Heinemann: Graf Lambsdorff, wie bewerten Sie Werner Müllers Wirtschaftsbericht?
Graf Lambsdorff: Es ist gut, dass Sie von Werner Müllers Wirtschaftsbericht sprechen. Es ist ja kein Wirtschaftsbericht der Bundesregierung. Man liest schon mit einiger Verwunderung, dass Herr Müller immer wieder betont, das sei die Meinung eines Ressorts, eines Ministers, das sei nicht die Regierung, und so war ja auch das Echo aus der Regierung. Was fange ich mit einem Wirtschaftsbericht an, zu dem die Regierungsmitglieder und gar der Verfasser selber erklären, dahinter steht die Regierung nicht, das ist nicht amtliche Regierungspolitik. Das sind Diskussionsbeiträge, zum Teil durchaus interessante Diskussionsbeiträge, aber auf Hochglanz, mit vielen Bildern, übrigens auch schöne Bilder des Herrn Bundeswirtschaftsministers selber. Das ist ein Wirtschaftsbericht light und das ist nicht sehr eindrucksvoll.
Heinemann: Und in der Sache?
Graf Lambsdorff: In der Sache kann ich in einem Punkt nur sagen, zum Beispiel was die Auszahlung der Krankenversicherungsbeiträge an die Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber angeht: Hier empfehle ich, einmal im Bundeswirtschaftsministerium nachzusehen. Die werden wohl auch mein Papier "Mut statt Missmut" vom September 1992 haben. Da steht exakt dies drin. Was im übrigen zum Arbeitsmarkt von Herrn Müller gesagt wird, was zu den Sozialversicherungen gesagt wird, was zur Zukunftsentwicklung der sozialen Sicherungssysteme und deren Belastung gesagt wird, das ist interessanterweise mit der FDP relativ leicht zu machen. Nur auch das ist psychologisch interessant, Herr Heinemann, was Herr Müller hier angestellt hat. Er hat nicht im Wirtschaftsbericht, sondern in der Einführungsrede in der Pressekonferenz, die nirgends irgendwo berichtet worden ist, erst einmal einen Rundumschlag gegen sämtliche FDP-Bundeswirtschaftsminister, die seine Vorgänger waren, losgelassen. Also nach dem guten alten Motto: der dümmste Mensch auf der Welt ist mein Vorgänger, der zweitdümmste ist mein Nachfolger. Den hat er noch nicht. Das ist nicht gerade die ganz feine britische Art, aber es ist offensichtlich der Versuch eines Befreiungsschlages in der politischen Arena, in der sich Herr Müller bewegt, um seinen Leuten zu sagen, seht mal, ich haue hier auf die FDP drauf und auf die früheren Wirtschaftsminister und nun vertrete ich allerdings Positionen und erkläre hier Dinge, die genauso in einem FDP-Bericht stehen könnten und in vielen FDP-Programmen auch drin stehen. Wir könnten uns in der Sache finden; die Methode finde ich schon etwas unfein.
Heinemann: Wobei Werner Müller ja viele Altlasten von früheren Regierungen übernommen hat?
Graf Lambsdorff: Ja, sicher. Er hat Altlasten übernommen, Herr Heinemann, aber wenn ich zum Beispiel wie Herr Müller schreibe, dass sich die Verschuldung des Bundeshaushalts von 1973 bis 1998 gewaltig erhöht hat, was wir ja alle wissen, dann muss ich fairer- und vernünftigerweise hinzuschreiben, dass darin die Kosten der Wiedervereinigung enthalten sind und nicht so tun, als habe sich diese Entwicklung einfach ohne dieses Ereignis vollzogen. Das ist nicht in Ordnung, das ist intellektuell nicht in Ordnung. Wenn ich mir selber dauernd bescheinige, ich sei das ordnungspolitische Gewissen der Regierungsarbeit, dann muss ich auch mal die Frage beantworten, wo ist denn der Mittelstand berücksichtigt worden bei der Steuerreform. Wo war denn der Bundeswirtschaftsminister Müller, als das Betriebsverfassungsgesetz über mittlere Unternehmen Verschärfungen gestülpt hat? Was hat er beim Zwangspfand gesagt? Und noch interessanter: In diesen Tagen, Herr Heinemann, müsste doch wohl der Bundeswirtschaftsminister ein Wort zu dem sagen, was sein früherer Arbeitgeber mit der BP inzwischen veranstaltet. Was bedeutet das für den Wettbewerb? Was bedeutet das aus seiner Sicht für zukünftige Benzinpreise? Totales Schweigen. Das geht wirklich nicht, wenn man sich als ordnungspolitisches Gewissen darstellt.
