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Deutschland im Wandel
Wie Fremde zu Freunden werden

Die Flüchtlingskrise ist ein hochbrisantes Thema in Deutschland. Marina und Herfried Münkler haben mit ihrem Buch "Die neuen Deutschen" versucht sich der Problematik zu nähern. Ihr politischer Diskurs schönt keine Fakten, gibt aber Aussicht darauf, dass Migration einen positiven Einfluss auf die Zukunft unseres Landes haben kann.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 19.09.2016
    Hart aber fair am 05.09.2016 im Studio Berlin Adlershof in Berlin Herfried Münkler stellt sein Buch "Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft?" vor.
    Der renommierte Politikwissenschaftler Herfried Münkler schrieb "Die neuen Deutschen" zusammen mit seiner Frau Marina. (picture alliance/ dpa/ Revierfoto)
    Marina und Herfried Münkler treffen den Nerv. Im Jahr eins nach der Zuwanderung von mehr als einer Million Flüchtlinge, legen sie eine Analyse über den Zustand der deutschen Gesellschaft vor. Die beiden Wissenschaftler wollen das seit 2015 "gespaltene Land", wie sie sagen, wieder debattenfähig machen. Marina Münkler, Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dresden:
    "Denn im Augenblick läuft in großen Teilen gar keine Debatte, sondern wir haben's mit dem Austausch von Feindseligkeiten zu tun. (…) Es trägt überhaupt nicht zur Lösung der Probleme bei. Und das schien uns sehr wichtig zu sein, dass man einen etwas distanzierteren Blick nimmt. Und dass man auch versucht, das Ganze historisch etwas einzuordnen und nicht so zu tun, als sei Migration quasi unvordenklich und jetzt gerade katastrophisch über uns herein gebrochen."
    Einwanderung als soziokulturelles und historisches Phänomen
    "Die neuen Deutschen" ist ein lesenswerter Essay über Migration. Was veranlasst Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen? Was ebnet oder erschwert ihnen den Weg? Was führt dazu, dass sie sich im Aufnahmeland willkommen fühlen, sich eine Nische suchen oder aber in die Illegalität geraten? Das Buch verwebt kultur- und sozialwissenschaftliche Diskussionen mit der Analyse historischer Prozesse und dem Vergleich unterschiedlicher Länder. Zuwanderung, die regelmäßig als Arbeitsmigration und periodisch als Flucht vor Kriegen und Seuchen zu beobachten ist, halten die Autoren nicht nur aus humanitären Gründen für nötig. Sie wägen die Kosten und den Nutzen gegeneinander ab.
    "Das heißt, man muss einen Ausgleich finden (…) zwischen unterschiedlichen Aspekten, zwischen der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und auch der Menschen, die hierher kommen und (…) einer an Humanität orientierten Politik. Und das bedeutet, dass man im Grundsatz nicht eine Politik machen sollte, die auf Abschottung setzt, die ganz grundsätzlich darauf setzt, dass es ein ethnisch reines Deutschland gibt. Sondern die darauf setzt, dass es ganz sinnvoll ist, junge Menschen, die hierher kommen, zu integrieren und dafür zu sorgen, dass sie in der Weise, wie es durch das Grundgesetz vorgegeben ist, mit uns zusammen leben. Das bedeutet, dass man ein permanentes System des Nachsteuerns haben muss."
    Migration nach Deutschland wurde von der Politik zu wenig gelenkt
    Dass die Politik in den vergangenen Jahrzehnten dennoch der Lebenslüge anhing, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist zwar keine neue Erkenntnis. Marina und Herfried Münkler betonen aber, dass Migration nach Deutschland – bis auf die Anwerbeabkommen mit südeuropäischen Ländern und der Türkei – bislang zu wenig gesteuert wurde.
    "Also, man hat sich eigentlich unter dem Oberbegriff Gastarbeiter gar keine Gedanken gemacht, was das bedeutet, wenn eine relativ große Zahl von Leuten aus anderen kulturellen Räumen hier lebt. Und das hätte man schon längst machen müssen, so wie man sich überhaupt über Einwanderung hätte Gedanken machen müssen. Das ist seit Jahrzehnten klar: Wir haben eine zu niedrige demographische Reproduktionsrate. Und unser gesamtes Sozialsystem beruht darauf, dass wir eine relativ hohe demographische Reproduktionsrate haben."
