Donnerstag, 18. April 2024

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Der Verkehrsminister und die Wutbürger

Der Protest gegen Stuttgart 21 hat die Grünen in Baden-Württemberg in die Regierung katapultiert. "Ich bin getragen worden von einer unglaublich aktiven und kundigen Bürgerbewegung", sagt Verkehrsminister Winfried Hermann. "Da überschätzt man dann auch die eigenen Möglichkeiten." Beim Volksentscheid stimmte die Mehrheit für das Bahnhofsprojekt.

Winfried Hermann im Gespräch mit Dirk Müller | 31.12.2011
    Dirk Müller: Der Wutbürger ändert irgendwie alles in Baden-Württemberg. Heftige Proteste gegen Stuttgart 21, eine Polizei, die völlig überzogen reagiert, eine CDU-geführte Regierung, die völlig überfordert ist, das Problem unterschätzt. Die Quittung kommt bei den Landtagswahlen im März. Die Grünen gewinnen die Wahlen, können gemeinsam mit den Sozialdemokraten regieren, ein Erdrutsch im Musterländle. Neuer Verkehrsminister wird der grüne Bundestagsabgeordnete Winfried Hermann, ein halbes Jahr später der empfindliche Rückschlag für den Bahnhofsgegner. Eine Volksabstimmung entscheidet, Stuttgart 21 kommt doch. Über sein Jahr 2011 wollen wir nun mit Winfried Hermann sprechen, er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!

    Winfried Hermann: Guten Morgen!

    Müller: Herr Hermann, einmal Minister sein, ist das eine Art politischer Traum gewesen?

    Hermann: Nein. Nein, ich hab ja lange Politik im Bundestag gemacht und war auch früher im Landtag, war Landesvorsitzender, aber sicherlich war die Herausforderung, in der Regierung Politik zu machen, schon noch mal etwas Neues.

    Müller: Wie ist das jetzt, wenn man nicht mehr so viel kritisieren darf, sondern vor allem entscheiden muss?

    Hermann: Also das habe ich eigentlich als eine besondere Bereicherung auch empfunden, dass man was entscheiden kann. Viele Dinge kann man tatsächlich als Regierungsmitglied direkt entscheiden, andere Sachen, da merkt man, dass man in einem Netzwerk von Entscheidungen drinsteckt und gar nicht so frei ist. Und es ist dann auch wirklich die Verantwortung, die dann einem zuwächst, und man andere auch lenken kann oder andere zu Handlungen bringen kann, das ist auch was, was eine neue Qualität ist in der Politik für mich.

    Müller: Ist das für Sie der bis jetzt komplizierteste Job?

    Hermann: Ja, mit Sicherheit, mit Abstand. Es war auch sicherlich mein aufregendstes und anstrengendes politisches Jahr, es war auch ... Ich hab mich ja schon drauf eingestellt, ich war ja nicht naiv und hab mich da auf den Job eingelassen nach dem Motto "mal Minister werden, das wird ganz schön sein". Sondern ich wusste, ich lass mich da auf einen Feuerstuhl ein. Und viele haben gesagt, spinnst du, wie kann man sich auf so eine Situation einlassen, da kann man ja nur verlieren. Aber ich war dann doch für mich selber auch überrascht, wie sehr ich also auch den Angriffen der Opposition ausgesetzt war, wenn man quasi im Wochen- oder manchmal im Tagesrhythmus Rücktrittsforderungen begegnen muss. Das war schon sehr viel härter, als ich vermutet hatte.

    Müller: Haben Sie im November nach der Volksentscheidung für Stuttgart 21 an den Rücktritt gedacht?

    Hermann: Nein, keinen Augenblick, weil ich von Anfang an mir bewusst war, dass wenn man die Entscheidung der Bevölkerung sucht, dass man dann auch damit leben muss, dass die Bevölkerung anders entscheidet, als man das selber für richtig hält. Und ich war mir ja doch auch sehr bewusst, dass im Landtag drei Parteien saßen, die dieses Projekt unbedingt haben wollten, dass die Wirtschaft das Projekt unbedingt haben wollte, dass die vielen Bürgermeister, Landräte sich für Stuttgart 21 starkgemacht haben und dass wir Grünen ja am Ende nicht mit 50 Prozent an die Regierung gekommen sind, sondern was viele vergessen haben, wir haben ja ein bisschen mehr als 24 Prozent und stellen den Ministerpräsidenten. Das ist für Grüne sehr gut, aber es ist halt nicht die Mehrheit, und damit musste man auch rechnen, dass man nicht unbedingt die Mehrheit findet. Am Ende waren etwa 41 Prozent wie wir der Meinung, dass man dieses Gesetz für Stuttgart 21, dass man kündigen soll, von Stuttgart 21 rausgehen soll, und es ist dann doch fast doppelt so viel gewesen, wie wir sonst in der Bevölkerung verankert sind. Und insofern war es dann doch auch wieder ein Erfolg.

    Müller: Haben Sie denn jetzt rückblickend - also am 31.12. rückblickend - auf das Jahr 2011 die Stimmung in der Bevölkerung kontra Stuttgart 21 in gewissen Teilen, in gewissen Phasen überschätzt, falsch eingeschätzt?

