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Der Rücktritt von EU-Kommissar Bangemann (FDP)

. . . ich denke, seine Pensionszahlung wird er bekommen. Nach 11 Jahren sind es ungefähr 60 Prozent. Darauf wird er sicherlich nicht verzichten. Die Kommission hat ihn jetzt nicht nur seines Jobs enthoben, sondern er hat vorher darum gebeten. Das heißt, auch das Verhalten der Kommission ist nicht so, daß die Kommission Herrn Bangemann jetzt richtig kritisiert, sondern die Kommission hat das Verhalten Herrn Bangemanns ja mit ihrer gestrigen Entscheidung sogar legalisiert. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, den Fall Bangemann vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Die Kommission hat darauf verzichtet".

    Capellan: Hartwig Nathe war das, Redakteur von FOCUS in Brüssel. Vielen Dank für diese Informationen. Mitgehört hat Heide Rühle, Spitzenkandidatin der Grünen bei den vergangenen Europawahlen, ganz neu ins Europäische Parlament gewählt. Guten Morgen Frau Rühle.

    Rühle: Guten Morgen.

    Capellan: Wäre der Fall Bangemann – diese Verquickung von Politik und Wirtschaft – ein Fall für die Justiz in Europa?

    Rühle: Ja, wobei die Schwierigkeit einfach ist – da gebe ich Ihnen völlig recht: Die Schwierigkeit ist, daß wir gerade bei der Kommission keine eindeutige Rechtslage haben. Und auch der Rat der Weisen hat ja beim Fall Bangemann – obwohl mehrfach der Verdacht bestand, daß da was vorliegt – nichts gefunden. Die Schwierigkeit ist, daß der Verhaltenskodex, den die EU-Kommissare unterschreiben, viel zu vage ist. Wir brauchen einen klaren Verhaltenskodex, der natürlich auch beinhaltet, daß ein Kommissar hinterher, nach seiner Amtszeit, nicht eine Stellung angeht in dem Bereich, in dem er vorher gearbeitet hat. Das muß klar sein, dazu muß er sich verpflichten. Ich habe in diesem Wahlkampf gemerkt, daß viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Land äußerst mißtrauisch sind, was die europäischen Institutionen angehen. Und ein Fall wie Bangemann nährt natürlich dieses Mißtrauen enorm.

    Capellan: Das wäre gerade die Frage: Martin Bangemann hat möglicherweise der EU-Kommission und der Glaubwürdigkeit dieser Kommission mit diesem Rücktritt den Gnadenstoß gegeben.

    Rühle: Richtig. Und dann kommt natürlich noch dazu, daß kaum getrennt wird zwischen den einzelnen Institutionen, auch das wurde mir im Wahlkampf deutlich. Europaparlament, Europäische Kommission – es wird alles eigentlich in einen Topf, geschmissen, und das Mißtrauen gegenüber allen europäischen Institutionen wächst enorm. Das hat ja auch die niedrige Wahlbeteiligung gezeigt. Wir müssen hier etwas machen. Wir brauchen transparente Verfahren, durchsichtige Verfahren auf allen Ebenen. Die Rechte des Europäischen Gerichtshofes müssen gestärkt werden, in Verdachtsmomenten ermitteln zu können.

    Capellan: Da ist die EU-Kommission vor einigen Monaten in Schimpf und Schande zurückgetreten. Aber um seine Zukunft braucht sich wohl niemand zu sorgen?

    Rühle: Insgesamt muß man feststellen, daß die Kommissare eigentlich sehr gut verdienen – was ja richtig ist. Wir sind ja immer dafür, sie gut zu bezahlen, damit eben solche Interessenlagen bei späteren Beschäftigungen keinen wichtigen Stellenwert spielen dürfen. Aber dann brauchen wir auch einen Verhaltenskodex, der so etwas ausschließt, daß diese Kommissare hinterher nicht in Bereichen in der Privatindustrie beschäftigt werden dürfen, die sie vorher bearbeitet haben.

    Capellan: Könnten da die Amerikaner möglicherweise ein Vorbild sein?

    Rühle: Richtig. Die Amerikaner haben das ja sogar im Bereich der Wirtschaft. Auch dort ist es ganz klar, daß solche Interessenlagen ausgeschlossen sein müssen. Insiderwissen darf nicht benutzt werden können für die nächste Einstellung.

    Capellan: Sie haben es gesagt: Die Glaubwürdigkeit Europas steht auf dem Spiel, wieder einmal. Aber dafür sorgt natürlich auch das Gerede und Gerangel um die Besetzung der neuen Kommission, und daran ist ja auch Ihre Partei, daran sind die Grünen nicht unbeteiligt. Wäre es nicht sinnvoller, wenn man sich vorher einigt, ob nun die SPD und die Grünen oder ob die Union einen Kommissar stellen, ehe man das in der Öffentlichkeit austrägt, diese Debatte?

