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Christopher Mlalazi: "Wegrennen mit Mutter"

Von Gaby Mayr | 08.08.2014
    Christopher Mlalazi lacht gerne und spricht recht schnell. Und manchmal, hat man den Eindruck, kann er kaum glauben, dass er mittlerweile in einem Atemzug genannt wird mit Zimbabwes - jedenfalls im englischen Sprachraum - bekannten literarischen Größen wie Dambudzo Marechera, Yvonne Vera und Chenjerai Hove.
    Mlalazi ist in Bulawayo aufgewachsen, der zweitgrößten Stadt des südostafrikanischen Landes. In Bulawayo leitete Yvonne Vera um 2000 einige Jahre lang die dortige Nationalgalerie:
    "Ich habe Yvonne Vera dort gesehen. Zu der Zeit war sie schon eine große Schriftstellerin. Und ich hatte gerade mal Kurzgeschichten geschrieben. Sie hatte damals schon bedeutende internationale Preise gewonnen. Sie war eine Art Vorbild."
    Bei aller Hochachtung für die erste Generation zimbabwescher Schriftstellerinnen und Autoren - die Jüngeren haben andere Themen:
    "Wir, die neue Welle von Schriftstellern, schreiben über den neuen Kolonialismus. Den Mugabe-Kolonialismus."
    "Wegrennen mit Mutter" spielt kurz nach der Unabhängigkeit von 1980: Robert Mugabe war frisch gewählter Regierungschef - und die Welt klatschte ihm Beifall. Denn der einstige Guerilla-Führer der Befreiungsbewegung ZANU galt als Versöhner zwischen der schwarzen Mehrheit und der weißen Minderheit, die das Land Jahrzehnte lang beherrscht hatte.
    Was damals kaum jemand wahrhaben wollte: Bereits 1982, zwei Jahre nach der Unabhängigkeit, setzte Mugabe seine in Nordkorea geschulte Spezialeinheit "Gukurahundi" in Marsch, um sogenannte "Dissidenten" zu bekämpfen.
    Mugabe gehört zum Volk der Shona. Als Dissidenten galten Angehörige des Ndebele-Volkes: Unzufriedene ehemalige Kämpfer der - anderen - Befreiungsbewegung ZAPU aus der Region Matabeleland, mit Bulawayo als größter Stadt. Vielleicht wurden die Unruhestifter aber auch vom Nachbarland Südafrika finanziert - das weiß man bis heute nicht. Denn Südafrikas damalige weiße Machthaber fürchteten, das zimbabwesche Vorbild könnte auf den Apartheidstaat übergreifen.
    Der gewalttätige Gukurahundi-Einsatz diente dazu, Mugabes Macht zu festigen. Fünf Jahre lang wütete die mörderische Truppe im Süden Zimbabwes. Vor diesem Hintergrund aus den 1980er-Jahren hat Christopher Mlalazi seine Geschichte "Wegrennen mit Mutter" geschrieben - nicht als Dokumentation, sondern als ergreifender Roman über eine Zeit, die Zimbabwe bis heute verfolgt.
    Rudo, die 14-jährige Ich-Erzählerin, ist mit ihren Freundinnen auf dem Heimweg von der Schule ins Dorf. Unterwegs werden sie von Regierungssoldaten angehalten.
    "Die Mädchen traten vorsichtig näher. Ich schaute den Soldaten mit der Lesebrille an. Er musterte sie. Er lächelte noch immer. Dann streckte er eine Hand aus, und ein Soldat reichte ihm ein in Aluminiumfolie gewickeltes Päckchen, so selbstverständlich, als hätte er dasselbe schon viele Male getan. Der Offizier wickelte das Päckchen aus, nahm etwas heraus und hielt es vor uns hin. Mein Herz stockte, und hinter mir hörte ich die Mädchen schreien. Es war eine Hand. Sie war am Gelenk, das noch immer blutig glänzte, abgetrennt worden. Mir fiel auf, dass an einem Finger ein silberner Ring schimmerte."
    Beklemmende Atmosphäre in ruhiger Sprache geschildert
    Rudo kann Shona sprechen - ihre Mutter ist eine Shona, nur der Vater gehört zum Volk der Ndebele. Der Offizier befiehlt Rudo deshalb, weiter zu gehen. Ihre Freundinnen wird sie nie wieder sehen.
    Nach diesem schrecklichen Ereignis und nachdem der Vater nicht nach Hause kommt, beschließt die Mutter, dass sie fliehen - mit einer Tante und einem Säugling aus der Verwandtschaft, der ein Massaker unter einem Leichenberg überlebt hat.
    "Wegrennen mit Mutter" umfasst nur wenige Tage. Christopher Mlalazi gelingt es, ruhig und in präziser Sprache die beklemmende Atmosphäre jener Zeit wachzurufen. Der Autor vertraut seiner Geschichte und seinem klaren Erzählduktus - gestalterische oder sprachliche Effekthascherei hat er nicht nötig. Mit kurzen, prägnanten Rückblenden verleiht er seinen Figuren Tiefe.