Heinemann: Graf Lambsdorff, Sie haben die Reaktionen in der SPD auf Herrn Müllers Wirtschaftsbericht eben angesprochen. Was bedeuten diese Reaktionen hinsichtlich einer möglichen Zusammenarbeit zwischen FDP und SPD?
Graf Lambsdorff: Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf, Herr Heinemann. Da warten wir jetzt erst mal das Wahlergebnis ab und dann sehen wir mal zu, wie sich im Herbst 2002 die Dinge stellen. Es ist Jedermann klar, dass der Bundeskanzler sich geschickterweise alle Optionen aufrecht erhalten will. Das weiß auch die FDP. Das hat Herr Westerwelle und auch Herr Möllemann dem Bundeskanzler sehr deutlich so gesagt, dass sie damit rechnen und dass sie das wissen. Inhaltlich gesehen hat es immer Meinungsverschiedenheiten auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik und insbesondere der Sozialpolitik zwischen SPD und FDP gegeben. Das war auch zu früheren Koalitionen so, das hat Koalitionen nicht ausgeschlossen. Ich war fünf Jahre Bundeswirtschaftsminister in einer sozialliberalen Koalition. Also das geht, es sei denn, man übertreibt es und damit hat es die SPD am Schluss übertrieben. Aber diese Möglichkeit besteht immer und wir sind alle miteinander koalitionsfähig, jedenfalls demokratische Parteien - die PDS schließe ich jedenfalls für mich und für die FDP ausdrücklich aus -, das muss auch so sein.
Heinemann: Ist der gegenwärtige Konjunktureinbruch Schröders Einbruch?
Graf Lambsdorff: Wenn Jemand den Aufschwung für sich reklamiert, dann muss er sich auch den Abschwung zurechnen lassen. Mir sind diese Zurechnungen aber zu einfach, beide. Sowohl der Aufschwung ist nicht von Gerhard Schröder gemacht, der Abschwung ist auch nicht von Gerhard Schröder gemacht. Da spielt die Weltkonjunktur eine Rolle. Die Globalisierung hat ihre Vorteile, sie hat auch ihre Nachteile. Dass die amerikanische Wirtschaftsentwicklung, die japanische Wirtschaftsentwicklung, beides wirtschaftlich stärkere Nationen in der Welt als wir, sich auch bei uns auswirkt ist klar. Dass der niedrige Kurs des Euro dazu beiträgt, dass zwar der Export bei uns gut läuft - das hat Herr Müller gestern ja auch noch einmal auf der Pressekonferenz gesagt -, dass aber gleichzeitig Inflation importiert wird, die Herr Müller sehr leichtfertig herunterspielt. Als ordnungspolitisches Gewissen sollte man die Inflation wie ich finde ernster nehmen. Wir werden mit den konjunkturellen Schwierigkeiten aus eigenem Antrieb alleine nicht fertig werden, aber wir haben zu viel getan. Das lässt sich aus Ihrer Eingangsbemerkung ja ablesen. Wir haben zu viel getan, um dazu beizutragen, dass wir die letzten im Konjunkturzug sind. Das dürfte nicht sein. Das müssen wir uns selber ins eigene Stammbuch schreiben lassen. Was wir auf dem Arbeitsmarkt getan haben, keine Deregulierung, was wir in den Sozialversicherungssystemen getan haben, eben keinen Befreiungsschlag, auch bei der Rentenversicherung ist das noch kein ausreichender Befreiungsschlag, was wir bei der Steuerreform getan haben, wie gesagt eine Entlastung der großen Unternehmen, aber übrigens viel zu spät, wie man jetzt sieht, eine Belastung oder nicht genügende Entlastung der kleinen und mittleren Unternehmen, das sind hausgemachte deutsche Fehler, die dazu beitragen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Konjunkturzug in Europa an letzter Stelle fährt.
Heinemann: Gerhard Schröder vertraut seiner ruhigen Hand, wie er gesagt hat. Sollte in diese Hand jetzt Geld genommen werden? Sollte der Sparkurs gelockert werden?
