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"Der politischer Wille zur Aufklärung fehlt"

Nach Ansicht der Russlandexpertin bei Amnesty International, Friederike Behr, strahlt der Konflikt in Tschetschenien auch auf die Nachbarrepubliken im Kaukasus aus. In Inguschetien herrsche ein Klima von Gewalt und Rechtlosigkeit, Menschenrechtsverletzungen seien an der Tagesordnung. Der politische Wille zur Aufklärung dieser Fälle aber fehle, sagte Behr.

Moderation: Peter Lange |
    Peter Lange: Eines der Themen, das vor allem die Menschenrechtsorganisationen auf der Tagesordnung des Gipfels ganz oben sehen wollen, ist die Menschenrechtslage im Nordkaukasus. Tschetschenien ist auch im sechsten Amtsjahr von Präsident Putin ein Ort der Rechtlosigkeit, das hat Putin kürzlich selbst zugegeben, ein Krisenherd, der auf die Nachbarrepublik Inguschetien ausstrahlt.

    Nur wenige ausländische Beobachter haben die Möglichkeit, sich selbst ein Bild von den Zuständen im Nordkaukasus zu machen. Zu den wenigen gehört Friederike Behr, sie arbeitet bei Amnesty International in London und war vor kurzem auf Recherchereise im benachbarten Inguschetien. Jetzt ist sie bei uns am Telefon. Guten Morgen, Frau Behr.

    Friederike Behr: Guten Morgen.

    Lange: Konnten Sie denn mit den Leuten, mit denen sie reden wollten, frei reden, oder waren da Aufpasser dabei oder wie lief das ab?

    Behr: Also wir versuchen das schon so zu organisieren, dass keine Aufpasser dabei sind, das würde unsere Arbeit verändern, so können wir nicht die Informationen sammeln, die wir brauchen. Und wir versuchen das natürlich so zu organisieren, dass wir den Leuten, mit denen wir reden, keinen Schaden zufügen, dass ihnen keine Gefahr droht, aber wir haben sehr sehr gute Partner dort, mit denen wir zusammenarbeiten, in dortigen Menschenrechtsorganisationen, die sehr sehr viel Erfahrung damit haben, und wir vertrauen ihnen eigentlich in der Art und Weise, wie sie Kontakt aufnehmen, uns helfen, Kontakt aufzunehmen, und die Gespräche organisieren.

    Lange: Diese Atmosphäre der Rechtlosigkeit, von der gerade die Rede war, wie zeigt sich die in dem Gebiet?

    Behr: Es fällt besonders auf, dass sehr viele Menschen Angst haben, mit einem zu reden, und diese Angst auch zunimmt. Ich glaube, dass in den ersten Jahren des Konflikts im Nordkaukasus es einfacher war, mit Leuten zu reden, weil vielleicht auch größere Hoffnung dort war, dass die Außenwelt, dass die internationale Öffentlichkeit reagieren wird und dass, wenn man darüber berichtet, was dort passiert, die Situation sich bessert.

    Das Vertrauen ist, glaube ich, weniger geworden. Viele Leute, mit denen wir schon seit längerem in Kontakt sind, mit denen wir immer wieder reden, um zu erfahren, wie ihr Fall weiterläuft, haben uns oft berichtet, dass sie eben überhaupt nicht mehr zu Hause schlafen, dass sie jede Nacht woanders, bei Freunden, bei Verwandten übernachten, weil sie so viel Angst haben vor den nächtlichen Überfällen der tschetschenischen Sicherheitskräfte, der so genannten "Kadyrowscy", oder auch in Inguschetien, der inguschetischen ... ja, wer es dann eigentlich genau ist, ist oft schwer zu sagen, vielleicht Polizei, Geheimdienst, manchmal vielleicht auch eine Mischung aus beiden, die Leute nachts wecken, eine Hausdurchsuchung machen und dann eben auch oft jemanden mitnehmen, der dann entweder nie wieder gesehen wird oder nach einiger Zeit im Gefängnis auftaucht und möglicherweise unter Folter ein Geständnis unterschrieben hat und dann sich zu irgendeiner Tat sich bekennt, die er vielleicht gar nicht begangen hat.

    Lange: Wer sind die Leute? Wer sind die Täter und wer sind die Opfer?

    Behr: Die Leute, mit denen wir gesprochen haben, haben zwar oft darauf hingewiesen, dass es oft Tschetschenen waren, dass sie Tschetschenisch gehört haben. Andere sagen, es waren hauptsächlich Russen. Es ist sehr schwer, genau festzustellen, wer dafür verantwortlich ist, und wir können nicht den Finger auf eine bestimmte Gruppe richten, aber der Hinweis darauf, dass auf jeden Fall Angehörige der Militärstreitkräfte, der Sicherheitskräfte, des Geheimdienstes mit daran beteiligt sind, ich glaube, das ist ziemlich eindeutig aus den verschiedenen Informationen, die wir dieses Mal gesammelt haben, die wir auch während anderer Reisen in die Region gesammelt haben.

