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Der Widerstand gegen die Agenda 2010

    Heinlein: Die Rücktrittsdrohung des Kanzlers zeigt Wirkung. Fast geschlossen scharren sich die Spitzengenossen um ihren Vorsitzenden und auch die Kritik der Parteilinken klang zuletzt leiser als in den vergangenen Wochen. Eine Mehrheit auf dem SPD-Sonderparteitag für die Reformpläne scheint mittlerweile sicher. In den kommenden Wochen will Gerhard Schröder auch seine Fraktion auf Kurs trimmen. Im Bundestag soll es keine Überraschungen geben. Gegenwind muss der Kanzler in den kommenden Tagen und Wochen vor allem von den Gewerkschaften befürchten. Diese haben einen heißen Mai angekündigt. Lautstarken Protest wird es schon morgen auf den traditionellen Maikundgebungen geben. Reformen ja, Sozialabbau nein danke, so das Motto am Tag der Arbeit, und mit dabei der Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bau Klaus Wiesehügel. Guten Morgen.

    Wiesehügel: Schönen guten Morgen, Herr Heinlein.

    Heinlein: Die Gewerkschaften machen morgen Druck auf den Kanzler. Wollen Sie, dass er zurücktritt?

    Wiesehügel: Das ist eine Fragestellung, die im Augenblick journalistisch sicherlich sehr interessant ist, aber meiner Meinung nach geht es nicht nur darum. Ich lasse das nicht darauf reduzieren, ob einer sein persönliches Schicksal gleichzeitig mit dem persönlichen Schicksal von Tausenden von Menschen verbindet, die sonst drohen, in die Sozialhilfe abzudriften. Mir geht es um die Sache. Ich will um die Sache streiten. Gerhard Schröder weiß, dass seine Partei anderer Meinung ist als er, und deswegen erpresst er seine Partei jetzt um die Position, dass es nur noch um ihn, um Rücktritt oder Nicht-Rücktritt geht. Aber ich möchte um die Sache streiten.

    Heinlein: Warum wollen Sie denn, dass der Kanzler im Amt bleibt? Mit seiner Politik sind Sie ja offensichtlich nicht einverstanden.

    Wiesehügel: Ich glaube, dass die Menschen in diesem Land natürlich Gerhard Schröder gewählt haben. Sie haben nicht nur die SPD gewählt. Wir sind längst schon nicht mehr nur eine programmatische Bevölkerung, also wir wählen nicht nur ein Programm, sondern wir wählen auch Personen an der Spitze. Das muss man nicht nur anerkennen, das muss man auch respektieren. Gerhard Schröder hat sehr viel dazu beigetragen, dass die SPD wiedergewählt wurde, und ein Stück Glaubwürdigkeit ginge dann auch verloren. Wir sind also in der Tat - das muss man auch öffentlich zugeben - in einer Krise, soweit man dem Kanzler nicht folgen kann. Man will auf der einen Seite, dass er Kanzler bleibt. Auf der anderen Seite möchte man auf keinen Fall seine Agenda 2010.

    Heinlein: Sind Sie denn persönlich enttäuscht von der Politik des Kanzlers? Hat er sein Wort gegenüber den Gewerkschaften gebrochen? Manche Ihrer Kollegen sprechen ja sogar von Wahlbetrug.

    Wiesehügel: Ich werde morgen 50 Jahre alt. Da gewöhnt man es sich ab, enttäuscht zu werden. Ich denke, dass Politik nun schon mehrfach von mir erlebt worden ist, sogar aktiv. Ich war vier Jahre im Bundestag. Ich habe sehr viel erlebt, was man nicht unbedingt alles so schildern kann, weil Sie mir so viel Sendezeit nicht ermöglichen würden. Das mit den Enttäuschungen hat sich erledigt.

    Heinlein: Sie haben es angesprochen, Sie waren selber Mitglied der SPD-Fraktion und haben sicherlich noch gute Kontakte dorthin. Was ist denn Ihr Eindruck? Wie groß ist der innerparteiliche Widerstand gegen die Schröder-Pläne? Können die Gewerkschaften darauf zählen?

    Wiesehügel: Ich würde das nicht auf die Gewerkschaften reduzieren. Ich finde das schon im Augenblick etwas erstaunlich, dass man ständig hört, Schröder gegen die Gewerkschaften. Die Gewerkschaft ist ein Teil der Bevölkerung, aber ich glaube, dass sehr viele Menschen, selbst die, die jetzt nicht Mitglied der Gewerkschaften sind, nicht damit einverstanden sind, was auf sie zukommt, soweit sie soviel Fantasie und Rechtskenntnisse haben, es vorauszusehen. Ich darf das auch nicht darauf reduzieren. Es sind auch eine ganze Menge Bundestagsabgeordnete, die es absolut nicht machen würden, nur in ihrem Protest beziehungsweise in ihrem Laut dazu stehen. Es gibt aber auch andere - Ottmar Schreiner hat es gestern sehr deutlich bei Friedmann gesagt, er wird dem nicht zustimmen, und er ist dafür bekannt, dass er zu seiner Meinung steht. Also es wird auch Abgeordnete aus der Fraktion geben - das ist ja nicht die Gewerkschaft, sondern ein Teil der Bundestagsfraktion, die sagt, wir machen nicht mit und werden einer solchen Agenda, wenn sie Eins zu Eins umgesetzt wird, wie Gerhard Schröder es verlangt, nicht zustimmen.

    Heinlein: Glauben Sie, dass Schröder die Vertrauensfrage wird stellen müssen?

