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"Der Name Jürgen Klinsmann elektrisiert jeden"

"Kicker"-Chefredakteur Rainer Holzschuh ist überrascht vom Wechsel des ehemaligen Fußball-Bundestrainers Jürgen Klinsmann zum FC Bayern München. Er konnte sich zuvor nicht vorstellen, dass die Verantwortlichen des Rekordmeisters "so über ihren Schatten springen", sagte Holzschuh.

Moderation: Dirk Müller |
    Dirk Müller: Jürgen Klinsmann geht zum FC Bayern München, das haben wir gestern Nachmittag erfahren. Viele haben das erfahren, und alle Medien waren dann auch der Meinung, dass dies das Thema schlechthin ist. Auch heute Morgen in den Tageszeitungen gibt es nur ein Thema bzw. ein großes Thema. Das ist Jürgen Klinsmann, der zum FC Bayern München geht. Darüber reden wollen wir nun mit dem Chefredakteur des "Kicker", Rainer Holzschuh. Guten Morgen!

    Rainer Holzschuh: Einen schönen guten Morgen!

    Müller: Herr Holzschuh, wir haben jetzt alle darüber eine Nacht geschlafen. Heißt das jetzt in der Konsequenz, der deutsche Fußball und Vereinsfußball geht erst im Sommer 2008 los?

    Holzschuh: Nein, Gott sei Dank nicht. Wir haben ja Pause momentan, wir sind mitten in der Saison. Wir haben eine faszinierende Vorrunde erlebt und alles das, was vorher eigentlich geunkt worden ist, nämlich, dass die Bayern mit ihren großen Verstärkungen, Ribéry, Luca Toni, Jansen, wen auch immer, dass die allen auf und davon ziehen würden, ist ja nicht eingetreten. Der Vereinsfußball präsentiert sich eigentlich wie immer. Und das wird auch im nächsten Jahr wohl so sein. Da können die Bayern durchaus mal in einer Saison zwischendrin weit, weit die anderen mit dem Fernglas sehen lassen, wie das der Uli Hoeneß mal gesagt hat, aber im Endeffekt gleicht sich das doch alles viel wieder aus. Und wenn denn die Bayern so weit vorne wegmarschieren, wenn sie dann auch international Riesenerfolg haben, dann ist es wieder für den deutschen Fußball gut, weil international sind wir in den letzten Jahren ja sehr, sehr stark abgerutscht.

    Müller: Herr Holzschuh, blicken wir noch einmal zurück. Auch Sie haben gestern im Laufe des Tages die ersten Eilmeldungen der Nachrichtenagenturen gelesen. Haben Sie gedacht, das kann kein Sportjournalist geschrieben haben, sondern muss irgendeiner aus der Politik gewesen sein?

    Holzschuh: Was der Fußball alles momentan bewegt, dieser Hype, der durch die deutschen Medien geht, das ist schon faszinierend. Das hätte man sich vor etlichen Jahren ja gar nicht vorstellen können. Da gibt es, egal wo, ob nun Bush in Nahost ist oder der amerikanische Wahlkampf oder der deutsche, Situationen um die Eisenbahnergewerkschaften, das wird ja alles dermaßen in den Hintergrund gedrückt, dass man wirklich meint, Fußball hat die Welt, hat Deutschland erobert. Und der Name Jürgen Klinsmann alleine elektrisiert ja jeden, jeden Journalisten, der nicht nur aus dem Sport kommt, sondern (…) herkommt. Ich habe gestern Anrufe bekommen, das kann man sich gar nicht vorstellen, was die Leute alles mit diesem Namen plötzlich verbinden, was sie für Freude, wenn sie Bayern-Fans sind, bewegt, was sie aber auch vielleicht für Ärger dann in sich aufsteigen sehen, wenn sie keine Bayern-Fans sind. Für mich war das gestern ein faszinierender Tag.

    Müller: Weil Jürgen Klinsmann in Wirklichkeit eine nationale Sache ist?

    Holzschuh: Ja, nach dieser Weltmeisterschaft, nach diesem Sommermärchen 2006 ist er eine nationale Angelegenheit. Er ist nicht mehr die Einzelfigur Jürgen Klinsmann, sondern er ist derjenige, der uns alle - und ich sag’ das jetzt mal pauschal – verzaubert hat 2006, der uns mit in den Bann gezogen hat, der die Emotionen nicht nur auf die Spieler ausgeweitet hat, sondern auf ein ganzes Volk. Und wir waren ja glückselig, wir lagen uns in den Armen, wir sind ja nicht mehr typisch deutsch gewesen, sondern wir sind ja ein Volk plötzlich gewesen, etwas, was 1990 durch die Wiedervereinigung ja uns ähnlich berührt hat. Vielleicht damals sogar noch mehr, also das ist bestimmt mit einer Fußball-Weltmeisterschaft nicht zu toppen, was 1990 gewesen ist. Aber so etwas haben wir uns mal erträumt. Und dann kam es ja, dieses Sommermärchen, und Jürgen Klinsmann personifiziert das. Und jetzt wird (…) auf den FC Bayern das transponiert in einem gewissen Maße, was 2006 mit der Weltmeisterschaft in Deutschland passiert ist.

    Müller: Könnte Bayern damit populärer bei anderen werden?