    Hermann: Also für mich kann ich das schon sagen. Ich war sehr optimistisch bis zum Schluss, hab geglaubt, man kann es schaffen, war natürlich auch in vielen Veranstaltungen und bin getragen worden von einer unglaublich aktiven und kundigen Bürgerbewegung. Und das macht einen sicherlich auch ein bisschen blind, weil man natürlich immer bei den Veranstaltungen ist der eigenen Leute und hatte dann das Gefühl, man mobilisiert. Und die Veranstaltungen waren ja besser besucht als jede Wahlveranstaltung je zuvor, das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man nicht in Baden-Württemberg gelebt hat, was da los war, wie breit das Interesse der Bevölkerung war. Und da überschätzt man dann auch die eigenen Möglichkeiten. Und was ich auch unterschätzt hab, das ist die Mobilisierungsfähigkeit der Befürworter und auch derer, die im März abgewählt wurden.

    Müller: Jetzt sind Sie Minister in Baden-Württemberg, in Ihrem Stammländle, im Musterländle. Ist jetzt das Leben für Sie anstrengender geworden?

    Hermann: Das auf jeden Fall, denn man läuft jetzt ... Also ich bin einfach sehr viel bekannter geworden, man ist nicht mehr anonym, man wird beobachtet, und jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt und auch gerne missgedeutet, sozusagen je nach Interessenlage. Das macht es schon anstrengender. Ich hab immer gesagt, das Schönste am Abgeordneten für mich waren im Rückblick betrachtet, dass man immer sagen kann, was man will, als Minister kann man das dann leider so nicht mehr. Aber ich versuche, weiterhin gradlinig zu bleiben und keinen typischen Polit-Slang zu sprechen. Das empfinde ich nach wie vor als schrecklich. Und ich weiß auch, dass die Menschen diese Art von Politiker nicht haben wollen.

    Müller: Könnte man das so sagen, Herr Hermann, dass Sie sich im Grunde auch jeden Tag, zumindest wenn Sie in der Öffentlichkeit auftreten, wenn Sie beispielsweise Pressekonferenzen geben, dass Sie sich doch irgendwie, weil Sie so viel Energie haben, zügeln müssen?

    Hermann: Ja, man braucht tatsächlich viel Energie dafür, dass man bestimmte Sachen nicht sagt. Also wenn man, um das mal praktisch zu machen, wenn Sie ständig mit Dreck beworfen werden, auch im Parlament und unter der Gürtellinie angegriffen werden, sehr persönlich oft, da nicht zurückzuschlagen, sondern Ruhe zu bewahren und zu sagen, das ist nicht mein Stil, das ist nicht mein Niveau, ich bleibe sachlich, das kostet wirklich Kraft, und das hat mich auch Kraft gekostet. Und deswegen freue ich mich jetzt auch auf ein paar Tage Urlaub.

    Müller: Ist das die ganze Wahrheit, "nicht sagen"?

    Hermann: Man muss natürlich schon trotzdem einen Weg finden, wie man bestimmte Sachen dann so formuliert, dass sie für diejenigen, die gemeint sind, akzeptabel sind, und man muss in bestimmten Bereichen auch - da stehe ich nach wie vor dazu - zur Offenheit stehen. Also etwa bei den Kosten des Projektes lasse ich strikt auf Kostenwahrheit achten. Das wird eine große Herausforderung sein, und wir haben uns auch vorgenommen zu zeigen, in diesen Teilen, die noch nicht planfestgestellt sind - das ist im Bereich Flughafen Stuttgart und Filder -, dass wir dort eine andere Art von Beteiligung schon praktizieren und auch Varianten durchdiskutieren, auch zu besseren Teilen kommen. Wir wollen das Projekt schon wirklich auch noch verbessern, da geht schon einiges noch, da gibt es noch einiges zu tun.

    Müller: 2012 wird dann vielleicht noch anstrengender als 2011?

    Hermann: Na, das hoffe ich nicht, aber ich rechne schon damit, dass es ein anstrengendes Jahr wird. Aber es wird auch ein Jahr der anderen politischen Themen sein. Also ich freue mich auch natürlich drauf, dass ich endlich zum Beispiel eine richtig offensive Politik für Fahrradfahren machen möchte, dass man im Bereich des Straßenbaus auch eine Wende einleitet, weg vom Neubau, hin zu Sanierung, dass wir das Konzept der nachhaltigen Mobilität und vor allem auch der Elektromobilität in Baden-Württemberg beispielhaft nach vorne treiben wollen, dass wir im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs eine Modernisierung einleiten wollen, also kundenfreundlicher werden wollen. Da hat ja ein Bundesland viel zu sagen beim Schienenverkehr, aber auch sonst im Nahverkehr haben wir Gestaltungsmöglichkeiten. Und da möchte ich wirklich rangehen, das ist alles vorbereitet und war überlagert im vergangenen Jahr eben durch Stuttgart 21.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg, Winfried Hermann. Vielen Dank für das Gespräch und Ihnen einen guten Rutsch!

    Hermann: Vielen Dank, gleichfalls, alles Gute!

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