    Rühle: Völlig richtig. Nur, wir haben immer gesagt: Das kommt in erster Linie darauf an, daß wir kompetente Personen haben, Personen, die Verwaltungserfahrung haben, Personen, die Fachwissen haben, Personen, die diplomatisches Geschick haben. Wir sind der Meinung, wir haben dazu eine gute Kandidatin. Wir fanden es ärgerlich, daß so etwas – also ich persönlich fand es besonders ärgerlich, daß gerade im Europa-Wahlkampf diese Frage so eine Rolle gespielt hat, weil natürlich sehr viel wichtiger ist, daß man sich da verständigt, auch mit Herrn Prodi verständigt. Auf der anderen Seite ist eines auch klar: Die Grünen haben europaweit als viertstärkste Partei abgeschlossen. Sie müssen in dieser neuen Kommission vertreten sein. Wir brauchen dort mehr Pluralismus. Wir waren die Partei, die am meisten für transparente Verfahren gekämpft hat, die auch Vorschläge entwickelt hat für einen Verhaltenskodex auf europäischer Ebene. Und deshalb denken wir schon, daß diese neue Kommission mit dem Neuanfang auch die Grünen mit einbeziehen muß.

    Capellan: Auf der anderen Seite haben natürlich die Grünen bei der Europawahl in Deutschland erhebliche Verluste hinnehmen müssen, während die Union zehn Prozent zugelegt hat. Das spricht im Grunde schon dafür, daß auch die CDU/CSU einen Kandidaten stellen könnte.

    Rühle: Ja, Sie müssen aber eines sehen: Unsere Kommissarin steht ja nicht nur für die deutschen Grünen, sie steht ja für alle Grünen, bis hin zu Frankreich – mit einem sehr guten Ergebnis wieder eingezogen, da waren wir ja fünf Jahre nicht mehr vertreten. Wir haben in anderen Ländern enorm zugelegt. Wir haben jetzt – wie gesagt – als viertstärkste Partei abgeschlossen. Wir haben 38 Abgeordnete, wir werden wahrscheinlich noch mit den Regionalisten zusammengehen. Von daher sind wir in Europa inzwischen eine starke Kraft. Und wir sind der Meinung, daß diese Kommission wirklich pluralistisch zusammengesetzt werden muß.

    Capellan: Aber das könnte ja auch gelten für einen deutschen Konservativen in der Kommission . . .

    Rühle: . . . aber da müßte man sich überlegen, in welcher Weise das zum Tragen kommen kann. Es kann nicht zu Lasten der Grünen gehen. Wir haben einen einzigen Vorschlag, während die Konservativen – auch sie müssen sich ja als europäische Partei sehen – mit Chris Petton zum Beispiel aus Großbritannien einen Vorschlag haben. Und auch da braucht es einen Ausgleich. Wir wollen nicht, daß die großen Parteien die Kommissionsposten unter sich alleine ausmachen – die Europäische Volkspartei und die Sozialisten –, weil wir der Meinung sind, das spiegelt nicht den Pluralismus im Europaparlament wider.

    Capellan:

    Romano Prodi, der designierte EU-Kommissionspräsident, hat sich gestern abend mit Bundeskanzler Gerhard Schröder getroffen. Auch er ist offenbar nicht angetan von Ihrem Vorschlag, eine grüne Kandidatin nach Brüssel zu schicken. Also, wie könnte dieser Streit ausgehen? Müssen möglicherweise die Sozialdemokraten verzichten?

    Rühle: Ich würde niemals dem Koalitionspartner öffentlich einen Vorschlag in diese Richtung machen. Ich glaube nicht, daß wir das öffentlich austragen sollten. Wir müssen uns natürlich überlegen, in welcher Form wir die stärkere Rolle der Christdemokraten im Europäischen Parlament einbinden können. Aber, was Herrn Prodi angeht: Da werden immer wieder Gerüchte gestreut, er hätte etwas gegen die grüne Kandidatin. Wir haben ihn mehrfach gefragt. Es gab persönliche Gespräche. Uns persönlich hat er so etwas nie gesagt. Wir haben den Eindruck, er wird da auch als Kronzeuge verwendet, ohne daß man ihn direkt fragt. Er hält sich bedeckt, zu recht bedeckt. Er muß natürlich schauen, daß er eine gut zusammengesetzte Kommission bekommt. Diese Kommission muß dieses Mal auch im Europäischen Parlament auf sehr viel direktere Einflußnahme sich gefaßt machen. Das Europäische Parlament hat ja das erste Mal das Recht, einen Vorschlag des Kommissionspräsidenten zurückzuweisen. Deshalb muß er jetzt im Vorfeld vorsichtig sein und mit allen Beteiligten reden.

    Capellan: Dennoch – diese ganze Diskussion hatte auch wieder viel Porzellan zerschlagen mit Blick auf die europäischen Wähler.

    Rühle: Richtig, also das bedaure ich sehr. Ich hoffe auch, daß wir künftig ein Verfahren hinbekommen, wonach finale Interessen eine geringere Rolle spielen, Kompetenz eine größere Rolle spielt. Sie müssen aber auch eines sehen: Diese Verfahren gibt es noch nicht. Durch den Rücktritt der Kommission und die Neuwahl des Europäischen Parlamentes verging sehr viel Zeit. Und in so einer Zeit werden natürlich auch öffentliche Debatten zur Besetzung geführt. Je länger so eine öffentliche Debatte geführt wird – das wissen wir alle aus Erfahrung –, desto schwieriger ist es, sie nachher wieder zu bündeln. Und wir hoffen, daß so etwas künftig schneller geht, daß so etwas direkter geht, und daß das Europäische Parlament in seiner Rolle stärker eingebunden wird.

    Capellan: Heide Rühle war das, neu gewählt ins Europäische Parlament. Sie war Spitzenkandidatin der deutschen Grünen bei der Europawahl. Frau Rühle, vielen Dank. Auf Wiederhören.