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Der Wirtschaftsbericht 1999

Gerner: Kurswechsel oder nicht in der Wirtschaftspolitik? Das 58-seitige Papier, das der parteilose Werner Müller gestern vorgestellt hat, ist einerseits Konkurrenz zum Jahreswirtschaftsbericht von Hans Eichel, andererseits ist es zwischen den Zeilen vom Geist des neuen Sparpaketes geprägt. Der letzte Jahreswirtschaftsbericht von Hans Eichel übrigens, der trug noch die Handschrift von Oskar Lafontaine. Und dessen ehemaligen Staatssekretär im Finanzministerium, Heiner Flasbeck, begrüße ich jetzt am Telefon. Einen schönen guten Morgen.

    Flasbeck: Guten Morgen.

    Gerner: Herr Flasbeck, Hans Eichel ist dabei, das Erbe Oskar Lafontaines hinter sich zu lassen. Von dem parteilosen Werner Müller durfte man ähnliches erwarten. Wie bewerten Sie diesen Bericht?

    Flasbeck: Ja, ich will mal sagen, insgesamt finde ich das eine etwas seltsame Perspektive, die da aufgetan wird. Herr Müller hat gestern gesagt - das habe ich wörtlich gehört -, man müsse den Schlendrian der letzten 20 Jahre beseitigen, also das, was die CDU-Regierung gemacht hat. Und er tritt an mit dem Ziel, im Grunde genau das gleiche machen zu wollen, was die CDU-Regierung die ganze Zeit wollte, nämlich die Staatsausgaben herunterfahren. Es war ja das erklärte Ziel bei der Übernahme durch Bundeskanzler Kohl Anfang der 80er Jahre, die Staatsausgaben zu senken. Und er hat das auch getan. Nur, was offenbar in der jetzigen Diskussion vergessen wird, sowohl von Herrn Müller wie von Herrn Eichel sehr oft offensichtlich, ist die deutsche Vereinigung. Und man muß sehen: Diese deutsche Vereinigung war teuer und sie ist immer noch teuer, und sie muß bezahlt werden. Und zugleich haben wir die niedrigste Steuerquote praktisch aller Zeiten. Und das geht nicht zusammen. Nur darüber wird nicht geredet, sondern es wird so getan. Und das muß man Herrn Müller vorwerfen, daß er das explizit tut. Er sagt, es gibt eine Anspruchsinflation an den Staat. Davon kann nicht die Rede sein.

    Gerner: Ein Verrat sozialdemokratischer Wirtschaftswerte?

    Flasbeck: Nein, es geht zunächst einmal um die Klarstellung der Fakten. Es gibt keine Anspruchsinflation an den Staat. Da tut man so, als würden nun - ich sage mal - die Bürger in Westdeutschland immer mehr vom Staat fordern, immer mehr vom Staat bekommen. Das ist schlicht nicht wahr. Sie bekommen immer weniger vom Staat, die ganzen Jahre schon, seit 1980. Insofern sind die Ansprüche an den Staat dauernd zurückgegangen. Nur durch die deutsche Vereinigung sind seit 1990 natürlich die Ansprüche insgesamt gestiegen. Aber wir wissen alle, warum: Wegen dieser besonderen Art der deutschen Vereinigung, wo natürlich viele Fehler gemacht wurden. Das muß man aber alles inzwischen hinnehmen. Aber wir haben weiterhin eine Belastung von 150 Milliarden pro Jahr, und die müssen bezahlt werden. Und jetzt geht es im Grunde um die Frage - auch bei dem, was Herr Eichel vorlegt -: Wer finanziert die deutsche Vereinigung?

    Gerner: Aber, Herr

    Flasbeck: Mehr Eigeninitiative, Anspruchsdenken an den Staat zurückschrauben - was Werner Müller sagt -: Läßt sich das politisch durchsetzen?

    Flasbeck: Das weiß ich nicht. Das ist ja sehr populär in Deutschland, sparen ist ja sehr populär. Nur - ich muß noch mal darauf beharren, man muß klarstellen, worum es eigentlich geht. Und ich sagte vorhin schon, wir haben die niedrigste Steuerquote fast aller Zeiten. Im letzten Jahr hatten wir die niedrigste Steuerquote in der Geschichte der Bundesrepublik. Das muß man sich vorstellen. Und gleichzeitig reden alle Menschen in Deutschland über Steuern senken. Die Solidarität, Ostdeutschland zu bezahlen und den Wiederaufbau zu bezahlen, die ist offenbar nicht vorhanden, die man immer einfordert. Heute sagt jeder zum Beispiel - und das finde ich die größte Lüge in der gesamten deutschen Diskussion der letzten 10 Jahre -, jeder sagt: Man hätte müssen die deutsche Vereinigung über höhere Steuern finanzieren und nicht so sehr über höhere Defizite.

