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Deutsch-türkische Unternehmer
Längst nicht mehr nur Imbiss und Gemüse

Einwanderer mit türkischem Migrationshintergrund sind laut Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkei-Studien inzwischen in nahezu allen Branchen in Deutschland präsent. Mit Blick auf das Verhältnis der deutschen Wirtschaft zur Türkei sagte sie im DLF, die Türkei wisse um die Bedeutung eines verlässlichen Partners.

Gülay Kizilocak im Gespräch mit Birgid Becker | 27.03.2017
    Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien in Essen
    Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien in Essen (Imago/ Horst Galuschka)
    Birgid Becker: Zum Start das Referendum des türkischen Präsidenten, über das die hier lebenden Türken ab heute bis zum 9. April abstimmen können. Das Referendum, das auf der politischen Ebene zwischen Ankara und Berlin für so enorme Unstimmigkeiten und Spannungen gesorgt hat, und nicht nur dort. Damit guten Tag an Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkei-Studien in Essen.
    Gülay Kizilocak: Guten Tag, Frau Becker.
    Becker: Die hier lebenden Türken sind ein gesellschaftlicher Faktor, klar, aber auch ein ökonomischer. Umreißen Sie doch so ein bisschen das Bild. Wie präsent sind türkischstämmige Unternehmer und Selbständige in Deutschland?
    Kizilocak: Das typische Bild, das wir Anfang der Migration, also in den 80er-Jahren hatten, dass die hier lebenden Türken in dieser typischen Nischen-Ökonomie waren, sprich Lebensmittelladen oder imbissähnliche Geschäfte betrieben haben, das ist schon längst weg. Wenn man zahlenmäßig das mal präsentieren würde, dann sprechen wir von rund 90.000 Unternehmen mit türkischen Inhabern, und die wiederum in Deutschland auch nahezu in allen Branchen. Wenn sie jetzt mehrheitlich als Kleinunternehmer gelten, mehrheitlich im Handel oder in der Gastronomie und dergleichen Branchen mehr tätig sind, sie sind aber nahezu in allen Branchen, das heißt in fast allen Wirtschaftssektoren präsent.
    Junge Generation in innovativen Branchen präsent
    Becker: Also längst nicht nur mehr Gastronomie, sondern ebenso auch Hardware und Software oder Technologie?
    Kizilocak: Ja, Biotechnologie, Umwelttechnologie. Gerade da sind die Nachfolgegenerationen. Während die ersten Generationen tatsächlich von dieser typischen Ökonomie bestimmt waren, die eigenen Landsleute zu bedienen, hat sich die zweite und dritte Generation vor allem in innovativen Bereichen, aber auch entsprechend aus- und weitergebildet, haben sich dann hier niedergelassen beziehungsweise auch die Selbständigkeit entdeckt.
    Becker: Sind denn türkische Arbeitgeber in Deutschland eher unter sich, also vor allem orientiert an und in der türkischen Community, was die Mitarbeiter und die Kunden angeht?
    Kizilocak: Nein, eben weil sie jetzt in allen Wirtschaftssektoren vertreten sind. Wir sprechen ja auch von diesen innovativen Branchen wie Biotechnologie. Sie sind weit weg von der eigenen sozusagen Community und bieten tatsächlich auch für alle, jetzt nicht nur Deutsche, sondern auch international so viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Zahlenmäßig kann ich Ihnen das ungefähr sagen: Diese 90.000 Unternehmer können inzwischen rund 400.000 Beschäftigte haben und man spricht von 40 Milliarden Euro Umsatz, was diese Unternehmen machen. Das sind ja deutsche Unternehmen eigentlich. Sie gelten ja nicht mehr als typisch ethnisch. Inzwischen werden nicht nur die türkischen Unternehmen, wenn Sie meinen, ob sie jetzt die türkische Community bedienen, durch dieses Ethno-Marketing und ethnische Ökonomie haben auch sehr viele deutsche Großunternehmen dieses Potenzial entdeckt und bieten auch für diese Kunden aus der türkischen Community Produkte an.
