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Deutschland aus der Sicht zweier Brüder

Bernhard Vogel und Hans-Jochen sind Brüder und zwei Spitzenpolitiker in Union und SPD. 60 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte haben die beiden miterlebt und mitgestaltet und über diese Zeit gemeinsam ein Buch geschrieben. "Aus der Vogelperspektive" - so der humorvolle Titel. Eine Rezension von Rainer Burchardt.

02.04.2007
    "In der Familie hat das keine so furchtbar große Aufregung ausgelöst, weil man halt gedacht hat, der eine wird vielleicht ja mal ein guter Rechtsanwalt und ist in der SPD, und der andere, wenn er's schafft, vielleicht mal Professor und ist in der CDU.

    Wir haben beide gefühlt und gemeint, es genügt nicht, wenn man sich nur um sein eigenes Fortkommen kümmert. Wir haben immer ein sehr anständiges, gutes brüderliches Verhältnis gehabt, obwohl wir ganz unterschiedliche Meinungen in vielen Fragen hatten, aber wir hatten den Vorteil, dass wir nie im gleichen Gremium waren."

    Wenn das keine Große Koalition ist. Zwar nur en famille, dafür aber eine lebenslange Bruderschaft, die trotz politischer Gegensätze bis auf den heutigen Tag hält. Und zwar so gut, dass die beiden Brüder Hans-Jochen und Bernhard Vogel gar ein gemeinsames Buch geschrieben haben. Gemeinsam und doch mit jeweils persönlichen Nuancierungen. Wahrlich ein Stück sehr lebendiger Zeitgeschichte ist den Autoren gelungen. Dabei haben sich beide, wie sie im Vorwort betonen, bemüht, den nachwachsenden Generationen Mut zu politischem Engagement zu machen:

    Es macht Sinn, sich politisch zu engagieren. { ... ] Die Geschichte der Bundesrepublik ist - ungeachtet mancher Fehlleistungen, personeller Unzulänglichkeiten und Krisen - eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Ob sie das auch in Zukunft bleibt, hängt von uns allen ab.

    Interessant ist, dass die Autoren sich die verschiedenen Epochen fein säuberlich aufgeteilt haben. Während Hans-Jochen, der Ältere, noch einige Kriegserlebnisse als Soldat und Kriegsgefangener beschreibt, erlebt Bruder Bernhard diese Zeit als Kind, hat aber durchaus auch einige Erinnerungen. Das Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland, deren verfassungsmäßige Grundlagen der Jurist Hans-Jochen Vogel besonders detailliert beschreibt, nennt Bruder Bernhard mit dem Umzug der Familie von Gießen nach München das Ende seiner Kindheit. Es überrascht nicht gerade, dass die beiden Autoren besonders kompetent und ausführlich über ihre jeweiligen Parteien berichten, für Hans Jochen Vogel war nach eigenen Worten eine Wahlkampfveranstaltung mit Kurt Schumacher der Grund in die SPD einzutreten, Bruder Bernhard schwärmt wiederum von Konrad Adenauer, den er als einen der wichtigsten und erfolgreichsten deutschen Staatsmänner sieht. Vor allem die von Adenauer in Moskau anno 1955 erreichte Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen ist für Bernhard Vogel eine der größten Leistungen des ersten deutschen Bundeskanzlers.

    Für viele gilt die Rückkehr der Gefangenen noch heute als außenpolitische Großtat und innenpolitischer Triumph, als größter politischer Erfolg Adenauers. Die Bilder von den heimkehrenden Gefangenen im Lager Friedland bei Göttingen trieben uns die Tränen in die Augen. Ich werde die Bilder nicht vergessen.

    Was für Bernhard Vogel Konrad Adenauer ist, das ist für Bruder Hans-Jochen Willy Brandt. Dessen Lebenslauf und Lebenswerk sind für ihn ein Gleichnis der jüngeren deutschen Geschichte. Als wichtigste Leistung des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers sieht Hans-Jochen Vogel die von Brandt durchgesetzte Ergänzung der Adenauerschen Westintegration durch die neue Ostpolitik ...

