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"Der stille Amerikaner"
Von bemerkenswerter Aktualität

Graham Greene schrieb viele weltbekannte Romane, nun liegt die neue Übersetzung von "Der stille Amerikaner" vor. Die Geschichte ist von bemerkenswerter Aktualität - für den Rest seines Lebens wurde Greene dafür vom amerikanischen Geheimdienst überwacht.

Von Jochen Schimmang | 29.01.2014
    Der britische Schriftsteller Graham Greene, aufgenommen am 22. Februar 1984
    Der britische Schriftsteller Graham Greene, aufgenommen am 22. Februar 1984 (dpa / picture-alliance / PA)
    Wir schreiben das Jahr 1952, und doch kommt einem alles nicht nur merkwürdig bekannt, sondern auch ebenso aktuell vor. Es geht um geheimdienstliche Aktivitäten, unübersichtliche Machtverhältnisse, Demokratieexport und propagandistisch kalkulierten Terror. In Vietnam herrscht noch die französische Kolonialmacht, verliert jedoch zusehends an Boden und wird zwei Jahre später in der Schlacht von Dien Bien Phu vernichtend geschlagen werden.
    Greenes Meisterwerk
    Zugleich haben sich schon die Amerikaner im Land niedergelassen, zum Beispiel mit einer Handelsmission in Saigon, und dort fängt ein neuer Mitarbeiter namens Pyle an, ein junger Professorensohn aus Boston, der an die Demokratie und die westlichen Werte glaubt und daran, dass man ihre Segnungen hinaus tragen müsse in alle Welt.
    Wie gesagt, es kommt einem alles merkwürdig bekannt vor. "Der stille Amerikaner", von dem hier die Rede ist, erstmals 1955 erschienen, ist aber nicht nur Graham Greenes aktuellster Roman, sondern auch sein Meisterwerk. Und es ist gut, dass er jetzt in einer Neuübersetzung von Nikolaus Stingl wieder auf Deutsch vorliegt.
    Typische Romaneröffnung
    "Nach dem Essen saß ich in meinem Zimmer in der Rue Cantinat und wartete auf Pyle. "Spätestens um zehn bin ich bei Ihnen", hatte er gesagt, und als es Mitternacht schlug, konnte ich nicht mehr still sitzen und ging auf die Straße hinunter. Auf dem Treppenabsatz hockten jede Menge alter Frauen in schwarzen Hosen: Es war Februar, vermutlich war es ihnen im Bett zu heiß. Ein Fahrradrikscha-Fahrer strampelte gemächlich vorbei in Richtung Flussufer …"
    Das ist so eine ganz typische Romaneröffnung von Graham Greene. Wir wissen noch nicht, wer Pyle ist und wo die Rue Cantinat sich befindet, aber unser Interesse ist schon geweckt. Die alten Frauen auf der Treppe, denen es im Februar zu heiß ist, deuten darauf hin, dass wir uns auf der südlichen Halbkugel befinden, und der Rikschafahrer schließlich verweist auf Asien. Im nächsten Absatz wird eine junge Frau namens Phuong eingeführt, die auch auf Pyle wartet, und zusammen mit dem Erzähler ist damit das wesentliche Personendreieck für das Kammerspiel, das Greene nun aufführen wird, schon skizziert. Der Erzähler, an dessen Hand wir vertrauensvoll in die Geschichte einsteigen, ist der englische Journalist Thomas Fowler. Viel später wird sich herausstellen, dass es sich um einen höchst unzuverlässigen Erzähler handelt, der erst gegen Ende seine Karten aufdeckt.
    Fowler ist nicht auf der Seite von irgendjemandem. Er ist Reporter und verachtet die Leitartikler, die auf Basis schlechter Informationen Meinungen vertreten und verbreiten. "Ich habe keine politischen Ansichten", sagt er an einer Stelle. Er weiß, dass es nicht die Guten und die Bösen gibt, sondern nur die Schlauen und die Dummen, die Starken und die Schwachen.
    Eine Liebe, beruhend auf Gewohnheit und Verlässlichkeit
    Natürlich ist die amerikanische Handelsmission eine Deckadresse des amerikanischen Geheimdienstes. Eine sogenannte dritte Kraft soll unterstützt werden, ein Warlord, den man sich ausgesucht hat, um den Sieg der Kommunisten zu verhindern. Die sollen diskreditiert werden, indem man ihnen Sprengstoffanschläge unterschiebt, die man selbst ausgeführt hat. Hier kommt Pyle ins Spiel, der seinerseits wirklich an die Guten und die Bösen glaubt. Pyle ist aufrichtig, und sein naiver Glaube an die westlichen Werte rührt Fowler, auch wenn er ihn zugleich auf die Palme treibt.
    Eine seltsam asymmetrische Freundschaft entsteht zwischen den beiden Männern, die dadurch kompliziert wird, dass Pyle sich in Fowlers Geliebte Phuong verliebt. Phuong möchte einfach nur einen Weißen heiraten. Fowler ist in England verheiratet, und seine Frau willigt in eine Scheidung nicht ein. Die beiden leben trotzdem zusammen. Das ist eine wortarme, auf Gewohnheit und Verlässlichkeit beruhende Liebe, die sich unter anderem darin manifestiert, dass Phuong ihrem Gefährten jeden Abend seine Opiumpfeifchen stopft. Diese Balance stört Pyle mit seinem Werben, der Phuong nach Boston mitnehmen will.
    "Ich wusste nicht recht, ob mir Phuong leidtun sollte oder nicht – sie hatte sich so auf die Wolkenkratzer und die Freiheitsstatue gefreut, aber so wenig Ahnung davon, was das alles mit sich bringen würde, Professor und Mrs. Pyle, die Damenklub; würden sie ihr Canasta beibringen?"
    Phuong, die einzig wirklich unschuldige Figur in diesem Roman, weiß übrigens weder von Amerika noch von England Genaues. Sie ist sich nicht sicher, ob die Freiheitsstatue in London oder New York steht. Nur über Prinzessin Margaret und die königliche Familie ist sie dank der einschlägigen Blätter bestens im Bilde.
    Politische Situation eskaliert
    Die politische Situation eskaliert derweil, und aufgrund von Pyles glühendem Glauben an die westlichen Werte kommen mehr als fünfzig völlig unschuldige Menschen ums Leben, darunter auch Kinder. Das ist der Moment, in dem der unbeteiligte Beobachter Fowler aktiv werden wird und sich zudem als unzuverlässiger Erzähler erweist.
    Die Details sollen nicht verraten werden. Dass Graham Greene nach der Publikation dieses Romans bis zu seinem Tode vom amerikanischen Geheimdienst überwacht wurde, versteht sich für jeden, der ihn gelesen hat, von selbst. Es ist aber nicht allein die unveränderte Aktualität dieser Geschichte, die meiner unbedingten Leseempfehlung zugrunde liegt. Viel wichtiger ist seine perfekte, angesichts der dort abgehandelten Ereignisse fast graziös zu nennende Konstruktion und seine Musikalität, die in der Neuübersetzung sehr gut zur Geltung kommt. Es gibt keinen falschen Zungenschlag, kein missratenes Detail, kein falsches Tempo, keinen schleppenden Dialog und keinen Manierismus in diesem Buch, auch nicht den des abgebrühten Zynikers. Geschrieben aus dem Herzen der Finsternis, leuchtet dieser Roman wie kein anderer in Greenes Werk.
    Graham Greene: "Der stille Amerikaner"
    Zsolnay Verlag Wien, 254 Seiten, 19,90 €.