Was für ein Theater! Da hat man sich, ganz Profi, fest vorgenommen, cool zu bleiben - Komödie hin oder her – und ist beileibe nicht die Einzige, die Tränen lacht. Was also ist da auf der Bühne des dem Tiefgang und der Hochkultur verschriebenen Münchner Residenztheaters passiert?
Der Plot von Michael Frayns boulevardesker Meta-Farce ist denkbar schlicht. Drei Akte, dreimal Theater im Theater im Theater. Eine allerhöchstens zweitklassige Tingel-Truppe soll den schlüpfrigen Schwank aufführen, in dem ein Teller voller Sardinen eine tragende Rolle spielt. Titel: "Nackte Tat-sachen". Und - nein, es sei kein Abbild der Wirklichkeit, dementiert der Regisseur Martin Kusej. Sondern, wie das Motto der letzten Spielzeit: ein Spiel.
Chaos vor der Premiere
Erster Akt: Generalprobe. Die Schauspieler können ihren Text nicht, die Einsätze stimmen nicht, die Kulissen fallen um, der zeitlose Regisseur mit Kreativenbrille und schwarzem Rollkragenpullover rauft sich die Haare. Sechs Stunden noch bis zur Premiere, und nichts klappt. Außer die Türen, die – Tür auf, Tür zu - neben den Sardinen ein weiteres strukturierendes Element in diesem Chaos bilden. Es ist – der Titel sagt es – "Der nackte Wahnsinn".
"Martin!" "Ich fange an zu begreifen, wie Gott zumute war, als er im Dunklen saß und die Welt erschuf!" "Wie war ihm denn zumute, Schätzchen?" "Er war gott-froh, dass er sein Valium genommen hatte. - Und Gott sprach, wo zum Teufel bleibt der Till?!"
Zweiter Akt: Die Bühne wurde gedreht, und jetzt geht‘s backstage im Slapstick ab. Jetzt sind die Wer-mit-wem-Fragen innerhalb des Ensembles spannender. Da geht’s noch turbulenter durcheinander als frontstage.
Zwischen den Geissens und Dallas
Dritter Akt - Akt eins und zwei in einem: Hier wird’s völlig irre, der mittlerweile besoffenen Putzfrau sei Dank. Alle agieren gruppendynamisch wie bühnentechnisch nur noch über- und durchgedreht. Und erst die Kostüme! 80er Jahre- Neureichen-Chic im pornös sterilen Interieur mit knallroter Sofalandschaft und abstrakter "Kunst" vor Natursteinwandtapete. "Die Geissens", Kölner Proll-Version der im Röhrenfernseher laufenden US-Serie "Dallas", lassen grüßen.
Hinreißende Schauspieler, ein rundum tolles Ensemble, was da zweieinhalb Stunden auf der Bühne selbstreferentiell herumtobt. Keine Sekunde Langeweile. Der Trick liegt in der Antithese. Ausgerechnet Sophie von Kessel zum Beispiel, sonst immer das ätherische Wesen per se, spielt hier die bräsige Putzfrau mit ausgestopftem Bauch und Hängebusen, die nicht nur mit ihrer Gebissschiene, sondern auch mit den Sardinen hadert.
"Ich lasse die Sardinen stehn? Oder nein, nein, nein, ich nehme die Sardinen mit." "Du lässt die Sardinen stehn und legst den Hörer auf." "Ja, ich lege den Hörer auf." "Und du lässt die Sardinen stehn." "Ich lasse die Sardinen stehn?" "Du lässt die Sardinen stehn." "Moment, ich lege den Hörer auf und lasse die Sardinen stehn." "Richtig."
Abschied vom Theater-Berserker
Es ist dieser nicht fassbare Mehrwert über den bloßen Boulevard hinaus, diese inszenierte Antithese, was den Wiedererkennungswert beim Publikum schafft. Kleinteilig genau, präzise bis zum Wimpernschlag, durchchoreografiert auf Tempo und Rhythmus. Eigentlich alles so, wie er auch den "Faust" oder "Don Carlos" inszeniert. Martin Kusej ist immer noch ein Berserker, ein - kein Widerspruch - sensibler Frauenversteher, der seine Leidenschaft fürs sinnlich erfahrbare Theater mit einem absoluten Anspruch an sich und alle Mitwirkende verbindet.
"Ich bin manchmal sehr positiv überrascht und erfreut, wie langmütig das Publikum hier ist. Also, ich würd viel weniger ins Theater gehen, weil’s mich ärgert, weil ich’s nicht wirklich total gelungen finde. Ich möchte immer das Maximale herausholen."
Abschied von so einem kann sehr traurig sein. Der Vollblut-Theatermensch Kusej muss nichts mehr beweisen. Und hat doch mit einer unglaublich überzogenen Leichtigkeit des Seins zum Abschluss auch noch die Klamotte geadelt. "Der nackte Wahnsinn" ist seine Liebeserklärung ans Theater. Es geht um Alles. Ein riesiger Spaß. Perfekt auf den Punkt inszeniert, grandios gespielt. Tosender Jubel. Der Regisseur, ganz bei sich, verneigt sich. Und entlässt das Bayerische Staatsschauspiel in Discotaumel. Wahrlich kein Grund, unglücklich zu sein.