    Das Schwierige daran ist eben, dass diese Personen immer in Massen kommen mit Autos, die keine Kennzeichen haben oder wo die Kennzeichen verschmiert sind, und sich natürlich überhaupt nicht ausweisen. Und dann manchmal die Angehörigen hinterher herausfinden, dass ihre Verwandten irgendwo in eine bestimmte Richtung gefahren werden, wo sie wissen, dass dort ein Militärlager ist, oder dass dort die Zentrale der russischen Militärverwaltung im Kaukasus ist. In anderen Fällen, eben in denjenigen, in denen dann jemand nach einigen Tagen Haft auftaucht oder manchmal in einigen Fällen auch tot gefunden wird, nachdem er vom Militär abgeholt wurde, von Sicherheitskräften abgeholt wurde, dann muss man einfach davon ausgehen, dass da natürlich Angehörige der russischen Sicherheitskräfte daran beteiligt waren.

    Lange: Gehen die denn gezielt vor? Gibt es eine höhere Gefahr, wenn sich jemand exponiert, oder muss eigentlich jeder damit rechnen?

    Behr: Auf der einen Seite hat man den Eindruck, dass es so weit verbreitet ist, dass jeder damit rechnen muss. Das Gefühl ist in der Bevölkerung oft sehr stark da, dass man sich nicht sicher fühlen kann, nur weil man keinerlei Hinweise darauf hat. Es kommt zum Beispiel auch vor, dass Leute uns erzählt haben, dass Männer gefoltert wurden, um die Namen von anderen möglichen Kämpfern gegen die russische Regierung zu nennen, und dann kann es natürlich vorkommen, das jemand einen Namen nennt von irgendjemandem, der überhaupt nichts mit dieser Situation zu tun.

    Aber unsere große Sorge gilt auch den Leuten, die vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof geklagt haben oder vor russischen Gerichten klagen gegen das Verschwinden ihrer Angehörigen, wegen der Behandlung ihrer Familienmitglieder oder ihrer eigenen Person, und die sind natürlich erhöhter Gefahr ausgesetzt. Da haben wir oft gehört, dass Leute regelmäßig bedroht werden. Ihnen wird geraten, manchmal im Guten, manchmal mit ziemlich massiver Drohung, ihre Klagen zurückzuziehen und einfach so weiterzumachen, als sei nichts geschehen.

    Lange: Nun verweist die russische Führung regelmäßig auf die Rebellen in Tschetschenien, die aus ihrer Sicht Terroristen sind, die es zu bekämpfen gilt. Welchen Anteil haben die Rebellen an diesem Klima von Gewalt und Rechtlosigkeit?

    Behr: Wenn man die tschetschenischen Medien betrachtet, gibt es auf jeden Fall noch Kämpfe im Süden der tschetschenischen Republik. Beslan ist ein Ereignis, das sicherlich verantwortet wurde durch die Separatisten im Nordkaukasus. Es wird behauptet von einigen Leuten, dass die auch an Verschwinden und an Festnahmen der tschetschenischen Bevölkerung durch diese nächtlichen Überfälle auf verschiedene Dörfer beteiligt sind. Darauf haben wir keine Hinweise gefunden. Ganz ausschließen kann man das von dem, was wir an Informationen gesammelt haben, aber nicht.

    Lange: Sie haben den Überfall auf die Schule in Beslan erwähnt. Seither steht die Regierung ja auch unter einem gehörigen Zugzwang. Wie macht sich der bemerkbar? Agieren die Sicherheitsorgane jetzt anders als früher, vielleicht noch rücksichtsloser?

    Behr: Auf jeden Fall dehnt sich der Konflikt weiter aus. Es gibt immer mehr Fälle von Verschwinden in Inguschetien. In anderen Regionen des Kaukasus kommt es zu Menschenrechtsverletzungen, Kabardino-Balkarien oder Nordossetien eben auch.

    Es gibt Informationen darüber, dass das gar nicht unbedingt die gleichen Täter sind, dass verschiedene Machtstrukturen daran beteiligt sind. Unser Anliegen ist es, auf jeden Fall die russische Regierung darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Verantwortung haben, dort auf die Angehörigen ihrer Streitkräfte - das sind ja natürlich auch die tschetschenischen Sicherheitskräfte -, dass sie das kontrollieren müssen, dass sie versuchen müssen, diese Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, und zwar wirklich nicht nur strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, sondern diese auch durchzuführen.

    Unser Eindruck ist, dass der politische Wille fehlt, wirklich Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und wirklich gegen die Angehörigen der eigenen Streitkräfte vorzugehen und zu verhindern, dass weitere Menschenrechtsverletzungen verübt werden im Kaukasus.

    Lange: In den Informationen am Morgen war das Friederike Behr, sie arbeitet bei Amnesty International in London als Russlandexpertin. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Behr: Danke.