    Wiesehügel: Ich bin davon überzeugt, dass Gerhard Schröder den Monat, der bis zum Bundespartei noch liegt, durchaus auch nutzt - und das ist auch seine Art - ein Stück zu schauen, wie viel kann ich davon durchsetzen, bleibe ich auch der Macher und harte Kanzler, der im Augenblick von mir erwartet wird, und kann ich trotzdem meine Partei mitnehmen, kann ich alle mitnehmen. Dieses Kunststück wird immer schwieriger, je lauter er sagt, ich trete zurück, und dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass er letztendlich eine Winner-Winner-Situation herstellen muss, weil es hat auch keinen Sinn, zu gewinnen und die Partei am Rande liegen zu lassen.

    Heinlein: Sie haben es angesprochen, Sie erwarten Widerstand innerhalb der Fraktion - Ottmar Schreiner und andere -, aber die SPD-Spitze hat sich ja fast geschlossen hinter den Kanzler gestellt. Hätten Sie von diesen Genossen mehr Stehvermögen erwartet oder war damit zu rechnen?

    Wiesehügel: Es gab immerhin vier Gegenstimmen - eine war aus dem Urlaub. Das ist also nicht so, dass alle einverstanden waren, und ich weiß natürlich, ich kenne viele auch persönlich, dass bei vielen die Meinung eine ganz andere ist, dass sie auch ärgerlich sind, dass sie sich auch Sorgen um die sozialdemokratische Partei machen, um künftige Wahlen auf kommunaler und Landesebene, aber dennoch sich jetzt natürlich dafür entscheiden, hinter dem Kanzler zu stehen, zumindest öffentlich. Sie sagen nicht Ja zur Agenda 2010.

    Heinlein: Haben Sie Verständnis für diese Haltung, dass man hinter vorgehaltener Hand tuschelt, aber dann doch den Finger hebt, wenn es zum Schwur kommt?

    Wiesehügel: Das hat mit Tuscheln nichts zu tun. Das hat etwas damit zu tun, welche Dinge man nach vorne setzt in seiner politischen Bewertung. Ich meine, ich habe Verständnis für jeden, der die Prioritäten im Augenblick woanders setzt. Die Priorität ist die, dass wir jetzt mit unserem Bundeskanzler die Politik, die er angekündigt hat, auch durchsetzen. Ich akzeptiere das. Ich bin niemand, der andere beschädigen würde, weil er eine andere Meinung hat. Da unterscheide ich mich sehr stark von denen, die im Augenblick eher meine politischen Gegner sind.

    Heinlein: Welche Hoffnungen haben Sie denn, dass durch die Diskussion in den jetzt anberaumten fünf SPD-Arbeitsgruppen es noch Veränderungen im Sinne der Gewerkschaften, in Ihrem Sinne geben wird?

    Wiesehügel: Also das sieht man ja schon, dass Bewegung von vielen gewünscht wird. Wenn Wolfgang Clement zum Beispiel schon sagt, also da müssen wir das mit dem Kündigungsschutz mal in einer Erprobungsphase nehmen, der Kanzler da jetzt im Grunde sofort sagt, nein, überhaupt nichts wird geändert, auch in dem Leitantrag nicht, dann isoliert sich Gerhard Schröder auch sozusagen selbst bei ja nun wirklich voranschreitenden Veränderungen zu Lasten der Menschen. Gleichzeitig glaube ich auch, dass in es der Höhe des Arbeitslosengelds Zwei, was ja jetzt nur auf der Sozialhilfegröße sein soll, dass es da Veränderungen gibt, und was man auch öffentlich dann nicht so merken wird, was aber das Entscheidende ist, was ist mit der Bedürftigkeit? Ist die Bedürftigkeit auf der Grundlage der Bundessozialhilfegesetzgebung oder ist die Bedürftigkeit auf Grundlage der jetzigen Arbeitslosenhilfe? Das sind ja die ganz spannenden Fragen. Das ist die entscheidende Frage, werden Menschen arm oder werden sie nicht arm? Und da ich da noch viel Hoffnung habe, dass man das regeln kann, ohne dass der Kanzler in der Öffentlichkeit sein Gesicht verliert, bin ich auch noch nicht ohne Hoffnung, dass wir das wir das schwierige Kapitel, was jetzt aufgeschlagen ist, der Sozialdemokratie trotzdem erfolgreich abschließen werden.

    Heinlein: Ist denn in diesen drei Kritikpunkten, Absenkung oder Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau und Krankengeld eine Kompromissbereitschaft der Gewerkschaften zu erkennen? Wo gibt es mögliche gemeinsame Punkte, auf die man sich auf die SPD zu bewegen kann?

    Wiesehügel: Erstens sind die Gewerkschaften von ihrer Natur heraus immer kompromissbereit. Wir werden zwar als die Oberblockierer bezeichnet, sind aber geradezu das Gegenteil. Wir sind in der Frage der Sozialpolitik diejenigen, die jetzt die weitgehendsten Reformen vorschlagen. Zweitens sind wir immer bereit, Kompromisse zu machen, wenn es denn der Sache dient. Drittens ist es aber auch gelernt worden von uns, wie man also sonstige Kompromisse macht, auch in der Tarifpolitik. Die macht man nicht, indem man lauthals schon alles auf den Tisch legt, wozu man bereit wäre. Dann hat der Andere ja keine Chance mehr, eine Winner-Winner-Situation herzustellen, weil man ja selber die Hose schon runtergezogen hat. Nein, also wir erwarten jetzt schon, nicht auf die Gewerkschaften, sondern auf diejenigen, die Nein zur Agenda 2010 sagen, dass darauf deutlich zugegangen wird und dass in der Sache Lösungen gefunden werden. Wenn wirklich Lösungen gefunden werden, dann muss man sich das Paket mal angucken, aber das kann man nicht via Äther oder via Printmedien machen. Das muss man wirklich in Gesprächen machen.

    Heinlein: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio