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Der "Prinz der Faulheit" machte den Träumer Oblomow berühmt

Er gehört neben Tolstoi und Dostojewskij zu den großen russischen Romanciers des 19. Jahrhunderts. Der Ruhm Iwan Alexandrowitsch Gontscharows gründet sich auf die Geschichte des willensschwachen Landadligen Oblomow, dessen Niedergang ein Spiegelbild der Zeitenwende von der alten Feudalgesellschaft zum Industriezeitalter ist.

Von Florian Ehrich | 18.06.2012
    "Das Herumliegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder für einen Menschen, der schlafen möchte, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Müden, noch ein Genuss, wie für einen Faulpelz: Es war sein normaler Zustand."

    Ein Dasein im Schlafrock: Der liebenswerte Träumer Oblomow ist sprichwörtlich geworden für ein zielloses Verdämmern im Leben.

    Der Dichter dieser unsterblichen Figur, Iwan Gontscharow, wurde am 18. Juni 1812 in Simbirsk an der Wolga geboren. Der Sohn eines geadelten Getreidehändlers ging nach seinem Studium in Moskau nach St. Petersburg, wo er als Übersetzer und Beamter für die Zensur- und Pressebehörde tätig war. Sein eigentliches Interesse galt jedoch der Literatur. Nach einigen Erzählungen erschien 1847 sein erster Roman "Eine alltägliche Geschichte", der die Desillusionierung eines romantisch gestimmten und idealistischen Jünglings in St. Petersburg beschreibt.

    "Nicht nur sein Zimmer, die ganze Welt erschien ihm verödet und in ihm selber herrschten Kälte und Schmerz. Wenn er sein Leben betrachtete, sein Herz befragte und seinen Kopf, so bemerkte er mit Schrecken, dass ihm kein Traum, keine rosige Hoffnung verblieb. Alles lag schon hinter ihm."

    Im Kreis der Petersburger Künstler wurde Gontscharow wegen seines behäbigen Lebensstils der "Prinz der Faulheit" genannt, der durchaus Ähnlichkeiten mit seiner berühmtesten Romanfigur Ilja Oblomow hatte. Umso größer war die Überraschung, als der Petersburger Beamte ankündigte, als Sekretär des Kapitäns an einer Seereise rund um die halbe Welt teilzunehmen. Die Expedition auf der Fregatte "Pallas" führte Gontscharow bis nach Japan und zwang ihn, wegen des ausbrechenden Krimkriegs 1854 auf dem beschwerlichen Landweg quer durch Sibirien nach Petersburg zurückzukehren. Die Beschreibung dieser Reise aus der Sicht eines ebenso bequemen Bürgers wie empfindsamen Dichters ist ein Glanzstück der Reiseliteratur:

    "'Und da liegt Spanien, das blühende Andalusien, dachte ich traurig und blickte in die Richtung, wo nach dem Hinweis des Großvaters die spanische Küste liegen sollte. ... Dahin, dahin möcht' ich ... irgendwohin, nach Granada, wo der Epikuräer Byron so klug und genussreich gereist ist, der die ganze Süße des spanischen Himmels und der Luft, der Frauen und Apfelsinen bis zur Neige zu kosten verstanden hat. Dort möchte man leben, unter Oleanderbüschen und Silberpappeln liegen, die russische Faulheit mit der spanischen vereinen und erleben, was dabei herauskommt. Aber die Fregatte fliegt dahin."

    Erfrischt durch die Eindrücke der Reise, macht sich Gontscharow ans Werk, seinen lange geplanten Roman über die existenzielle Langeweile und die Lebensuntüchtigkeit eines russischen Landadligen zu verfassen. "Oblomow" ist ein tiefschürfendes Werk, das nicht nur den Niedergang des alten russischen Feudalsystems zeigt, sondern die grundlegende Frage nach dem Sinn und Zweck menschlichen Handelns überhaupt stellt. Der Slawist Rudolf Neuhäuser schlägt in seinem Nachwort zum Roman eine alternative Lesart vor, die Oblomow als eine Art Anti-Faust zeigt.

    "Gontscharow scheint in Oblomow Züge eines christlichen Heiligen anzudeuten. Dem entspricht seine 'kristallklare, durchsichtige Seele.' Der sinnlosen Betriebsamkeit der zeitgenössischen Welt stellt der Autor als Gegenbild das im christlichen Sinne beschauliche Leben gegenüber, dessen idyllischer Charakter allerdings am Makel der romantisch-idealistisch verbildeten, ästhetischen Existenz leidet."

    Sein letzter und umfangreichster Roman "Die Schlucht" ist eine Parabel über seine Heimat, mit der er vor revolutionären Umwälzungen und zerstörerischem Nihilismus warnte. Gontscharow sah seine drei Romane als untrennbare Einheit:

    "Sie sind alle miteinander durch eine folgerichtige Idee verbunden: den Gedanken des Übergangs von einer Epoche des russischen Lebens, welche ich erlebt habe, in eine neue."

    Iwan Gontscharow starb am 27. September 1891 in St. Petersburg, seinen gesamten Besitz vermachte der ewige Junggeselle seinem Diener.