Donnerstag, 28. März 2024

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Deutsch-französische Corona-Beziehungen
"Beleidigungen von Grenzgängern sind populistische Reflexe"

Die deutsche Grenzschließung sei zu schnell und unabgestimmt gewesen, sagte Jean Rottner, Präsident des Regionalrates der französischen Region Grand Est, im Dlf. Er lobte zugleich die Zusammenarbeit mit den benachbarten Bundesländern. Die EU-Kommission aber fehle in der Krise als politisches Entscheidungsorgan.

Jean Rottner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 15.05.2020
Deutsche Polizeibeamte an der Französisch-Deutschen Grenze zwischen Kehl und Strassburg am 16.3.2020
An den deutschen Grenzen unter anderem zu Frankreich sollen noch bis zum 15. Juni Kontrollen fortgesetzt werden (AFP / Patrick Hertzog )
Originalfassung
Sie können das Interview mit Jean Rottner, Präsident der französischen Region Grand Est, auch im französischen Original hören.
Christoph Heinemann: Wieso ist die Region Grand Est und vor allem das Departement Haut Rhin besonders von dem Virus betroffen?
Jean Rottner: Wir haben alle nach Italien und auf Bergamo geschaut. Und schließlich hat sich bei uns dasselbe ereignet: Es gab ein religiöses Treffen, 2.000 Menschen haben sich eine Woche lang versammelt. Dies war ein Treffen der evangelikalen Gemeinde. Allein 300 Kinder befanden sich unter diesen 2.000 Personen. Das Virus hat sich während dieses Treffens verbreitet, schließlich auch in unserem Departement und in ganz Frankreich. Es gab einen Ort, ein bestimmtes Treffen, das, bezogen auf das Virus, die Wirkung einer Streubombe entfaltete.
France's 'Grand Est' region President Jean Rottner looks on as he leaves the Elysee Palace after a working lunch {var DanaWithTmpArray = new Array();(DanaWithTmpArray[0] = ith }the French President on February 26, 2019, in Paris. LUDOVIC MARIN / AFP
Der Präsident der französischen Region Grand Est, Jean Rottner (LUDOVIC MARIN / AFP)
Heinemann: Welche wirtschaftlichen Folgen hat das Corona-Virus für die Region Grand Est?
Rottner: Die gleichen wie im ganzen Land oder in Deutschland: Wegen der Ausgangsbeschränkungen wurde alles angehalten. Der Tourismus ist auf null heruntergefahren. Der Weinbau leidet sehr. Die Bauwirtschaft stand eine Weile still. Das gilt auch für die Industrieproduktion. Auch für eine Branche, in der wir mit Deutschland zusammenarbeiten: Stillstand in der Automobilproduktion. Die Wirtschaft leidet. Frankreich erwartet einen Einbruch um mehr als zehn Prozentpunkte, während wir uns vor der Krise auf einem Weg von ungefähr zwei Prozent Wachstum befanden.
"Etwas einseitige Entscheidung" zur Grenzschließung
Heinemann: Was denken Sie über die von Deutschland beschlossene Schließung der deutsch-französischen Grenzen?
Rottner: Ich bedaure, dass es sich um eine sehr rasche und etwas einseitige Entscheidung handelte, ohne eine wirkliche Abstimmung. Zwar steht die Entscheidung über Grenzen jedem Land zu. Aber zumindest hier ist es längst üblich, dass wir im Alltag mit den benachbarten Bundesländern zusammenarbeiten. Mit Blick auf diese Krise könnten wir die Modalitäten gegenseitiger Information noch verbessern.
Heinemann: Das war unzureichend?
Rottner: Ja, man gewinnt immer, wenn man miteinander redet und einander mitteilt, was man tun will, bevor Entscheidungen getroffen werden.
Heinemann: Die Region Grand Est teilt eine gemeinsame Grenze mit drei Bundesländern: Saarland, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem deutschen Föderalismus gemacht?
Rottner: Diese Erfahrung gibt es ja nicht erst seit dieser Krise. Meine Erfahrung beruht auf Vertrauen, Freundschaft und Wertschätzung, die ich für die drei Ministerpräsidenten empfinde, mit denen ich mich regelmäßig austausche – mit ihnen oder ihren Ministern.
"Großartige Aufnahme unserer Patienten in Deutschland"
Heinemann: Auch während der Krise?