    Als die Spezialtruppe ihren Terror begann, war Christopher Mlalazi zwölf Jahre alt. Er, der Ndebele-Junge, wuchs in einer Township von Bulawayo gemeinsam mit Shona- und Zulu-Kindern auf. Die Gukurahundi-Soldaten wüteten vor allem auf dem Land. Nur langsam gelangten Nachrichten von den Gräueln in die Stadt. Und dann erreichte das Grauen auch Bulawayo:
    "Eines Tages flogen Helikopter über die Stadt. Aus dem Hubschrauber rief jemand über Lautsprecher in Ndebele, Shona und Englisch, dass wir umzingelt seien. Geht nicht weg! Bleibt zu Hause! Immer und immer wieder. Ihr seid umzingelt! Bewegt euch nicht! Dann strömten Soldaten in die Stadt. Ich erinnere mich, wie ich die Angst meiner Eltern spürte. Plötzlich hatten alle Angst."
    Hubschrauber sind auch in Christopher Mlalazis Roman der Inbegriff von Bedrohung - ein Instrument zum Aufbau bedrückender Spannung. Etwa als die Flüchtenden auf dem Weg zu den Phezulu-Bergen, wo sie sich in Sicherheit bringen wollen, einen Fluss durchqueren:
    "Das Wasser spülte so schnell an den Wurzeln vorbei, dass sich Schaum bildete, der an ihnen hängenblieb. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber die Strömung war zu stark. Dann hörte ich durch das Rauschen des Wassers über mir ein mächtiges Dröhnen und eine durchdringende Stimme. "Ihr seid von der Armee umzingelt." ... "Geht sofort zur Schule zurück, und wir vergeben euch." Die Nachricht wurde wiederholt, und dann erklang absurderweise Rumba-Musik. Der Hubschrauber donnerte über mich hinweg, verdeckte kurz die Sonne und verschwand mitsamt der lauten Party-Musik."
    Von ihrem Versteck in den Phezulu-Bergen aus beobachtet Rudo, wie Hubschrauber dunkle Pakete über aufgelassenen Minenschächten am Fuß des Gebirges abwerfen. Es sind, das erfahren die Flüchtenden später, Leichen von Gukurahundi-Opfern.
    Mindestens 20.000 Menschen starben nach Schätzungen durch das Wüten der Terrortruppe. Weitere Tausende wurden vergewaltigt und verstümmelt.
    Gukurahundi stand unter direktem Befehl von Robert Mugabe. Der ist bis heute an der Macht. Christopher Mlalazi hat viel recherchiert über Gukurahundi - und damit ein von der Regierung gesetztes Tabu berührt.
    "Wann immer wir das Gefühl haben, dass uns niemand hört, sprechen wir über Gukurahundi. Aber wir wissen, dass die Regierung das verbietet. Niemand darf darüber reden."
    Christopher Mlalazi hat aus dem Trauma seines Ndebele-Volkes eindrucksvolle Literatur geschaffen. Eine Stärke liegt darin, dass er nicht Schwarz-weiß malt. Frontlinien verschwimmen mitunter: Rudo und ihre Gruppe haben Angst vor den Soldaten. Aber auch vor anderen Flüchtenden. Denn die Mutter spricht als Shona dieselbe Sprache wie die Mörder. Die Tante - Auntie - ist dagegen eine Ndebele und deshalb in größter Gefahr, falls sie den Soldaten in die Hände fällt. Insgeheim hoffen sie, dass sie bald aus dem Alptraum erwachen werden. Dass die Gewaltorgie ein Missverständnis sein muss. Das allerdings ist ein furchtbarer Irrtum.
    Ein weiterer Irrtum: Die Phezulu-Berge sind kein sicherer Zufluchtsort. Die Soldaten stöbern Rudos Gruppe auf. Der Chef des Trupps ist jener Offizier, der Rudo und ihren Freundinnen wenige Tage zuvor die abgehackte Hand hingehalten hatte. Mutter und Rudo scheinen deshalb sicher, denn dieser Captain Finish vergreift sich nicht an Shona sprechenden Menschen. Die Tante dagegen ist in Lebensgefahr.
    "Aunties Lippen begannen sich zu bewegen, aber kein Wort kam heraus. 'Sie ist krank geworden', flüsterte Mutter. 'Das war der Sturz vom Berg. Aber zum Glück lebt sie noch.' Mutter sprach Shona. Vielleicht hoffte sie, die Soldaten würden auch Auntie für eine Shona halten.'
    Christopher Mlalazi: "Wegrennen mit Mutter"
    Aus dem Englischen von Andreas Münzner
    Horlemann Verlag