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"Der Tango gab den Ton an"

In Richard Wagners jüngstem Roman "Belüge mich" geht es um eine Welt des Scheins. Wagner verließ 1987 zusammen mit Herta Müller Rumänien. Die Bespitzelungen und Drangsalierungen haben auch in diesem Buch ihre Spuren hinterlassen.

Von Lerke von Saalfeld | 21.06.2011
    Der jüngste Roman von Richard Wagner behandelt ein altes Thema: die Securitate in Rumänien und all ihre krakenartigen Verflechtungen. Richard Wagner verließ 1987 zusammen mit Herta Müller das Land, als verfolgte Banater Schwaben haben sie einschlägige Erfahrungen machen müssen, die bis in die jüngste Vergangenheit reichen. Der unfreie Geist, die permanenten Bespitzelungen und Drangsalierungen haben auch im neuen Roman von Richard Wagner ihre Spuren hinterlassen:

    "Das spielte natürlich eine Rolle. Vor drei Jahren habe ich meine eigenen Akten gelesen und danach habe ich auch andere Akten gelesen. Und irgendwann war mir das Ganze etwas unheimlich, was ich da gelesen habe. Besonders was diese Verstrickungen im Roman betrifft, der einzelnen Personen, das sind so Sachen, die mit den Erfahrungen aus den Akten zu tun haben, das stimmt."

    Die Geheimdienst-Verwicklungen beginnen in Wagners Roman in den 30er-Jahren und reichen bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Biografien seiner Protagonisten tragen bewusst oder unbewusst an dieser Last. Die meisten wollen mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben, verdrängen sie, schieben sie beiseite. Aber vergeblich. Wie in der Wirklichkeit, als zum Beispiel in den letzten Jahren ans Tageslicht kam, dass die Schriftsteller Werner Söllner und Oskar Pastior - bis dahin scheinbar vollkommen unbescholtene Menschen - auch zu den Zuträgern und Informanten der Sicherheitspolizei gehörten und im Kreis der befreundeten Schriftsteller ihr Unwesen getrieben hatten. In Richard Wagners Roman mit dem anspielungsreichen Titel "Belüge mich" verdichtet sich das Netz der Bespitzelungen auf unheimliche Weise, wird immer enger und enger - so wie es sich auch in der rumänischen Realität abspielte:

    "Je mehr man eindringt in diese Sachen, desto undurchsichtiger werden sie. Es ist ein völliges Dickicht, das sich ergeben hat für die Menschen dieser Gesellschaft, diese Undurchdringlichkeit, die die Apparate erzeugt haben, und indem sie die Menschen in die Apparate hineingezwungen haben, beziehungsweise sie sich auch hineinzwingen ließen. Es gibt ja große Unterschiede zwischen den Leuten, wie sie reagieren. Für mich war das Frappierende, nachdem ich mich mit diesen Akten beschäftigt hatte, zu sehen, dass gerade Leute, die in der öffentlichen Moral eine Rolle spielten, da zu tiefst verstrickt waren, während andere, bei denen man es gar nicht erwartete, die waren viel einfacher, simpler aber auch kategorischer in ihrem Verhalten. Das wollte ich beschreiben."

    Die junge Journalistin Sandra Horn wird im Mai 2005 von ihrer Redaktion einer Münchner Frauenzeitschrift nach Bukarest geschickt, um dort eine Parallel-Zeitschrift aufzubauen. Sandra hat im Alter von 14 Jahren Rumänien mit ihren Eltern verlassen. Zwanzig Jahre sind seit der Ausreise vergangen, aber sie spricht rumänisch und ist prädestiniert für diese Aufgabe, denn familiär gibt es immer noch Verbindungen in die alte Heimat. In Bukarest trifft sie auf den einst angehimmelten Marcel, der inzwischen mit ihrer besten Schulfreundin verheiratet ist. Marcel ist ein erfolgreicher Anwalt, der alle Schlichen und Tricks der neuen Gesellschaft kennt und natürlich beste Beziehungen hat. Er öffnet Sandra den Weg, eine alte, insolvente Zeitschrift zu übernehmen und das neue Organ mit Namen "Lauretta" aufzubauen, ihre leitende Redakteurin wird Vicky, die einstige Freundin und jetzt verkappte Rivalin. Sandra lebt im Haus ihres Großvaters Ypsilon Horn, das trotz kommunistischer Zeiten im Besitz der Familie blieb - warum, weiß keiner so genau - und von ihrem Vater renoviert wurde. Als Sandra sich die Muße nimmt, das Einfamilienhaus genauer zu inspizieren, macht sie beunruhigende Entdeckungen. Sie findet einen Raum, in dem noch das handschriftliche Archiv ihres Großvaters aufbewahrt ist. Dieser Großvater war in den 30er-Jahren einer der besten Verhörspezialisten und Kommunistenjäger; nach dem Krieg diente er sich erfolgreich dem neuen Regime an und jagte nun die Antikommunisten. In dem von ihm ererbten Privathaus macht Sandra eine noch schrecklichere Entdeckung: im Keller befinden sich lauter kleine Zellen, ein Privatgefängnis, wozu auch immer es benutzt worden sein mag.

