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"Der physische Druck auf die Abgeordneten war erheblich"

Am 24. März 1933 stimmte der Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zu, das der NS-Regierung erlaubte, ohne Zustimmung des Reichstags Gesetze zu erlassen. Bei diesem Ja zur rechtlichen Grundlage der Hitlerdiktatur spielte auch die Angst der Abgeordneten vor der anwesenden SA eine Rolle, erklärt der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, Andreas Wirsching.

Andreas Wirsching im Gespräch mit Christoph Heinemann | 22.03.2013
    Christoph Heinemann: Draußen SS, drinnen SA. Im Plenarsaal der zum Reichstag umfunktionierten Kroll-Oper hing außerdem eine riesige Hakenkreuzfahne. Das war der Rahmen, in dem Hitler über sein Ermächtigungsgesetz abstimmen ließ, das sogenannte Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Der Artikel eins legte bereits fest, worum es ging: "Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden." Zunächst wurde über eine Änderung der Geschäftsordnung abgestimmt, die es gestattete, dass die zum großen Teil verhafteten kommunistischen Abgeordneten als anwesend und als zustimmend gezählt wurden. Sowohl diesem Antrag als auch dem Ermächtigungsgesetz widersetzten sich nur die Sozialdemokraten. Die Kommunisten hätten es vermutlich auch getan, aber sie waren knapp zwei Monate nach der Machtübernahme durch die Nazis bereits mundtot, viele wurden ermordet.

    Vor dieser Sendung haben wir mit Professor Andreas Wirsching gesprochen. Ich habe den Historiker an der Universität München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte gefragt, wieso Hitler eine rechtliche Absicherung seiner Diktatur benötigte. Recht und Gesetz spielten in seinem Denken ja sowieso keine Rolle.

    Andreas Wirsching: Also das wird man einerseits taktisch interpretieren. Hitler war klar, dass er die Legalität braucht, um sich des ganzen Staatsapparates zu bemächtigen, Stück für Stück nach dem 30. Januar 1933. Und dafür hat er zunächst mal versucht, eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichstag zu bekommen, um entsprechend verfassungsändernde Gesetze auch durchzukriegen. Das ist bekanntlich gescheitert am 5. März 1933. Das heißt, er hatte eben nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit, was dann zur Folge hatte, dass er das Ermächtigungsgesetz durchgepeitscht hat, um sich damit vom Reichstag ebenso wie vom Reichspräsidenten - das ist ganz wichtig - unabhängig zu machen.

    Heinemann: Wieso haben die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien, also des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei, auch die fünf Liberalen der Deutschen Staatspartei, darunter übrigens der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, sowohl für den Geschäftsordnungsantrag als auch dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt?

    Wirsching: Auf der einen Seite hatte man natürlich Befürchtungen. Befürchtungen, wohin das wohl führen würde. Auf der anderen Seite - und das ist der wichtigere Hintergrund für die Frage auch, die Sie stellen -, dass auch im bürgerlichen Lager das Zutrauen zu parlamentarischen Lösungen, zur Fungibilität der Weimarer Reichsverfassung, zu diesem Zeitpunkt erschöpft gewesen ist. Die meisten haben nicht mehr darauf gehofft und keine Möglichkeit gesehen, irgendwie parlamentarisch zu regieren. Also man wird schon sagen müssen, dass das parlamentarische System der Weimarer Republik spätestens schon 1932 so am Ende war, dass die bürgerlichen Parteien hier zu wenig Anknüpfungspunkte gesehen haben, um auch Hitler wirklich was Parlamentarisches entgegenzusetzen. Am wichtigsten war das Zentrum. Das Zentrum, an dem ja auch die Zwei-Drittel-Mehrheit hing. Wenn das Zentrum dagegen gestimmt hätte, wäre diese Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zustande gekommen. Und das Zentrum war auch nicht einheitlich. Es gab geradezu dramatische Szenen: Es sind Tränen überliefert, die da geflossen seien, weil die Minorität des Zentrums, die das Ermächtigungsgesetz ablehnen wollte, vor allem unter Brüning, schon sehr stark gewarnt hat vor den dann möglicherweise diktatorischen schlimmen Folgen, die dann eintreten könnten. Aber es gab einen Fraktionszwang hinterher, dem sich die Minorität unterworfen hat. Und die Gründe zuzustimmen, die kann man in zwei Punkten fassen. Zum einen war es die Hoffnung, an diesem Staatsaufbau auch irgendwie teilnehmen zu können. Das gilt insbesondere auch für die katholischen Beamten. Man muss ja sehen: Das Zentrum war ja bis zum Januar 1933 ein scharfer Gegner Hitlers, mindestens zum großen Teil, so dass die Zentrumsbeamten, die katholischen Beamten natürlich auch in Loyalitätskonflikte gekommen sind nach dem Januar 1933. Und diese Loyalitätskonflikte, die wollte man auch mit dieser Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz aufheben und verband damit die vage Hoffnung, an diesem Neuaufbau auch irgendwie teilnehmen zu können, ihn beeinflussen zu können. Zumal Hitler ja auch in seiner Rede zum Ermächtigungsgesetz sehr geschickt manipulativ Zusicherungen gegeben hatte, dass eine christliche Prägung des Schulwesens etwa und sofort beibehalten werden sollte. Und er gab Verfassungszusicherungen, Stichwort Reichspräsident, Rechte des Reichstages, Rechte des Reichsrates insbesondere. Also alles das war ein Bündel von Gründen, die das Zentrum dazu bewogen haben, mit seiner Mehrheit zuzustimmen. Und dann kommt der Druck dazu. Ich meine, das ist ja bekannt: Es gab die SA-Leute, die im Reichstag standen, und die Angst sozusagen, wenn man jetzt dagegen stimmt, dann gleich am Ausgang verhaftet zu werden, spielte auch eine Rolle.