    Nicht über Flüchtlinge klagen, sondern in sie investieren
    Deutschland soll die Grenzen nicht bedingungslos öffnen. Eine geregelte Zuwanderung sehen die Wissenschaftler als Chance. Statt über Flüchtlinge zu jammern, gelte es, in sie zu investieren. Genau gesagt in jeden, der das Land nicht in Kürze wieder verlassen muss. Schließlich sei nicht vorhersagbar, ob und wann die "neuen Deutschen" in ihre Heimat zurückkehren wollen. Die Bundeskanzlerin habe zwar richtig gehandelt, im Herbst 2015 vorübergehend die Grenzen zu öffnen und damit ein Ventil zu schaffen. Ihr Satz "Wir schaffen das" fordere positiv dazu auf, bei der Integration mit zu helfen. Allerdings habe Angela Merkel einen Kardinalfehler gemacht:
    "Der Fehler war, nicht wirklich mal, also relativ bald, nachdem die Grenzen offen waren, eine große Rede zu halten und zu sagen, was jetzt erforderlich ist. Das allerdings glauben wir ist nicht nur das Problem von Angela Merkel. Es hätte im Bundestag eine Debatte geben müssen darüber (…), was an Migration, was an Aufnahme möglich ist, wie wir das Problem bearbeiten wollen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Das Ganze ist nur in Talkshows kommuniziert worden. Das ist eine Katastrophe."
    Mangelnde Zustimmung zur Einwanderung und Integration der Flüchtlinge könne die Gefahr verstärken, dass diese ins Abseits geraten. Zwar sei eine Parallelgesellschaft nicht per sé schlecht – ein genauer Blick darauf jedoch nötig, um das Szenario französischer Banlieues zu vermeiden:
    "Handelt es sich um Parallelgesellschaften, die sich zur Aufnahmegesellschaft hin öffnen, oder um solche, die sich gegen sie abschließen? Wirken sie, auch wenn sie sich selbst nicht so begreifen, von ihren funktionalen Effekten her als Durchgangsschleusen in die deutsche Gesellschaft, oder sind es Räume dauerhafter Separation, in denen das Fremde eine abweisende bis feindselige Haltung gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft einnimmt?"
    Wie schaffen wir eine gelungene Integration?
    Erst im letzten Kapitel geht es um die Frage, die auf den Nägeln brennt: Wie kann Integration konkret gelingen? Die Autoren nennen elf Bausteine, so genannte Imperative einer erfolgreichen Integrationspolitik. Danach funktioniert Integration in erster Linie über den Arbeitsmarkt. Jugendliche brauchen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Frauen sollen zunächst mit Hilfe von Kursen, die ihre Fertigkeiten aufgreifen, aus ihrer häuslichen Isolation geholt werden. Asylbewerber dürfen nicht 15 Monate als nachrangig behandelt und damit in eine "Mentalität des Passiven" gedrängt werden, fordern die Wissenschaftler. Fehlende Anerkennung und Armut identifizieren Marina und Herfried Münkler als Hauptursache dafür, sich aus der Mehrheitsgesellschaft zurück zu ziehen – und nicht die Religion, genauer: den Islam. Vehement plädieren sie dafür, Integration nicht durch Sanktionen, sondern durch Gratifikationen zu befördern: etwa durch einen Praktikumsplatz nach dem Deutschkurs.
    Kein Anlass zu voreiligem Pessimismus
    Die Flüchtlinge aus dem Jahr 2015 sind untergebracht und versorgt. Das härtere Stück Arbeit stehe noch bevor, bilanziert das Buch nüchtern. Die Integration, die Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft nur gemeinsam leisten können, werde sich noch über viele Jahre hinziehen.
    "Es wird in einigen Fällen länger dauern, in anderen kürzer, und man muss davon ausgehen, dass sie mitunter auch erfolglos bleiben, weil die Voraussetzungen für eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt nachträglich nicht mehr herzustellen sind. Man sollte in dieser Frage nicht übertrieben optimistisch sein, sondern sich auch auf Enttäuschungen einstellen. Dennoch gibt es keinen Grund zu vorauseilendem Pessimismus."
    Herfried Münkler, Marina Münkler: "Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft." Rowohlt Berlin, 336 Seiten, 19,95 Euro.