Rottner: Auch während der Krise. Übrigens: vor allem während der Krise. Wir haben uns sehr oft am Telefon ausgetauscht. Mich verbindet eine besondere Freundschaft mit Tobias Hans im Saarland, sowie ein großer Respekt und eine gute Zusammenarbeit mit Winfried Kretschmann. Vor der Krise haben sich unsere beiden Regierungen bei ihm getroffen. Auch mit Malu Dreyer besteht ein Vertrauensverhältnis und ein regelmäßiger Telefonaustausch. Während dieser Krise haben wir eine ganz besondere Erfahrung eines engen Dialogs gemacht, die es uns ermöglicht hat, die Härten der französischen Republik oder des Bundes in Deutschland zu überwinden.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Durch die Nähe dieser vier Einheiten konnten wir Schwierigkeiten meistern. Das war nicht immer selbstverständlich und manchmal musst man zum Hörer greifen, um die Haltung und die Lage des anderen zu verstehen. Für sie war es ja auch beunruhigend zu sehen, was bei uns passierte. Das musste man dann erklären und entschlüsseln. Und das beste Ergebnis davon war die großartige Aufnahme unserer Patienten in Deutschland. Neun Bundesländer haben Intensiv-Patienten aus Frankreich aufgenommen. Das war außergewöhnlich und eine große Premiere.
Heinemann: Hat die Grenzschließung Ressentiments zum Vorschein gebracht?
Rottner: Ja, aber beiderseits der Grenze. Es stimmt, in der Bevölkerung kamen bestimmte Empfindungen hoch, und zwar ebenso in Deutschland wie in Frankreich. Dabei ist das Thema ein gemeinsames. Wie können wir die Epidemie in unserem Lebensraum gemeinsam eindämmen. Wir besiegen wir die Epidemie? Darum geht es.
"Die Kommission als politisches Entscheidungsorgan fehlte"
Heinemann: Franzosen wurden in Deutschland als – Zitat – "dreckige Franzosen" beschimpft. Deutsche in Frankreich als "Boches". Wie ist diese Schärfe zu erklären?
Rottner: Das kann man nicht entschuldigen. Das ist bedauerlich. Und man muss es verurteilen. Das sind populistische Reflexe, die ich nicht akzeptieren kann. Schon gar nicht in einer Zeit solcher Schwierigkeiten, in der man auf europäischer Ebene zusammenhalten muss. Diese Beleidigungen, denn darum handelt es sich, sind für mich nicht hinnehmbar. Die Regierungen der Länder und auch wir sind damit verantwortlich umgegangen und haben das bedauert. Wir dürfen diesem Populismus nicht den geringsten Raum in unserem Land überlassen. Und umgekehrt sollten sich unsere Länder in einer solchen Krise nicht einigeln. Europa muss seine Rolle spielen. Ich bedaure die Abwesenheit von Europa im weiten Sinne in dieser Krise. Die Europäische Kommission als politisches Entscheidungsorgan fehlte. Die Regierungen in der Region haben ihre Aufgabe erfüllt und verhindert, dass der Populismus ausufern konnte.
Heinemann: Wie kann man erklären, dass ein Coronavirus reicht, um alte Rivalitäten zu beleben?
Rottner: Das hat mit Angst zu tun. Die Angst vor dem anderen, vor der Zukunft. Und es bedeutet, die Geschichte zu vergessen. Die Aufgabe der Politik besteht nicht darin, der Macht der Menge nachzugeben. Sie muss darüber hinausgehen und die Richtung weisen. Sie muss die Menschen begleiten und erklären. Und sie muss handeln, damit Populismus, Beleidigungen und solche Sprüche keinen Platz haben.
Interaktive Karte mit COVID-19-Statistiken vom Zentrum für Systemwissenschaft und Systemtechnik der Johns Hopkins University in Baltimore
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Rottner: Ich bin nur Regionalpräsident, ich bin kein Staatspräsident oder Kanzler ...
Heinemann: Sie sind Europäer ...
Rottner: Wir hätten ein Europa benötigt, das die besonders betroffenen Gebiete unterstützt. Mit einer Strategie, die nicht daraus hinausläuft, dass jeder seine eigene Politik einführt. Die politisch Verantwortlichen müssen sich an die Spitze stellen: Es wurde zuletzt viel über europäische Finanzen und Haushalt gesprochen, nicht über eine Union, die handelt.
Heinemann: Der chinesische Botschafter in Frankreich hat auf seiner Internetseite geschrieben: "Einige Menschen würden die Erfolge der chinesischen Führung bewundern. Sie blicken neidisch auf die Effizienz unseres politischen Systems und hassen die Unfähigkeit ihrer eigenen Länder, die es nicht so gut hinbekommen." Ähnliches wurde via Twitter mitgeteilt. Sind solche Äußerungen diplomatisch akzeptabel?
Rottner: Nein, das glaube ich nicht. Und schon gar nicht im Zusammenhang mit einer Epidemie. Ich bin Arzt. Krankheiten gegenüber sollte man sich demütig verhalten. China hat die Krise überwunden, umso besser. Wobei man heute noch nicht alles über die Epidemie in diesem Land weiß. Wo es nötig ist, muss man dem Virus wissenschaftlich begegnen. Aber man sollte nicht die Wissenschaft politisieren oder Politik mit der Wissenschaft betreiben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.