    Heinemann: Inwiefern wurden dann im weiteren die Spielregeln der Republik durch dieses Ermächtigungsgesetz verändert?

    Wirsching: Fundamental. In Kombination mit der Reichstagsbrandverordnung vom Februar und dem Ermächtigungsgesetz hat man im Grunde den permanenten Ausnahme- und Diktaturzustand, der nun auf quasi legale oder pseudolegale Art und Weise hergestellt worden ist. Die Reichsregierung wird ermächtigt, ohne Zustimmung des Reichstages Gesetze zu erlassen. Das heißt also, der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung wird verwischt. Gesetze werden künftig im Grunde so etwas wie reine Verordnungen sein, und zwar thematisch unbegrenzt, auch verfassungsändernd. Und Hitler hat das natürlich sehr schnell auch ausgespielt, in dem Sinne, dass er die Zusicherungen, die ja auch im Ermächtigungsgesetz drinstanden, also etwa die Rechte des Reichspräsidenten, unberührt zu lassen, dann auch gebrochen hat, 1934 etwa mit der Verschmelzung des Amtes des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten nach dem Tod Hindenburgs. Das ist die Grundlage, die rechtliche, die pseudolegale Grundlage für die Hitler-Diktatur gewesen.

    Heinemann: Aber zunächst mal verfassungsrechtlich war dieses Ermächtigungsgesetz einwandfrei?

    Wirsching: Na das würde ich nicht sagen. Erstens: Man kann es an dieser Geschäftsordnung sehen. Der Geschäftsordnungstrick, der für sich genommen einen Verfassungsbruch darstellt. Dann gibt es natürlich, das soll man nicht unterschätzen, auch die Bannmeile, die ja in der Weimarer Reichsverfassung festgelegt ist, die durch die SA-Leute gebrochen worden ist. Der physische Druck auf die Abgeordneten war erheblich. Last but not least hat eben dann die Regierung Hitler auch gegen dieses pseudolegal zustande gekommene Ermächtigungsgesetz selbst verstoßen, was man auch nicht unterschätzen sollte. Hinzu kommt noch, dass man darüber streiten kann, wie weit dieses Ermächtigungsgesetz überhaupt verfassungskonform gewesen ist. Denn die Weimarer Reichsverfassung sieht so etwas eigentlich nicht vor. Es ist eine Art Selbstentmachtung des Reichstages im Sinne einer Übergabe der Rechte, die der Reichstag hat, auf die Exekutive. Das hat es ja vorher in der Weimarer Republik in begrenztem Ausmaß schon gegeben. Aber in dieser Form ist das natürlich ein flagranter Verstoß gegen den Geist zumindest der Weimarer Reichsverfassung gewesen.

    Heinemann: Es gab schon Ermächtigungsgesetze, haben Sie gerade gesagt, unter Stresemann, unter Reichskanzler Wilhelm Marx. Worin unterschied sich jetzt das Hitlerische von den früheren?