    [ ... ] die ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende Übereinkommen mit der Sowjetunion, mit anderen osteuropäischen Ländern und mit der DDR möglich machte, die Lage in Mitteleuropa stabilisierte, die Mauer und den Eisernen Vorhang durchlässiger werden ließ, den Prozess von Helsinki in Gang setzte und, von heute her gesehen, eine nicht wegzudenkende Ursache für die deutsche Einheit und ebenso für den Fortgang der europäischen Einigung schuf. Dieses Engagement fand bereits 1971 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises eine international sichtbare Anerkennung.

    Besonders spannend sind die Passagen zum so genannten "Deutschen Herbst", dem Terrorjahr 1977 mit der Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer als traurigen Höhepunkt einer ganzen Serie von Morden der RAF. Der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel erklärt in einem sehr persönlich gehaltenen Kondolenzbrief an die Familie Schleyer, warum die Staatsraison Vorrang vor der Befreiung der Geisel haben musste:

    Kaum ein Kondolenzbrief ist mir so schwergefallen wie dieser. Denn bei keinem Verstorbenen musste ich mir sagen, dass ich - jedenfalls aus der Sicht der Angehörigen - daran hätte mitwirken können, ihn zu retten. Dass ich es nicht getan [ ... ] habe, leugne ich nicht. Aber der Gedanke, dass ein solches Votum den sicheren Tod einer großen Anzahl jetzt namentlich noch nicht bekannter Opfer und zugleich eine schwere Erschütterung [ ... ] der Fähigkeit des Staates bedeutet hätte, die ihm anvertrauten Rechtsgüter zu schützen, hat mir als Justizminister ein solches Votum unmöglich gemacht.

    Auch Bernhard Vogels politisches Leben blieb von der Terrorwelle nicht unberührt. Als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz erreichte ihn Ende der achtziger Jahre das Gnadengesuch des zum harten RAF-Kern zählenden Klaus Jünschke, der wegen Mordes seit 16 Jahren im Gefängnis saß. Vogel schreibt dazu:

    Weil für mich die Terroristenprozesse keine politischen Prozesse waren [ ... ], war ich der Meinung, im Falle Jünschkes dürfe es weder eine Vorzugsbehandlung noch eine Nachteilsbehandlung geben. Ein normales Gnadenverfahren sei durchzuführen.

    Nach vielfältigen politischen Konsultationen und weil er den Eindruck hatte, Jünschke sei geläutert, hat Bernhard Vogel den Häftling seinerzeit begnadigt. Eine nachdenkenswerte Parallele zur aktuellen Begnadigungsdebatte von RAF-Terroristen in Deutschland. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie sehr das Bruderpaar Vogel in die deutsche Nachkriegsgeschichte involviert war. Hans-Jochen Vogel wurde Kanzlerkandidat, SPD-Vorsitzender und führte die Fraktion im Bundestag mit straffem Zügel und bisweilen pedantischen Allüren, die er heute, altersmilde gestimmt, ebenso einräumt wie seinen Oberlehrerstatus. Sein Bruder Bernhard trat nach dem Mauerfall noch eine zweite Karriere als Ministerpräsident in Thüringen an. Ob Wiederaufbau, Wiedervereinigung oder das Kleinklein der deutschen Innenpolitik, beide haben an wichtigen Orten wichtige Funktionen in sehr wichtigen Zeitläuften gehabt. Darüber schreiben beide offen und ehrlich, nicht ohne Selbstkritik, aber auch nicht ohne Stolz, über das Geleistete. Sie sind, so gesehen, die Inkarnation der zweiten deutschen Republik. Ein spannendes und lehrreiches, nie aber belehrendes Buch. Es sollte Pflichtlektüre an Schulen zum Thema neuere deutsche Zeitgeschichte werden.

    Rainer Burchardt besprach das Buch von Bernhard und Hans-Jochen Vogel. Deutschland aus der Vogel-Perspektive. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik. Herder Verlag Freiburg. 320 Seiten, 19,90 Euro.
    Bernhard Vogel, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU)
    Bernhard Vogel, CDU-Vorstandsmitglied (AP)