Zögling Emil, der vor der Gesellschaft geschützt wird, von allen gesellschaftlichen Einflüssen abgeschottet wird und dadurch ein natürliches Leben führen soll."

    In der kommentierten Textsammlung "Rousseau – Der Pädagoge" stellen der deutsche Pädagoge Winfried Böhm und der Erziehungsphilosoph Michel Soëtard fest, dass Rousseaus Erziehungsroman letztlich nur dafür plädiert, dass der Mensch sein Leben selber gestaltet, aber nicht sagt, wie er erzogen werden soll. Sie schreiben:

    "'Emile oder Über die Erziehung' ist wesentlich eine theoretische Schrift, die nichts mit einer bestimmten Praxis der Erziehung zu tun hat. (...) Zum Glück blieb es Rousseau erspart mitzuerleben, welches Drama sein abgöttischer Verehrer Pestalozzi bei seinem einzigen Sohn heraufbeschwor. (...) zuerst brachte ihn der Vater um den Verstand, dann zerstörte er sogar sein Leben."

    Andererseits gab Rousseau durchaus praktische Ratschläge für die Erziehung von Kindern, wie es der neue Band mit teilweise sehr wichtigen und erhellenden Briefen unter dem Titel "Ich sah eine andere Welt" dokumentiert. So empfiehlt er 1763 dem späteren Herzog von Württemberg, dass die Erzieherin von dessen Tochter nicht bloß weder jung noch schön sein soll, sondern:

    "Suchen Sie im übrigen in ihrem Geist keine Bildung. Wenn sie nicht lesen kann, um so besser, dann wird sie es mit ihrem Zögling lernen."

    Für den US-Philosophen Frederick Neuhouser steht im Zentrum von Rousseaus Denken der Begriff der "amour propre", der Eigenliebe, die in der Kultur entsteht und den Menschen dazu veranlasst, sich selber höher zu schätzen als alles andere. Ihr verdankt sich die Selbstsucht, die Eitelkeit, die Aversion gegen andere, also das Böse. Aber diese Eigenliebe besitzt auch eine andere Seite. Neuhouser führt in seiner Studie über "Pathologien der Selbstliebe" gleichfalls die inneren Gegensätze in Rousseaus Denken vor, wenn er schreibt:

    "Denn (Rousseau) entwirft, insbesondere in 'Emile', aber auch in seinen politischen Schriften, eine Kultur, in der die fundamentale Quelle menschlicher Übel – "l'amour propre" – zu einem Diener der Tugend, der Vernunft und der Freiheit transformiert wird."

    Treffend bringt Karlfriedrich Herb den momentanen Stand der Diskussion auf den Punkt:

    "Man könnte vielleicht sagen, vor 100 Jahren, als man seines 200sten Geburtstags gedacht hat, hat man so um die Frage gekreist: Wo ist eigentlich die Einheit des Rousseauschen Denkens? Dreihundert Jahre nach seiner Geburt würde ich sagen, wir müssen eher den Widerspruch und die Uneinheitlichkeit seines Denkens verstehen und zwar nicht als theoretischen Mangel, sondern als etwas, was unsere Reflexion über Politik und Authentizität selbst am Leben erhält."

    Den Weg dazu hat Paul de Man bereits in den 1970er-Jahren geebnet, der sich in seinen "Allegorien des Lesens II" mit Rousseau beschäftigt. Dabei führt er die durch Jacques Derrida berühmt gewordene Dekonstruktion als literaturwissenschaftliche Methode ein, um Brüche innerhalb von Texten aufzudecken, beispielsweise bei dem für Rousseau so wichtigen Begriff der Natur. Er bemerkt:

    So "erweist sich Natur letztlich als selbst-dekonstruktiver Begriff. Sie erzeugt (...) unendlich viele 'Naturen'. Natur dekonstruiert Natur (...)."

    Im 20. Jahrhundert endet die Zeit der großen widerspruchsfreien Begriffe. Auch für Rousseau hilft nicht mehr die Natur, sondern die Moral, die sich der Kultur verdankt, die sich selbst wiederum auf Egoismus stützt. Vor Nietzsche ahnte davon bereits Rousseau. Das 21. Jahrhundert lernt fleißig nach.

    Besprochene Bücher:

    Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsam Schweifenden.
    Matthes & Seitz, Berlin 2012, 250 Seiten, 19,90 Euro

    Jean-Jacques Rousseau: "Ich sah eine andere Welt".
    Philosophische Briefe.
    Ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter
    Carl Hanser Verlag, München 2012, 397 Seiten, 27,90 Euro

    Winfried Böhm, Michel Soëtard: Jean-Jacques Rousseau der Pädagoge.
    Einführung und zentrale Texte.
    Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, 149 Seiten, 19,90 Euro

    Ernst Cassirer: Über Rousseau.
    Hrsg. und mit einem Nachwort von Guido Kries
    Suhrkamp Verlag (stw) 2012, 174 Seiten, 10 Euro

    Paul de Man, Allegorien des Lesens II.
    Die Rousseau-Aufsätze.
    Matthes & Seitz, Berlin 2012, 288 Seiten, 22,90 Euro

    Karlfriedrich Herb, Bernhard H. F. Taureck: Rousseau-Brevier.
    Schlüsseltexte und Erläuterungen.
    Wilhelm Fink Verlag, München 2012, 237 Seiten, 29,90 Euro

    Karlfriedrich Herb, Magdalena Scherl (Hrsg.): Rousseaus Zauber.
    Lesarten der politischen Philosophie
    Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, 200 Seiten, 29,80 Euro

    Alfred Hirsch: Rousseaus Traum vom Ewigen Frieden.
    Wilhelm Fink Verlag, München 2012, 181 Seiten, 19,90 Euro

    Frederick Neuhouser: Pathologien der Selbstliebe.
    Freiheit und Anerkennung bei Rousseau
    Suhrkamp Verlag (stw), 212, 380 Seiten, 17 Euro

    Michel Soëtard: Jean-Jacques Rousseau.
    Leben und Werk.
    Verlag C.H. Beck Wissen, München 2012, 128 Seiten, 8,95 Euro

    Heinrich Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens.
    Reflexionen zu Rousseaus 'Rêveries'.
    Verlag C.H. Beck, München 2011, 442 Seiten, 29,95 Euro