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Der Michelangelo der Karikatur

Honoré Daumier wird zu den ganz Großen des französischen Realismus gezählt. Mit spitzer Feder prangerte er die sozialen und politischen Missstände des 19. Jahrhunderts an. Während sich die Malerei seiner Zeit vom wirklichen Leben entfernt hatte und sich an antiken Vorbildern und alten Meistern orientierte, stand für ihn immer der Mensch im Mittelpunkt: der Pariser Bürger mit all seinen großen und kleinen Schwächen.

Von Renate Hellwig-Unruh |
    Wenn die Bezeichnung "Chronist seiner Zeit" auf jemanden zutrifft, dann auf ihn - Honoré Daumier. Mit seinen Grafiken hat der wortkarge Künstler wie kein anderer den Zeitgeist in Frankreich zwischen 1830 und 1870 eingefangen. Im Mai 1835 veröffentlicht die Zeitschrift "La Caricature" folgende Zeichnung von ihm:

    Ein Richter fordert den Angeklagten hämisch grinsend auf: "Sie haben das Wort, reden Sie ganz frei!" Doch der Mann hat einen Knebel im Mund, und drei Gerichtsdiener mit boshaften Fratzen und nackten Unterarmen halten ihn fest. Im Bildhintergrund: ein weiterer Angeklagter, der gleich an Ort und Stelle geköpft wird. Justitia ist außer Dienst, das zeigen auch die Waagschalen auf dem Pult des Richters: Sie sind aus dem Gleichgewicht geraten.

    Obwohl Daumier 1832 bereits eine sechsmonatige Gefängnisstrafe verbüßen musste, prangert er weiterhin mit spitzer Feder politische und soziale Missstände an. Als Republikaner mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, ist ihm nicht nur die französische Justiz ein Dorn im Auge, sondern auch der "Bürgerkönig" Louis-Philippe, den er häufig unter dem Namen "Gargantua" als Vielfraß und Blutsauger karikiert.

    "Daumier war ein Gigant; nach Goya wohl das Größte, was satirische Zeichenkunst des letzten Jahrhunderts aufzuweisen hat",

    schrieb Kurt Tucholsky über den Künstler. Honoré Daumier war Zeuge einer Epoche voller Umwälzungen: die Revolutionen 1830 und 1848, die Machtergreifung des Bürgertums, die Entstehung sozialer Probleme durch die einsetzende Industrialisierung. Am 26. Februar 1808 wurde er in Marseille geboren. Neun Jahre später zog die Familie nach Paris. Bereits früh musste der junge Daumier zum Lebensunterhalt beitragen - zuerst als Laufbursche bei einem Rechtsanwalt, später mit seinen Zeichnungen. Eine seiner bekanntesten Lithografien geht auf ein Blutbad zurück, das französische Soldaten am Abend des 15. April 1834 in einem Wohnhaus in der Rue Transnonain in Paris angerichtet haben:

    Grelles Licht fällt in den Schlafraum und enthüllt eine grausame Szene: Neben einem Bett liegt der blutbefleckte Leichnam eines Mannes. Unter ihm, teilweise begraben, liegt, mit klaffender Kopfwunde, sein totes Kind. Im Hintergrund der Leichnam der Mutter, rechts im Bild der Kopf eines toten Greises. Die Blutlachen, das hochgerutschte Nachthemd des Vaters, die auf dem Boden liegenden Laken, der umgestürzte Sessel – alles deutet auf die vorangegangene Gräueltat hin.

    Der erschlagene Vater - ein Sinnbild für das Leid des französischen Volkes. Daumiers Lithografie setzt in Frankreich heftige Emotionen frei. Die Zensur der Presse zwingt den Künstler zeitweise, sich mit der Gesellschafts- und Sittenkarikatur zu beschäftigen. Seine Zeichnungen erscheinen regelmäßig in der Tageszeitung "Le Charivari" - übersetzt: "Katzenmusik". In grafischen Zyklen nimmt er die beginnende Industrialisierung und den Fortschritt, die bürgerliche Ehe und die emanzipierte Frau aufs Korn. Skrupellose Hausbesitzer, verlogene Anwälte, gierige Spekulanten und heuchlerische Heiratsvermittler bevölkern seine Zeichnungen. Der Schriftsteller Charles Baudelaire:

    "Blättern Sie sein Werk durch und vor ihren Augen zieht in seiner phantastischen und ergreifenden Wirklichkeit all das vorüber, was eine Großstadt an lebendigen Monstrositäten enthält. All die Schätze an Schrecklichem, Groteskem, Finsterem und Possenhaftem – Honoré Daumier kennt sie."

    Daumier war fast vollständig erblindet, als er am 10. Januar 1879 in Valmondois, in der Nähe von Paris, 71-jährig starb. Während sich die Malerei seiner Zeit, die "hohe" Kunst, vom "wirklichen" Leben entfernt hatte und sich an antiken Vorbildern und alten Meistern orientierte, stand für ihn immer der Mensch im Mittelpunkt: der Bürger mit seinen Freuden und Tücken, Gebärden und Grimassen. Das macht seinen Rang aus. Auch heute noch.