Freitag, 26. April 2024

Archiv


"Der Voyeurismus ist immer noch lebendig"

Friedrich Nowottny, zur Zeit des Gladbeck-Geiseldramas Intendant des WDR, warnt davor, dass sich die Medien bei einem vergleichbaren Ereignis auch heute wieder unseriös verhalten könnten. "Ich traue nicht den Schwüren, dass sich so etwas journalistisch und publizistisch nicht wiederholen würde", so Nowottny. In der Branche gehe es weiterhin in erster Linie um die Frage: Habe ich die Story?

Jürgen Zurheide im Gespräch mit Friedrich Nowottny | 16.08.2008
    Jürgen Zurheide: Herr Nowottny, Sie waren damals Intendant des Westdeutschen Rundfunks, vor Ihren Augen spielte sich das ab. Erinnern Sie eigentlich noch, wann Sie das erste Mal im Haus damit konfrontiert worden sind: Ja, was machen wir da? Gehen wir da ran, gehen wir da nicht ran? Haben Sie das noch präsent?

    Friedrich Nowottny: Die Redaktion des Westdeutschen Rundfunks war ja praktisch nebenan.

    Zurheide: Richtig.

    Nowottny: Und die Reporter standen auch in der Breite Straße und haben sich um Bilder bemüht. Die Frage, ob die Bilder gesendet werden oder nicht, hat die Redaktion entschieden. Und man ist sehr sorgsam damit umgegangen, im ersten Moment. Das löste sich dann im Laufe des Tages auf und führte zu der Berichterstattung, die wir kennen, in der Presse, im Radio, im Fernsehen. Kein Ruhmesblatt für die Journalisten. Es ist gut, dass man daran erinnert, heute daran erinnert, wie die Sache war, wie sie angefangen und wie sie aufgehört hat.

    Zurheide: Wir kommen gleich noch auf das, was wir möglicherweise gelernt haben, wenn wir denn was gelernt haben. Damals, klarer Befund heute, wir alle sind mehr oder weniger zu weit gegangen. Kann man das so sagen? Ja.

    Nowottny: Der Guide, also der Journalist, der die ...

    Zurheide: Herr Röbel vom "Express"?

    Nowottny: ... Herr Röbel vom "Express" damals und dann von der "Bild-Zeitung", der also das Auto aus der Stadt geführt hat, hat eine schöne Formulierung gefunden. Er hat gesagt: Wir waren alle kollektiv durchgeknallt. Und ich glaube, da ist etwas dran. Und es gab ja endlose Diskussionen, auch bei uns im Haus gab es lange, lange Auseinandersetzungen und Diskussionen, die sich allein um die Frage drehten: Haben wir richtig oder haben wir falsch gehandelt? Und es kam zu Erkenntnissen, und es kam zu Seminaren, und es kam zur Veränderung des Pressekodex, wenn Sie sich erinnern, in dem es dann unter Ziffer 11, genau wie wir Deutschen sind, heißt, dass bei der Berichterstattung über Gewalttaten die Presse sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen lasse. So ähnlich heißt es. Und dann wird auch noch darauf hingewiesen, dass es Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens nicht geben darf. Das ist nun alles eine lange Zeit her. 20 Jahre sind sehr lang, und selbst wenn ich fünf Jahre angestrengter Diskussion berücksichtige, frage ich mich, wie sehr ist dieser Kodex im Bewusstsein derer, die heute als Journalisten arbeiten, die sich als solche ausgeben, ohne den Beruf möglicherweise richtig erlernt zu haben?

    Zurheide: Da sind wir genau bei der entscheidenden Frage: Haben wir irgendwas gelernt? Sie haben den Kodex angesprochen. Ich habe dieses Wort des Kollegen Heribert Kötting gerade in der Reportage noch im Ohr, der dann sagt, das bezieht er auf die Situation heute: "Auch heute viel zu oft fragen wir ja nur, wie schnell haben wir die Geschichte." Oder bei der Bewertung eines Interviews heißt es dann, das war in den 2:30 geschafft, die wir zur Verfügung gestellt haben, wenn es 2:40 war, ist es schon schlecht. Da wird dann über die Länge diskutiert und nicht so sehr über die Inhalte. Haben wir eigentlich wirklich viel gelernt?

