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Deutsch-griechische Beziehungen
Erinnern und Vergessen

Auf griechischen Karikaturen erscheint Angela Merkel mit Hakenkreuz-Binde, während in Deutschland nicht nur Boulevardzeitungen über die "Pleite-Griechen" schreiben. All das sind Anzeichen tiefer Ressentiments zwischen Griechen und Deutschen, die in Zeiten der Krise besonders deutlich hervor treten. Der Sammelband "Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg" könnten das Phänomen erklären.

Von Paul Stänner | 20.07.2015
    Der neue griechische Premier Tsipras legt während einer Zeremonie in Kessariani Blumen an einem Denkmal nieder, das an erschossene Widerstandskämpfer während der Besatzung Griechenlands durch die Nationalsozialisten erinnert.
    Der griechische Premier Tsipras legt Blumen vor einem Denkmal nieder, das an erschossene Widerstandskämpfer während der Besatzung Griechenlands durch die Nationalsozialisten erinnert. (AFP Photo / Intime News / Chalkiopoulos Nikos)
    „Das 'deutsche Vergessen' ist ein gewolltes und dann auch ein gewachsenes", sagen die Herausgeberinnen Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou schon in ihrer gemeinsamen Einleitung. Von 1941 bis 1944 hielt die deutsche Wehrmacht, unterstützt von italienischen und bulgarischen Einheiten, Griechenland besetzt. Zwangsarbeit, Deportation, Ermordung der Juden, Massaker an der Zivilbevölkerung - die deutschen Besatzungstruppen wüteten hier in gleicher Weise wie in anderen Ländern. Nur weiß man es eben nicht mehr: Das französische Oradour als Ort eines Massakers ist jedem geläufig, Distimo oder Kalavryta - diese Namen erreichten die deutsche Öffentlichkeit wohl erst im vergangenen Jahr, als Bundespräsident Joachim Gauck Griechenland besuchte und im Namen der Deutschen um Vergebung bat.
    Nehmen wir Kalavryta: Im Oktober 1943 scheiterte ein Gefangenenaustausch zwischen einer griechischen Partisaneneinheit, die 81 Deutsche gefangen hielt, und der Wehrmacht. Die Wehrmacht rückte an, die Partisanen brachten ihre Gefangenen um. Vermutlich wurden in der Racheaktion der Deutschen 696 Zivilisten getötet. Die griechische Geschichtsschreibung aber, so Anna Maria Droumpouki in ihrem Aufsatz, erhöhte die Zahl der Opfer gleich auf mehr als das Doppelte. Die Toten wurden in der griechischen Nachkriegsgeschichte politisch instrumentalisiert, denn bis 1949 tobte ein Bürgerkrieg zwischen kommunistischen und konservativen Milizen, die jeweils tatkräftige ausländische Unterstützung fanden. An dieser Konfliktlinie orientierte sich auch die Erinnerung an Kalavryta. Die Linken betonten die Unmenschlichkeit der Deutschen, die Rechten stellten die Frage, ob nicht die kommunistischen Partisanen die Schuldigen seien und ob nicht die Reaktion der Deutschen verständlich war.
    Der Sieger bestimmt die Geschichte
    Die konservativen Kräfte gewannen den Bürgerkrieg und mit ihnen gewann auch ihre Lesart, dies war günstig für die deutsche Nachkriegspolitik. So wurden, als 1956 Bundespräsident Theodor Heuss Griechenland besuchte, in einem vorbereitenden Papier des Auswärtigen Amtes die "Gegebenheiten zur Zeit der deutschen Besetzung" als zweitrangig dargestellt, weil sie "durch die Grausamkeiten des griechischen Bürgerkrieges [...] überdeckt wurden."
    Da stehen deutsche Begebenheiten (wir reden von über 600 Toten) gegen griechische Grausamkeiten - wie günstig für Deutschland, für die Amtsträger des Auswärtigen Amtes, die den Regimewechsel oft unbeschadet überstanden hatten. Der Beitrag von Constantin Goschler untersucht zum Fall des Tat-Ortes "Distimo" die nationale und internationale Rechtsprechung und die Frage des von Deutschland zu leistenden Schadenersatzes. Er kann aufzeigen, dass der Internationale Gerichtshof zwar Deutschland die Staatenimmunität gewährte, sich aber über ausgebliebene Entschädigungen wunderte und dem Beklagten empfahl, dieses Thema in politischen Verhandlungen zu bewältigen. Goschler resümiert sarkastisch:
    "Diese führten in der Zwischenzeit vor allem zum Vorschlag, anstelle des steinigen Pfades der Entschädigungspolitik den samtenen Weg der Erinnerungskultur zu beschreiten."
    Und selbst dieser Weg ist holprig genug.
    Ein Sammelband stellt die Erinnerung beider Seiten dar
    Der Band „Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg" ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Juli 2012 an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität durchgeführt wurde. 27 sehr ausführliche Artikel befassen sich mit der wandelbaren Kultur der Verdrängung und Erinnerung auf beiden Seiten.
    Wenn man einer Untersuchung von Angela Kastrinaki folgt, zeigt sich diese kontroverse Erinnerungskultur auch im Bild des deutschen Besatzungssoldaten in der Literatur. Die linken Autoren der griechischen Nachkriegszeit sahen ihn als gewissen- und empfindungslose Automaten, der den Tod brachte, die Rechten fanden die Deutschen eher sympathisch, verglichen mit den kommunistischen Bürgerkriegsgegnern. Die Autorin kommt zu dem Schluss:
    "Im Allgemeinen jedoch ist der Unterschied in der Wahrnehmung der Deutschen zwischen den politischen Lagern offensichtlich und hat nichts mit diesen, sondern mit den Griechen selbst zu tun."
    Auch die Erinnerung der Deutschen wird thematisiert: Walter Höllerer, Franz Fühmann, Erwin Strittmatter sind Schriftsteller, die als Soldaten in Griechenland stationiert waren und eine sehr selektive Erinnerung an diese Zeit pflegten: Strittmatter hielt zeitlebens verborgen, dass er als Angehöriger einer SS-Polizeieinheit in Griechenland gewesen war. Andere verengten ihre Erinnerung so, als habe der deutsche Kulturmensch das Land besetzt gehalten und nicht mit Partisanen, sondern antiken Göttern gerungen.
    Diese Sammlung von Aufsätzen ist ein wichtiges Werk, gerade für die Gegenwart. Die Syriza-Propaganda, so scheint es, hat die Konflikte zwischen Griechenland und seinen internationalen Gläubigern auf einen Kampf "Athen gegen Berlin" fokussiert. Und dies war möglich, weil diese Darstellung an viele Ereignisse anknüpfen konnte, an die man sich in Deutschland nicht erinnern mochte - weshalb man von den giftigen Angriffen überrascht wurde.
    So gesehen bildet der Band, gerade auch durch seine thematische Spannbreite, ein notwendiges Korrektiv gegen das Vergessen aus Schludrigkeit oder Absicht - sowohl auf deutscher wie griechischer Seite. Nicht jeder einzelne Aufsatz ist mit Freude oder auch nur Leichtigkeit zu lesen. Oft genug erschwert akademische Unbeholfenheit die Kommunikation, aber die Menge der Information lohnt die Lesearbeit. Schließlich haben Deutschland und Griechenland noch eine gemeinsame Zukunft zu bewältigen - denkt man jedenfalls.
    "Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. Griechische und deutsche Erinnerungskultur"
    Herausgegeben von Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou
    Böhlau Verlag Köln Wien Weimar 2015