    "Bisher hat sich niemand aus der Türkei zurückgezogen"
    Becker: Nach einer Umfrage des DIHK, des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, sagen 43 Prozent der befragten Unternehmen im Inland, die Geschäfte mit der Türkei machen, dass es unter dem Eindruck der Spannungen zwischen Ankara und Berlin so sei, dass sich die Geschäftslage verschlechtert habe. Nur 17 Prozent sagen, die Lage sei gut. Wie ist Ihre Einschätzung zur Situation der türkischstämmigen Unternehmer hier? Belasten die Spannungen rund um die Politik Erdogans, rund um das Referendum die Geschäftslage?
    Kizilocak: Was jetzt die Gesellschaft angeht, ja natürlich. Diese Spaltung durch diese Konflikte oder Provokationen, die seit Wochen anhalten, oder schon früher eigentlich die Attacken von türkischer Seite, vor allem durch den Staatspräsidenten Erdogan nach Deutschland, spüren natürlich die Menschen hier. Aber wenn wir vom wirtschaftlichen Faktor sprechen, wenn wir sagen, aha, die türkischen Unternehmen sind inzwischen in allen Branchen, sie sind auch globalisiert, leben in einer globalisierten Welt, dann sind sie nicht mehr von der Türkei abhängig, was die Produkte angeht. Vielleicht ist es natürlich, wenn die Menschen auf deutsch-türkischer Ebene sehr viele Zuliefererarbeit übernehmen. Dennoch sind da keinerlei Konflikte oder Probleme aufgetreten, nur dass die türkische Wirtschaft darunter leidet, nicht nur durch die innenpolitische Entwicklung, aber auch durch das, was die Sicherheit angeht, den internationalen Terrorismus, dass die Investitionen, ausländische Direktinvestitionen ferngeblieben sind. Aber dennoch: Zahlenmäßig sind die deutschen Direktinvestitionen die meisten. Wir sprechen von cirka 6.000. Bisher hat sich niemand quasi aus der Türkei zurückgezogen. Eher Neuinvestitionen überlegen sich viele Menschen.
    "Türkei und Deutschland sind aufeinander angewiesen"
    Becker: Das würde sich dann in der Zukunft wahrscheinlich negativ auswirken, oder?
    Kizilocak: Warten wir mal ab, was jetzt ab dem 16. April geschieht, was dieses Referendum hervorbringt. Immerhin ist das eine Volksabstimmung, was die Zukunft der Türkei angeht. Die Türkei weiß in der Hinsicht ganz genau, dass die Türkei von Deutschland, aber auch beide Länder eigentlich aufeinander angewiesen sind, was wirtschaftliche Abhängigkeit vor allem der Türkei angeht. Auch nach dem Referendum ist es, glaube ich, wichtiger, dass man gerade für Wirtschaftsleute ein angenehmeres Klima beziehungsweise eine Atmosphäre schaffen muss.
    Becker: Denn das muss man ja festhalten: Ganz egal wie das Referendum ausgeht: Das was es an Irritationen, an Spannungen gegeben hat, das löst sich ja nicht sofort wieder in Luft auf.
    Kizilocak: Nein, natürlich nicht. Aber Staatspräsident Erdogan beziehungsweise die türkische Regierung hat nicht umsonst, was die Provokationen angeht, damit aufgehört und den türkischen Politikern ihre Wahlkampfauftritte nicht mehr erlaubt. Da weiß die Türkei ganz genau, wenn weiter darauf beharrt wird, dass man auf einen verlässlichen engen Partner, vor allem wenn wir jetzt von Wirtschaft sprechen, nicht verzichten kann. Das ist, glaube ich, auch unter anderem ein Grund, warum die Türkei sich da eher andere Konfliktbereiche sucht, als jetzt Deutschland immer wieder anzugreifen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.