    Sandra möchte in ihrer neuen Frauenzeitschrift historische Frauen porträtieren und stößt auf die Sängerin Lauretta, die in den 30er-Jahren die Bukarester Männerwelt verzauberte, ihr Vater war Vorsitzender der kommunistischen Partei, eine Art Salonkommunist. Über diese Frau hat der Vater von Marcel, ein Historiker, in den sechziger Jahren einen Schlüsselroman geschrieben, denn der Großvater von Marcel, ein Architekt, war einst der Geliebte dieser mondänen Lauretta, die plötzlich 1938 an Zyankali zugrunde geht. Ob Mord oder Selbstmord, wird nie aufgeklärt, aber sicher ist, auch der damalige Kommunistenjäger Ypsilon Horn, der Großvater von Sandra, hat seine Finger mit im Spiel. Richard Wagner mutet es dem Leser zu, sich in immer verwickeltere Geschichten und Beziehungen einzulassen, denn so war auch das Bukarester Leben durchzogen von Lug und Trug, von Opportunismus, Verrat, Misstrauen und Vernichtungswillen.

    "Es ist im Grunde ein Phänomen des Laissez-faire, des scheinbaren Salon-Phänomens, also der Ideologie von solchen Leuten, nicht ganz ernst genommen, aber umso gefährlicher, denn wenn es drauf ankommt, dann funktionieren sie. Das zeigt sich ja auch in der Figur des Ypsilon Horn, der Leiter der Abteilung für die Bekämpfung der Kommunisten ist und später die Kommunisten hart trainiert in ihrem neuen Geheimdienst. Das macht er alles bruchlos. Die Frage ist für mich und für diese Leute,, die ja diese Diskussionen in Osteuropa kennen, was war eigentlich diese Zwischenkriegszeit, was ist da passiert. Die einen sagen, ja, das waren Faschisten; die anderen sagen, es waren Nationalhelden - und man kann sich nicht einigen, und man wird sich auch nicht einigen können. Man muss das einfach so sehen, wie es ist, es ist die Geschichte."

    Das ist keine tröstliche, sondern eine bittere Erkenntnis, auch die Einsicht, alles beruhe auf der Lüge. Geschichte und Wahrheit sind für Richard Wagner als Fazit der rumänischen Geschichte zwei nicht vereinbare Kategorien, jedenfalls dann, wenn man in der Diktatur aufgewachsen ist wie Vicky, die einstige Freundin, die Sandra immer wieder belehren muss, dass Wahrheit nichts mit der Geschichte zu tun habe, da gelten andere Gesetze, die Sandra nicht mehr verstehe, sie sei durch ihre Ausreise aus dem Takt gekommen. Und Marcel klärt Sandra auf:

    "Was bei Euch als Interessenausgleich verstanden wird, ist bei uns Hass und Neid. Ungezügelter Hass und blanker Neid. Bei euch sitzen Verhandlungspartner am Tisch, bei uns sind es Lügner und Betrüger."

    Das hat eine lange Tradition, wie Marcel an anderer Stelle im Roman sarkastisch feststellt:

    "Wir sind die Enkel all dieser Schurken und Schufte, Feiglinge und Schlitzohren, Schlaumeier und Marx-Kenner, all dieser Opfer und Semi-Opfer, Täter und Semi-Täter. Wir sind die Enkel und wissen nichts. Und was können wir tun? Unsere Aufgabe ist es, hier, im Niemandsland, die zivile Gesellschaft einzurichten. Das ist Strafe genug! Es ist unser Leben, und aussuchen können wir uns erst recht nichts. Tango!"

    Tango - Ausrufezeichen. Der Titel des Romans "Belüge mich" ist der Titel eines beliebten Tangos aus den 30er-Jahren.

    "Der Tango im Roman ist eine zentrale Angelegenheit und in der Realität, mit der der Roman zu tun hat, ebenso. Das ist in den 30er-Jahren die Musik gewesen in Bukarest, die Musik der Innenstadt, das, was die Elite da gehört hat. Der Tango gab den Ton an."

    Es geht um eine Welt des Scheins, der Künstlichkeit. Man will an der Spitze der Moderne sein, aber die Voraussetzungen stimmen nicht, Richard Wagner hat einen aufregenden Roman aus wahrer und fiktiver Vergangenheit und Gegenwart geschrieben. Für viele seiner Figuren gibt es reale Vorbilder, nur die Namen sind verändert. Die Tango-Sängerin existierte. Man kann sich als Leser aber auch irren: Wenn zum Beispiel vom Dissidenten D. in Paris die Rede ist, der früher faschistisch verstrickt war, liegt die Vermutung nahe, es handle sich um Cioran - stimmt aber nicht, der Dichter Vintila Horia ist gemeint, wie Wagner versichert. Andere Personen sind frei erfunden und runden das Bild der postkommunistischen Gesellschaft ab, nicht ohne wachsende Spannung. So wird Marcel gegen Ende des Romans ermordet aufgefunden, Tod durch Zyankali, Sandra wird des Mordes an ihm verdächtigt und kommt ins Gefängnis. Aber halb so schlimm, sie kommt wieder frei, denn der Autor hat etwas anderes im Sinn:

    "Das 'Belüge mich' ist der Ausdruck der Telenovela, das ist das Leitmotiv. In Rumänien war es so, in den 90er-Jahren, nach dem Ende des Kommunismus war die Telenovela die beliebteste Form des Fernsehens. Das ist eine Grundstruktur für mich geworden, mit der man erfasst, was das triviale Leben darstellt, diese Trivialität, die dann in einer Gesellschaft besonders deutlich wird, wenn das Ideologische keine Rolle mehr spielt. Vorher wurde den Leuten ständig eingehämmert, dass sie an einer wichtigen Aufgabe beteiligt sind, am Kommunismus, und danach ist nichts mehr. Dann können sie sich nur noch gegenseitig fragen, wer betrügt, wer lügt und wie."

    Richard Wagner: Belüge mich. Aufbau Verlag, 313 Seiten, 22,95 Euro