    Gerner: Aber zeigt die Rentenpolitik, Herr Flasbeck, nicht, daß der Wohlfahrtsstaat - wie ihn auch Werner Müller gestern angesprochen hat - am Ende ist oder jedenfalls verändert werden muß?

    Flasbeck: Nun lassen Sie uns das mal auseinanderhalten. Die Rentendiskussion ist wieder etwas ganz anderes. Bei der Rentendiskussion geht es um ein demografisches Problem, was wir im Jahr 2020 haben werden. Dieses Problem ist zu regeln, dafür müssen Regelungen gefunden werden. Nur: dieses Problem kann man nicht mit irgendwelchen Finanzierungstricks beseitigen. Also, auch die private Vorsorge heute ändert an diesem Problem nichts. Wenn wir im Jahre 2020 sehr viel mehr Ältere in Deutschland haben, dann werden wir auch weniger Rendite auf heute angespartes Kapital erzielen. Daran geht überhaupt kein Weg vorbei. Also, da werden auch Fehler gemacht im Denken, und zwar einfach im volkswirtschaftlichen Denken, weil man einfach wiederum so tut, als gebe es die gute Hausvatermethode: Man spart heute und das Angesparte zahlt sich dann aus. Nein, das geht volkswirtschaftlich leider nicht. Die Volkswirtschaft als Ganzes kann nicht sparen, sondern sie kann nur heute investieren. Und das tun wir zu wenig. Wir vernachlässigen dauernd das heutige Investieren, mit dem wir Kapitalstock aufbauen.

    Gerner: Sind Sie denn da einverstanden mit Werner Müller, wo er sagt, ‚maßvolle Lohnabschlüsse sind das Gebot der Stunde'?

    Flasbeck: Natürlich, das haben wir auch immer gesagt, das steht auch im Jahreswirtschaftsbericht, den sie vorhin erwähnten, der unter Oskar Lafontaine entstanden ist: Natürlich müssen wir maßvolle Lohnabschlüsse haben. Das hieße - wir haben das damals explizit gesagt, und das sagt, glaube ich, auch Herr Müller -: Am Produktivitätsfortschritt orientiert. Und das ist in diesem Jahr zum Beispiel der Fall gewesen. Das ist in den Jahren davor nicht der Fall gewesen. Auch das vergißt Herr Müller zu erwähnen, daß in den letzten 15 Jahren oder 18 Jahren - ich weiß es gar nicht genau - praktisch die Reallöhne immer hinter der Produktivität zurückgeblieben sind und nicht darüber hinaus gegangen sind. Auch da ist nicht die Rede von Anspruchsinflation.

    Gerner: Oskar Lafontaine und Sie haben ja immer argumentiert: Löhne und Gehälter müssen steigen, um die Kaufkraft zu fördern und somit die Konjunktur zum Laufen zu bringen - also diese nachfrageorientierte Lohnpolitik. Bricht der Bericht damit?

    Flasbeck: Nein, da sehe ich keinen großen Bruch. Wie gesagt, der große Bruch ist bei der Frage der Staatsquote. Da finde ich ihn unfundiert, aber bei den Löhnen sehe ich das nicht. Den einzigen Fehler, den Herr Müller macht, ist, daß er die Lohnerhöhungen und die Steuersenkungen miteinander verbindet. Das darf man nicht tun, denn wenn wir mal wieder in die Lage kommen würden - stellen Sie sich vor, wir müßten die Steuern erhöhen -, dann würden die Gewerkschaften natürlich mit voller Berechtigung sagen: ‚Gut, wenn ich im Falle einer Steuersenkung weniger Löhne fordere, dann muß ich natürlich im Falle einer Steuererhöhung mehr Löhne fordern'. Das kommt auf die Nettolöhne an - sagt Herr Müller. Das ist konzeptionell meines Erachtens vollkommen falsch.

    Gerner: Der parteilose Werner Müller fordert auch den Abbau von Subventionen und von Sozialausgaben. Sind Sie damit einverstanden?