    Holzschuh: Bayern wird nie ein Verein sein, der durch die gesamte Republik gleichermaßen stolziert, sondern Bayern wird immer polarisieren. Das ist in allen Ländern so mit den Top-Vereinen. Manchester United in England hat Freunde und Feinde, Real Madrid in Spanien genauso, und Juve in Italien genauso. Und der FC Bayern - wer wirklich sich zu diesem Verein bekennt, wird es wahrscheinlich sein ganzes Leben lang tun, ob er nun in Bayern-Bettwäsche schläft oder nicht. Und wer diesen Verein nicht mag, der wird ihn immer hassen, egal, wer der Trainer ist.

    Müller: Jetzt haben wir, Herr Holzschuh, ich sage das noch mal, eine Nacht darüber geschlafen, noch mal heute die Frage: Haben die Bayern sich vertan?

    Holzschuh: Ob sie sich vertan haben, werden wir in einem Jahr vielleicht wissen, wenn genau das passiert ist, was sich die Bayern entweder vorstellen, nämlich dass Jürgen Klinsmann die Bayern in absolute Höhen geführt hat, oder wenn genau das wieder ist, was unter Ottmar Hitzfeld in den vergangenen Wochen eingetreten ist. Nämlich das wird sich immer dann rauskristallisieren, wenn nicht der Erfolg da ist, sondern wenn die ersten Niederlagen kommen, wenn die ersten schlechten Spiele kommen. Wir haben es unter Ottmar Hitzfeld erlebt, und es wird sich alles wiederholen. Man kann nicht eine ganze Saison lang durchmarschieren, ohne Niederlage, ohne schlechte Spiele. Und dann müssen die Bayern-Bosse zeigen, ob sie die Faust in der Tasche nur ballen oder ob sie sie herausziehen und hochrecken und verbal in irgendwelche Kameras reinpoltern und gegen Klinsmann versteckt oder weniger versteckt sich äußern. Sie haben sich vorgenommen, dass sie voll hinter Klinsmann stehen, aber das hatten sie im vergangenen Jahr mit Hitzfeld genauso getan.

    Müller: Reden wir über die mentale, über die atmosphärische Komponente, über die atmosphärischen Aspekte dieses Wechsels. Ist das, was früher einmal war zwischen Klinsmann und Bayern in Bayern, heute alles obsolet und vergessen?

    Holzschuh: Das ist genau der Punkt, worüber ich mir heute noch Gedanken mache. Ich konnte mir im Vorfeld nie Klinsmann als Bayern-Trainer vorstellen, weil ich weiß, was da alles passiert ist, sowohl unter Klinsmann als Spieler und Hoeneß und Rummenigge als Vereinsverantwortliche als aber auch unter Klinsmann als Bundestrainer und den Bayern, die ja im Vorfeld der Weltmeisterschaft eigentlich die Sprachführer gegen Klinsmann gewesen sind. Wir erinnern uns, dass damals ja wir teilweise unsägliche Qualifikationsspiele absolviert haben, nicht nur das 1:4 in Italien, dass Klinsmann auch einige Dinge dann getan hat, die sehr, sehr stark in der Kritik waren, zum Beispiel seine ständige Hin-und-her-Fliegerei zwischen Los Angeles und Deutschland, Termine, die er nicht eingenommen hat, wo er den DFB nicht vertreten hat etc. Und da haben die Bayern ziemlich losgepoltert. Und insofern konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie so über ihren Schatten springen, und ich ziehe den Hut eigentlich davor, dass ein Uli Hoeneß plötzlich sagt, egal, was da gewesen ist, wir müssen nach vorne schauen, wir müssen sehen, dass wir den Besten kriegen. Ob Klinsmann wirklich der Beste ist, wird sich herausstellen, aber er ist einer der Intelligentesten und einer der Innovativsten. Und wenn ihm das gelingt beim FC Bayern, was ihm bei der Nationalmannschaft gelungen ist, nämlich eine ganze Mannschaft hinter sich zu scharen und dann vielleicht auch alle Fans, dann haben die Bayern natürlich richtig gehandelt.

    Müller: Also, Herr Holzschuh, man könnte das auch positiv interpretieren und sagen, mehr Differenzen im Vorfeld sind überhaupt nicht denkbar, waren überhaupt nicht möglich, sie sind ja auch tatsächlich in der Praxis vorgekommen, aber gerade deshalb ist es fast schon ein erfolgreicher Staatsstreich.

    Holzschuh: Ja, da ist sicherlich etwas dran. Es wird ein erfolgreicher Startschuss sein, ich frage mich nur die ganze Zeit, wann wird dieser erfolgreiche Startschuss sein. Er ist terminiert auf den 1. Juli. Aber jetzt muss man es ja auch andersrum wieder sehen, was wird mit Ottmar Hitzfeld jetzt? Er ist eine Randfigur geworden, und er kann auch gar nicht mehr gestützt werden von den Bayern, egal ob Uli Hoeneß dann über ihn sagt, wir vertrauen auf Ottmar Hitzfeld. Jedes Spiel wird jetzt besonders unter die Lupe genommen, und in jedem Spiel, wo die Bayern nicht nach zehn Minuten bereits drei zu null führen, wird nach Jürgen Klinsmann gerufen, und er wird als der Heilsbringer angesehen, sicherlich auch von den Bayern-Bossen, auch in der Öffentlichkeit. Und ich glaube, dass der Ruf nach Jürgen Klinsmann nach der ersten Niederlage ganz, ganz laut erschallt, es sei denn, dass die Bayern jetzt durch den Rest der Saison genauso marschieren, wie man sich das eigentlich zu Beginn der Saison vorgestellt hat und auch gesehen hat und dann mit weitem Abstand Meister werden.

    Müler: Bei uns im Deutschlandfunk Rainer Holzschuh, Chefredakteur des "Kicker". Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Holzschuh: Danke auch.