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Der Reichstag im Patriotenpark
Immer wieder die Schlacht um Berlin gewinnen

Berlin protestierte zwar, aber dennoch: Im Patriotenpark in der Nähe von Moskau wurde der Reichstag nachgebaut, wenn auch in verkleinerter Form. So kann die Rote Armee die Schlacht um Berlin immer wieder gewinnen. 1.200 Freiwillige stellten den Kampf nach. Erklärtes Ziel, die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee wachzuhalten.

Von Thielko Grieß |
    Im Patriotenpark in der Nähe von Moskau stürmen freiwillige Darsteller eine verkleinerte Nachbildung des Reichstags. Die Schlacht um Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs wird hier nachgestellt.
    Im Patriotenpark in der Nähe von Moskau stürmen freiwillige Darsteller eine verkleinerte Nachbildung des Reichstags. (AFP PHOTO / Vasily Maximov)
    Das schwere Artilleriegeschütz muss an die Front. Aber der Matsch ist tief, es hat geregnet. Die Männer schieben und ziehen mit vereinten Kräften. Noch wird nicht geschossen. Wenige Schritte daneben warten Soldaten im Windschatten einer anderen Artilleriebatterie auf die Schlacht. Sie tragen Wehrmachtsuniformen.
    "Wir haben vier deutsche Geschütze: drei Panzerabwehrkanonen vom Typ 40, aber sie ein bisschen umgebaut. Und eine vom Typ 38, außerdem noch eine sowjetische Flugabwehrkanone, 85 Millimeter."
    Der Soldat nennt sich, für heute, Clemens Bäcker, raucht seine Zigarette zu Ende und wirft sie in den Matsch. Er ist Russe und spielt mit seinen Freunden nun den Deutschen. Den Feind. Ihre Rollen haben sie in Bibliotheken und Archiven recherchiert, sagt er, und sich dann hier als Darsteller angemeldet. Ihre Uniformen, Helme, die Gürtel mit Hakenkreuz und Lederstiefel haben sie zusammengekauft. In Sankt Petersburg, ihrer Heimatstadt, und im Internet.
    Im Drehbuch steht: Sie werden den Kampf nicht überleben
    "Wir sind jetzt in dieser Inszenierung auf der deutschen Seite, um die Heldentaten unserer russischen Großväter und Väter zu zeigen und um klar zu machen, dass sie Europa vor den Nationalsozialisten geschützt haben. - Ich hoffe, dass wir nicht sterben. Aber wir müssen wohl." Im Drehbuch steht: Sie werden den Kampf um Berlin nicht überleben. Andere Soldaten stapfen vorbei. Manch einer bleibt mit seinen Stiefeln im Schlamm stecken.
    Im Patriotenpark bei Moskau wird der Kampf um Berlin nachgestellt von freiwilligen Darstellern.
    Im Patriotenpark bei Moskau wird der Kampf um Berlin nachgestellt von freiwilligen Darstellern. (Julia Larina)
    "Ostfront!" ruft einer, ein anderer: "Das ist Heilschlamm. So ein Scheiß." Die Stimmung ist gut. Auch aufseiten derjenigen, die Berlin erobern wollen, unter Soldaten der Roten Armee. Auch sie stehen im Matsch. "Ich bin Oberfeldwebel einer Artilleriebatterie. Das heißt, das ist jetzt meine Rolle. Da stehen meine Geschütze, zum Beispiel eine Panzerabwehrkanone, 45 Millimeter," sagt Nikolai Truchin, knapp über 60 Jahre alt. Er trägt eine hellbraune Uniform. Ein Onkel seiner Frau sei 1945 bis nach Berlin gekommen. "Den Deutschen schlagen wir in die Fresse. Ja, in die Fresse", sagt er, halb im Scherz. Aber dann wird er gleich ernst: Was soll denn die Aufregung in Deutschland, wenn hier der Reichstag nachgebaut wird? "Als Verteidigungsminister Sergej Schoigu gesagt hat, dass wir eine Kopie des Reichstags bauen, war Merkel empört. Aber er gesagt: "Das geht dich, Merkel, einen Dreck an. Er wird hier gebaut, auf unserem Territorium." Wir haben den Krieg nicht vergessen, weil so viel unseres Blutes vergossen wurde. Wir wollten keinen Krieg führen, aber die Deutschen haben uns angegriffen. Wir haben 27 Millionen Menschen verloren. Und wie viele haben die Deutschen verloren? Weniger." Als sich die Panzer in Bewegung setzen, sagt er noch dies: "Krieg ist Schmutz, Schweiß und Blut." Die Schlacht beginnt.