    Flasbeck: Ja, das ist alles immer richtig. Aber es geht immer noch um diese zentrale Frage: Wer finanziert die deutsche Einheit? Es geht nicht um eine allgemeine Anspruchsinflation. Da ist der entscheidende Fehler. Ich habe in den letzten Tagen - und das ist das Interessante eigentlich - Kommentare gehört, mehrere Kommentare zu Müller gehört - nicht von Müller, aber zu Müller -, die da sagten: ‚Endlich wieder jemand, der in der Tradition Ludwig Erhards fordert: Maßhalten und sich vernünftig auf das Realistische einrichten'. Nun, das muß man sich mal vor Augen führen, was das eigentlich bedeutet, das Maßhalten heute. Ludwig Erhard hat das gesagt - Maßhalten -, weil damals die Konjunktur überschäumte, weil wir zu viel Konsum hatten, weil wir Inflationsgefahren hatten, weil kein Arbeitsloser mehr da war, weil die Arbeitsmärkte voll ausgelastet waren. Und in der Situation war es völlig gerechtfertigt zu sagen: Maßhalten. Heute haben wir in jeder Hinsicht die umgekehrte Situation. Und da von Maßhalten zu reden und Anspruchsinflation zurückdrängen zu wollen, das ist in der Tat meines Erachtens sehr problematisch.

    Gerner: Herr Flasbeck, die Märkte und die Reaktion der Unternehmern: Beide zeigen, daß das, was Hans Eichel und Werner Müller betreiben, weit positiver aufgenommen wird, als die Politik Oskar Lafontaines, die Sie wesentlich mitbestimmt haben. Empfinden Sie das nicht als kränkend, ist das nicht eine schallende Ohrfeige nachträglich?

    Flasbeck: Ach nein, wissen Sie: Was die Märkte an Bewertungen von sich geben . . . Sehen Sie, der Euro ist auch abgestürzt wegen Herrn Lafontaine, und hinterher ist er weiter abgestürzt. Von daher: Diese Dinge darf man nicht zu ernst nehmen. Man muß ja sehen: Hinter den Märkten stehen massive Interessen, und das Interesse ist natürlich, die Belastung, die wir nun mal zu tragen haben und durch die deutsche Vereinigung noch für einige Jahre zu tragen haben, diese Belastung auf andere abzuwälzen. Das Interesse ist legitim, und das muß man auch als Interesse ganz klar anerkennen. Man muß eben sehen, wie die Fakten sind. Und ich sagte: Die Fakten sind so, darunter leidet der Staat. Wir haben eine zu niedrige Steuerquote und wir haben gleichzeitig die Belastung aus der deutschen Vereinigung.

    Gerner: Was haben Sie denn gedacht, Herr Flasbeck, als Gerhard Schröder neulich die Politik Oskar Lafontaines nachträglich bloßgestellt hat?

    Flasbeck: Na ja, wenn Sie das ‚bloßgestellt' nennen wollen, ist das o.K. Aber ob es denn wirklich eine Bloßstellung war? Ich habe dazu schon in einigen Interviews gesagt: Herr Schröder hat vergessen, daß wir letzten Herbst von der Gefahr einer Weltdepression geredet haben. Und wenn man im letzten Herbst angetreten wäre und hätte gesagt - in diese Weltdepression hinein -: ‚Nun muß Deutschland sparen, mehr sparen als es jemals zuvor getan hat', dann hätten uns unsere internationalen Partner für verrückt erklärt.

    Gerner: Aber was ist denn geblieben von der Politik Oskar Lafontaines? Sind Sie nicht ein Verlierer der kurzen rot-grünen Regierungsgeschichte?

    Flasbeck: Ja, es gibt in der Tat einen sehr deutlichen Wechsel. Das will ich überhaupt nicht bestreiten. Natürlich gibt es einen Wechsel hin wieder zu einer Politik, wie sie in den vergangenen 16 Jahren auch gemacht wurde. Und das ist ja das Erstaunliche, daß man nun mit der gleichen Politik und einer Verschärfung dieser Politik versucht, die Probleme zu lösen. Meine Prognose ist, daß es nicht gelingen wird. Aber das werden wir dann in ein bis zwei Jahren sehen.

    Gerner: Haben Sie noch persönlichen Kontakt zu Oskar Lafontaine?

    Flasbeck: Ja.

    Gerner: Und wie erlebt er diesen Wechsel der Wirtschaftspolitik?

    Flasbeck: Ach, das wird er dann demnächst selbst der Öffentlichkeit erklären.

    Gerner: Hoffentlich gibt er wieder Interviews. Wir hoffen es. Danke Heiner Flasbeck. Das war der ehemalige Staatssekretär von Oskar Lafontaine und Wirtschaftsforscher Heiner Flasbeck.. Vielen Dank.