Graf Lambsdorff: Nein, der Sparkurs soll nicht gelockert werden. Allerdings, das muss man auch sagen, wenn sich aus konjunkturellen Entwicklungen niedrigere Steuereinnahmen ergeben, dann muss man vernünftigerweise die sogenannten automatischen Stabilisatoren wirken lassen. Das heißt, dann kann die Verschuldung etwas ansteigen. Dann darf man dort nicht auch noch dagegenhalten durch weitere Einsparmaßnahmen, denn dann verschärft man die konjunkturelle Entwicklung. Dabei muss es bleiben. Die Fehler der Regierungspolitik liegen nicht so sehr auf der Seite der Einnahmen, die ja zurückgefahren werden sollen, wie gesagt - und ich sage es noch einmal - leider zu spät, aber das hat auch die frühere Regierung mit zu vertreten. Die liegen eher auf der Seite der Ausgaben. Sehen Sie sich den Haushalt des ordnungspolitischen Bundeswirtschaftsministers Werner Müller an. Die Hälfte seines Haushaltes sind Subventionen. Es sind immer noch die Fortsetzung dieser Steinkohlesubventionen. Das geht nicht, das muss aufhören, aber dazu hat diese Regierung nicht den Mut.
Heinemann: US-Präsident Bush hat die Steuern gesenkt, die Staatsausgaben für Bildung gesteigert. Gleichzeitig senkte die Notenbank die Zinsen, und zwar insgesamt fünfmal. Ein taugliches Rezept?
Graf Lambsdorff: Ja, es ist ein taugliches Rezept, was die Regierungspolitik anlangt. Bush hat nun seinerseits "Glück" gehabt, dass die Konjunktur zurückging und er sein riesiges Steuerpaket auf diese Weise im Kongress durchgesetzt hat. Aber es hat sich auch die Handlungsfähigkeit amerikanischer Politik im amerikanischen Kongress bewiesen. Dort war keineswegs sicher, dass Herr Bush eine Mehrheit für ein so großes Steuerpaket bekommen würde und schon gar nicht für ein so schnelles in Kraft setzen. Aber als sie gesehen haben, dass die Konjunktur rückläufig wird, dass die Arbeitslosenzahlen steigen, haben sie diesem Steuervorschlag zugestimmt, haben ihn schnell in Kraft gesetzt und haben sehr schnell damit gegengesteuert, gegen eine konjunkturelle Abkühlung, die immer noch nicht ganz überwunden ist, aber es gibt doch erste Anzeichen, dass sich das Amerika erholt, was ja auch wir nur begrüßen können. Hinsichtlich der Zinspolitik: dort gibt es eine sehr geringe oder gar keine Inflationsgefahr. Das sieht bei uns anders aus. Mit dem schwachen Euro hat die Europäische Zentralbank nach meiner Meinung keinen Spielraum für weitere Zinssenkungen in absehbarer Zeit, denn dann wird weiter Inflation importiert. Das ist nun allerdings auch sozialpolitisch das gefährlichste und schlechteste, was man an Politik anstellen kann.
Heinemann: Graf Lambsdorff, ein Sorgenkind des Arbeitsmarktes ist die Bauwirtschaft. Gibt es eine Alternative zum Schrumpfungsprozess dieser Branche?
Graf Lambsdorff: Nein, den gibt es wahrscheinlich nicht, jedenfalls nur in sehr geringem Umfang. Es wird natürlich aus der Finanzierung, die jetzt wieder für die neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt wird, eine Gegenwirkung gegen den Einbruch bei der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern geben. Das ergibt sich zwangsläufig. Aber es ist nun immer so gewesen, leider ist das so: die Baubranche leidet darunter, dass es insbesondere auch durch Subventionen oder steuerliche Vergünstigungen einen Bauboom gibt, der dann anschließend in sich zusammenfällt. Wenn man heute durch Städte in den neuen Bundesländern fährt, dann kann man es ja mit offenen Augen sehen. Man braucht gar nicht in die Häuser zu gehen, es hängen keine Gardinen vor den Fenstern, selbst in renovierten Plattenbauten nicht. Die Leerstände im Wohnungsbau sind eklatant. Das wird sich auch so bald nicht beseitigen lassen. Auf der Seite der Kapitalinvestitionen, also mit der Ausrüstungsinvestition und damit auch für die Bauindustrie, sieht es etwas besser, auch erfreulicherweise für die neuen Bundesländer aus. Aber ob das ausreichen wird, um der Entwicklung in der Bauindustrie wirksam gegenzusteuern, halte ich für zweifelhaft.
Heinemann: Der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. - Graf Lambsdorff, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
Link: Interview als RealAudio