    Nowottny: Herr Zurheide, ein Glück ist, dass wir in den letzten 20 Jahren keine Situation hatten, die vergleichbar wäre mit diesem schrecklichen Ereignis der Entführung der Geiseln und das schreckliche Ende des Dramas von Gladbeck, wie wir es heute allgemein nennen. Es ist nichts geschehen seitdem, was vergleichbar wäre. Aber es ist Wesentliches in der Publizistik geschehen. Und zwar: Das Auftauchen des Internet hat die Nachrichtengebung noch sehr viel schneller gemacht, als es damals der Fall war. Damals ging es über Telefon, und es ging über Fernschreiber und es gab Live-Schaltungen - diese schrecklichen Interviews da in Bremen werde ich nie vergessen. Das ist alles durch das Internet noch potenziert worden. Die Schnelligkeit ist potenziert worden, die laienhaften Journalistendarsteller haben sich zahllos erweitert. Es gibt die Leserreporter, die nur ihr Handy zu heben brauchen, um die Bilder zu machen und sofort zu senden. Das sind alles Geschichten, die mich nicht ruhig schlafen lassen, wenn ich daran denke, Gladbeck würde sich in irgendeiner Weise wiederholen. Ich traue nicht den Schwüren, dass sich so etwas journalistisch und publizistisch nicht wiederholen würde, um es mal kurz zu sagen.

    Zurheide: Herr Nowottny, da kommt ja immer der Satz: Ja, der Wettbewerbsdruck ist so groß. Und Sie haben gerade die Rahmenbedingungen angesprochen, die in der Tat über Internet sich da verschärft haben über die Leserreporter, die Handys, die nicht nur Fotos, sondern Filme machen, die dann auf "YouTube" und ich weiß nicht wo laufen. Aber reicht das als Erklärmuster? Müssen jetzt, sage ich mal, kollektiv wir da nicht auch was offensiv gegensetzen können und sagen: Bei uns ist Qualität wichtig und nicht nur Schnelligkeit?

    Nowottny: Herr Zurheide, ich wünschte, ich könnte mich Ihren hohen Ansprüchen bedingungslos anschließen. Ich persönlich kann das, aber ich kann Ihnen keine Garantie und Sie können keine Garantie dafür übernehmen, dass es genügend Journalisten, Publizisten gibt, die sich daran halten. Der Voyeurismus ist immer noch lebendig und unter uns. Und in unserer Branche habe ich nicht den Eindruck, dass die Seriosität zunimmt, sondern es geht, wie Sie vorhin gesagt haben, in erster Linie darum, die Frage zu beantworten: Habe ich die Story? Ja, ich habe sie und hatte sie als erster. Das ist es doch. Hier gibt es die Gefährdung der journalistischen Standards. Die gibt es immer. Und ich muss sagen, was auch heute in der Nacharbeit läuft, da höre und lese ich von diesem wunderbaren Polizeibeamten, der sagt, er hat alles in der Hand gehabt. Er hatte die Geiseln im Arm, er hätte sie aus dem Auto reißen können, und man hätte schießen können auf die Entführer. Wissen Sie, wenn ich das alles heute höre, dann erinnert mich das daran, dass damals im Grunde genommen viele Gelegenheiten auch von der Polizei verpasst worden sind, dass man jetzt versucht, so zu tun, als hätte alles sein können. Fällt mir nur ein, dass man damals in der Breiten Straße am Café Cremer, so hieß das früher, auch versucht hat, die Reporter, die dort standen, und auch die normalen Fußgänger, das ist eine Fußgängerzone, wegzudrücken. Da ist keiner da gewesen, der gesagt hat, geht doch mal weg oder macht euch aus dem Staube. Nichts ist da passiert. Ich weiß nicht, ob wir beruhigend auf uns schauen können heute als Fußgänger, als Zuschauer, als Journalisten, wenn sich Ähnliches wiederholen würde. Ich hoffe nur, dass es das nicht tun wird.

    Zurheide: Mindestens haben wir versucht, das zu reflektieren, aufzurütteln, darüber nachzudenken, in der Hoffnung, dass wir da gewisse Wirkungen erzielen. Herr Nowottny, ich bedanke mich bei Ihnen herzlich für dieses Gespräch. Danke schön.

    Nowottny: Vielen Dank, Herr Zurheide.


    Zum Thema

    Wie die Medien zwei Gangster berühmt machten
    Vor 20 Jahren ereignete sich das Gladbecker Geiseldrama
    Der tätowierte Gladbeck-Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner gibt in Köln ein Interview.
    Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner umringt von Journalisten in Köln. (AP)