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`Der Osten befindet sich in einer Abschwungphase`

    Heinlein: Am Telefon in Berlin begrüße ich die Schriftstellerin und Journalistin Daniela Dahn. Guten Tag Frau Dahn.

    Dahn: Guten Tag.

    Heinlein: Frau Dahn, wir haben es gehört: Es gibt Uneinigkeit über die Einheit im Bundestag. Teilen Sie denn den Optimismus des Staatsministers?

    Dahn: Den kann ich leider nicht teilen. Ich finde, die Einschätzung, dass wir uns immer noch in einer Abschwungphase befinden, leider realistischer. Allerdings finde ich es völlig abwegig, das der jetzigen Regierung anzulasten, denn dieser Abschwung ist ja mit der Art der Einigung von der Kohl-Regierung organisiert worden, und diese damalige Dreieinigkeit von überstürzter Währungsunion, Treuhand und Rückgabe statt Enteignung, war ökonomisch gesehen ein so kolossaler Fehlgriff - für Banken und Versicherungen natürlich ein Bombengeschäft -, dass wir damals gekippt sind. Die Diskussion, ob der Osten heute kippt, habe ich zwar immer unterstützt, weil es das Problembewusstsein gestärkt hat, aber natürlich ist der Osten damals auf ein Drittel der Industrieproduktion gekippt. Und jetzt haben wir eben das Problem, dass wir selbst das Produktionsvolumen in der Endphase der DDR nicht erreicht haben, denn wir sind immer noch bei zwei Drittel. Die Frage ist, warum kommen wir jetzt nicht aus dieser Kippe raus?

    Heinlein: Was sind denn außerhalb dieser wirtschaftlichen Daten, die sie genannt haben, die Symptome, an denen man merkt, dass der Brückenbau zwischen Ost und West noch nicht so richtig funktioniert.

    Dahn: Das kann man eigentlich gar nicht außerhalb dieser wirtschaftlichen Daten sagen. Das hängt alles sehr zusammen. Wenn es im Osten unter den Leuten nur ein Drittel des Wohneigentums des Westens, ein Viertel des Geldvermögens und sogar nur ein Sechstel des Produktivvermögens - das ist das Entscheidende - gibt, dann hat das natürlich mentale Folgen, denn das Grundgesetz in dieser Gesellschaft lautet ja wohl: Wo kein Haben, da auch kein Sagen. Insgesamt schlägt das auf die Stimmung. Ich will hier gar nicht schwarz-weiß malen, denn natürlich ist die Bilanz nicht so einseitig: Etwa die Hälfte der Leute sagen, dass es ihnen jetzt sogar materiell besser geht als vorher, aber das ist leider oft nicht verbunden mit der Möglichkeit, selbst eine Leistung zu bringen, sondern das sind eben die Transferleistungen, die hier ankommen und mit denen sozusagen erkauft wird, dass die Unzufriedenheit hier nicht noch größer wird.

    Heinlein: Gregor Gysi hat es angemahnt und gesagt, dass man einiges von der DDR-Identität bewahren hätte sollen. Was hätte man denn in die neue Bundesrepublik, d.h. in das vereinte Deutschland, rüberretten können?

    Dahn: Es war schon demütigend, dass selbst in randständigen Gebieten, wo man sich nichts vergeben hätte, wenn man eingeräumt hätte, dass die DDR da vielleicht wirklich besser war und man Interesse daran gezeigt hätte, wie die das damals gemacht hatten. Ich denke dabei an - man könnte sagen - nebensächliche Dinge, wie z.B. der deutsche Eiskunstlauf, der ja heute in einem sehr beklagenswertem Zustand ist, oder die Tradition der Musikverlage in Leipzig. Außerdem hatte die DDR unter internationalen Medizinern sehr anerkannt wahrscheinlich die beste Krebsstatistik der Welt, weil da alles erfasst und ausgewertet wurde und Zusammenhänge hergestellt wurden. Das musste einfach alles unterbrochen werden, auch wenn es sinnvoll war, bis hin zur Organisation von Produktionsgenossenschaften in der Landwirtschaft, die sich ja doch als sehr leistungsstark gezeigt haben. Es durfte einfach nichts brauchbar gewesen sein und das hat natürlich langfristige Folgen.

    Heinlein: Haben Sie denn Verständnis, dass manche im Westen sagen, dass die neuen Bundesbürger im Prinzip immer noch undankbar sind? In der Tat hat sich ja im Westen nach der Einheit durch die Belastung und durch die Deutsche Einheit auch einiges zum schlechteren gewandelt.

    Dahn: Sicher. Letzten Endes ist die Bevölkerung in Ost und West diesen Fehlern der Einigung zum Opfer gefallen und müssen das bezahlen. Insofern verstehe ich die Unzufriedenheit, bloß muss man auch sagen, an wen diese Unzufriedenheit gehen soll. Die Menschen im Osten sind nicht undankbar, wobei man auch erwähnen muss, dass diese Transferleistungen natürlich anteilmäßig, aber auch von den Ostdeutschen mitbezahlt werden, denn die gehen ja aus einem Haushalt hervor, der inzwischen unser gemeinsamer Haushalt ist. Aber dennoch wird es gesehen, dass in den westlichen Kommunen auch Solidarleistungen erbracht werden. Die Frage ist nur, womit? Es ist praktisch eine Solidarität mit Fehlern, die damals gemacht wurden, und wir sehen heute, dass es Fehler gibt, die so durchgreifend sind, dass sie irreparabel sind. Wir haben zwar Wahlkampf und die Politiker müssen immerzu behaupten, dass sie Konzepte haben, aber ich sehe nicht, dass es in nächster Zeit ein Konzept für den Osten gibt. Ich glaube, man muss sich eingestehen, dass der Osten in der nächsten Zeit nicht groß vorwärts kommen wird. Wir haben ökonomisch die Struktur eines Entwicklungslandes. Es gibt ein paar Leuchttürme, die aber von fern zentrale-, fremdgesteuerte Montagebetriebe sind, wo auch die Gewinnsteuern wieder an die Mutterunternehmen gehen. Wir müssen eingestehen: Hier ist nichts zu retten in den letzten Jahren. Fachleute reden inzwischen von 80 Jahren, die es noch dauern wird, und deshalb wünsche ich mir einfach, mit mehr Realismus mit der Situation umzugehen, damit das nicht in militante und extremistische Unzufriedenheit abkippt.

    Heinlein: Ganz kurz zum Schluss: Mehr Gelassenheit - vielleicht auch als Ratschlag für die Ostdeutschen?

    Dahn: Gelassenheit würde ich es nicht nennen. Es ist ja ein Zustand, der schon der Veränderung bedarf. Aber mehr Realitätsnähe untereinander ist notwendig, also, dass wir uns wirklich trauen, zuzugeben, wie es ist und was in nächster Zeit nicht besser werden wird.

    Heinlein: Die Berliner Schriftstellerin Daniela Dahn zum Bericht "Stand der deutschen Einheit" heute im Deutschen Bundestag. Frau Dahn, vielen Dank.