    Reichstag als kleine Kopie im Hintergrund
    Auf der Tribüne sitzen einige Tausend Zuschauer; ihre Tickets haben umgerechnet bis zu 50 Euro gekostet. Sie applaudieren, als ein Sprecher erklärt, Verteidigungsminister Sergej Schoigu sei auch gekommen. Genau vor ihnen liegt nun das Schlachtfeld. Die Rote Armee rückt von rechts an; die unterlegene Wehrmacht zieht sich zurück. Eine Regie steuert die Spezialeffekte: Artillerie, Panzer und Maschinengewehre feuern auf beiden Seiten, Granaten explodieren, Flugzeuge lassen Bomben fallen und als Rauch über die Tribüne zieht, fällt das Atmen schwer. Stuntmen flüchten mit brennenden Uniformen aus zerschossenen Häusern. Untermalt von dramatischer Musik erklärt der Sprecher die Ausgangslage und einzelne Episoden des tagelangen Kampfes um Berlin. In der Realität hat er Zehntausende das Leben gekostet. In der Show fehlt das Leiden. Hier schreit niemand, wird zerfetzt, keiner humpelt, stirbt langsam oder leidet. Blut ist nirgends zu sehen.
    Im Patriotenpark bei Moskau wird der Kampf um Berlin nachgestellt von freiwilligen Darstellern.
    Im Patriotenpark bei Moskau wird der Kampf um Berlin nachgestellt von freiwilligen Darstellern. (Julia Larina)
    "Das ist nicht Berlin", sagt ein Zuschauer. Drei halb zerstörte Häuser, einige Gräben und Anhöhen, ausgebrannte Autos und etwas Stacheldraht sind nicht genug, um den erbitterten Häuserkampf auch nur halbwegs nachzubilden. Weshalb die Veranstalter den Reichstag, als kleine Kopie und in hellem Farbton, hunderte Meter entfernt und damit kaum sichtbar aufgebaut haben, bleibt unklar.
    Zu Richard Wagners Walküre tritt Adolf Hitler ein letztes Mal auf. Wenige Minuten später wird es ruhiger; das Deutsche Reich kapituliert, auf dem Reichstag weht die rote sowjetische Fahne, Applaus von der Tribüne. Dann streben die Zuschauer dem Ausgang zu, darunter auch Igor. Der Zwölfjährige ist mit Bruder und Vater gekommen.
    Kindern patriotische Gefühle beibringen
    "Ich freue mich, dass wir gewonnen haben. Ich verstehe jetzt, dass unser Land wirklich sehr stark ist. Das tut gut. Man hat mir erzählt, dass hier alles einem echten Kampf ähnelt. Und deshalb sind alle gekommen, um den Sieg zu sehen, als unsere Truppen Berlin erreicht haben."
    Im Patriotenpark bei Moskau wird der Kampf um Berlin nachgestellt von freiwilligen Darstellern.
    Im Patriotenpark bei Moskau wird der Kampf um Berlin nachgestellt von freiwilligen Darstellern. (Julia Larina)
    Etwas abseits lässt sich Swetlana, 38 Jahre, mit ihrem kleinen Neffen vor einem Panzer fotografieren. "Die Darsteller waren super. Wir wollen unseren Kindern patriotische Gefühle beibringen, damit sie unsere Großväter, unsere Helden kennen, damit sie unsere Heimat lieben und sie nicht verraten und sie in jeder Situation schützen. Russland ist unser Haus. Man muss sein Haus schützen, damit es dort immer Glück, Wärme und Liebe gibt."
    Die Kopie des Reichstags bleibt wohl erst einmal stehen, im matschigen Schlachtfeld des Patriotenparks bei Moskau. Nicht ausgeschlossen ist, dass seine Eroberung ein weiteres Mal nachgestellt wird.