    Wirsching: Das Ermächtigungsgesetz von 1933 ist eine ganz klare Etappe zur Etablierung der auch persönlichen Diktatur. Formal unterscheidet sich das in der Zeit. Die Ermächtigungsgesetze der Weimarer Republik, die übrigens für sich genommen nicht unproblematisch sind. Man sollte die nicht unbedingt unkritisch sehen. Sie waren aber begrenzt in ihrer Dauer auf wenige Monate maximal. Das Ermächtigungsgesetz 1933 sollte für vier Jahre sofort Geltung haben, also das ist ein Riesenunterschied. Dann ist es thematisch unbegrenzt. Also es kann alle möglichen politischen Materien behandeln und betreffen und eben auch verfassungsändernde Gesetze vorbereiten. Das alles zusammen in dem Kontext, in dem man sich 1933 befand, machte dann schon einen fundamentalen Unterschied zu 1923.

    Heinemann: Was wäre Ihrer Einschätzung nach geschehen, wenn Hitler keine Mehrheit bekommen hätte?

    Wirsching: Ich glaube nicht, dass sich jetzt grundsätzlich an der Bewegungsrichtung des Regimes etwas geändert hätte. Hitler und seine Führung hätten sicherlich andere Wege gefunden, die absolute Diktatur einzurichten. Wahrscheinlich mit mehr offener Gewalt, die ja im Grunde schon im Raume stand: Sie können wählen, wollen Sie Zusammenarbeit oder Krieg. Das ist ja Hitlers Frage an die Abgeordneten. Der Unterschied wäre natürlich im symbolischen Bereich gewesen. Die Legalität wäre so einfach nicht vorspielbar gewesen. Es wäre klar gewesen, dass hier auch ein klarer Rechtsbruch stattgefunden hätte, was späteren Widerstandsbewegungen etwa vielleicht ein bisschen mehr Legitimation verschafft hätte. Also kurzfristig hätte sich sicher nicht grundsätzlich etwas geändert meines Erachtens. Aber mittel- und langfristig wäre zumindest die Symbolik, dass die Deutschen alles verspielen, ihre Demokratie ohne Gegenleistung verspielen und mit fliegenden Fahnen sozusagen zu Hitler übergehen, dann doch etwas geändert gewesen. Es hätte einen stärkeren Widerstandspunkt gegeben.

    Heinemann: Wieso hat sich die SPD, anders als die bürgerlichen Parteien, dem Druck nicht gebeugt?

    Wirsching: Ja das war für die SPD natürlich auch eine Zerreißprobe. Aber die SPD hat in der ganzen Phase auch der Weimarer Republik und auch am Ende dann noch natürlich in ganz anderer Art und Weise sich auch mit dem parlamentarischen Regime identifiziert, mit der parlamentarischen Regierungspraxis identifiziert. Und das war für die Mehrheit der Sozialdemokraten so eine Art Bekenntnis. Ohne dass man sehr viel Hoffnung hatte, irgendwas bewegen zu können. Aber ein Bekenntnis, auch ein symbolisches Bekenntnis zu diesem Staat von Weimar, den die SPD ja nun mehrheitlich gestaltet hatte auch am Anfang, letzter Akt, wenn man so will, des parlamentarischen Widerstands gegen die Diktatur.

    Heinemann: Was haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus dieser Machtverschiebung des Ermächtigungsgesetzes gelernt?

    Wirsching: Das Wichtigste ist, dass der Bundestag in eine ganz andere Machtposition gesetzt wird und mit ihm auch der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin, die ja vom Parlament, also vom Bundestag, gewählt wird. Sodass also zunächst mal der ganze Bereich, der im Reichspräsidialamt in der Weimarer Reichsverfassung angesiedelt ist, also diese doppelte Exekutive sozusagen, in der Bundesrepublik unter dem Grundgesetz bekanntlich nicht existiert. Das heißt also, der Bundestag, der ja im Grundgesetz nicht mal ein Selbstauflösungsrecht hat, geschweige denn einfach so aufgelöst werden kann, hat im Grunde auch wenig Möglichkeiten, seine Macht einfach abzugeben an der Garderobe und eine Regierung jetzt im Sinne einer Ermächtigung auszustatten. Was theoretisch vorstellbar ist, was höchstens in dem Gesetzgebungsnotstand, den das Grundgesetz ja auch regelt. Allerdings der entscheidende Unterschied ist natürlich diese Ewigkeitsklausel nach Artikel 79, dass Verfassungsänderungen nicht die Grundlagen der Demokratie wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und so berühren dürfen. Insofern ist hier, glaube ich, im Grundgesetz ausreichend Vorschub geleistet, dass sich so eine Situation in der Form nicht wiederholen kann.

    Heinemann: Professor Andreas Wirsching, Historiker an der Universität München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. Das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.