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Deutschland, Russland, Europa
Wie der Fall Nawalny internationale Beziehungen verändert

Die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny ist eine Belastungsprobe für die deutsch-russischen Beziehungen, eine von mittlerweile zahlreichen. Vieles steht auf dem Prüfstand. Gibt es noch Möglichkeiten, sich mit Russland unter Präsident Wladimir Putin vertrauensvoll zu verständigen?

Von Thomas Franke | 15.09.2020
Alexej Nawalny vor russischen Flaggen bei einem Gedenkmarsch in Moskau am 29.02.2020.
Alexej Nawalny ist der prominenteste Oppositionspolitiker in Russland (dpa/ TASS/ Sergei Fadeichev)
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind so schlecht wie nie seit dem Ende der Sowjetunion. Jahrelang haben Politiker verschiedener Parteien an der Idee einer strategischen Partnerschaft mit Russland festgehalten, in der Bundesregierung insbesondere Sozialdemokraten. Doch Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sagt nun:
"In der Tat hat die russische Regierung offensichtlich kein Interesse an einer wirklichen Annäherung. Mit der Putin-Regierung ist eine strategische Partnerschaft auch nicht möglich."
"Wir waren blauäugig"
Eine Partnerschaft mit Russland war das Mantra bei nahezu jeder Begegnung von Deutschen und Russen. Beim Petersburger Dialog zum Beispiel. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Freund Wladimir Putin haben das Diskussionsforum 2001 gegründet, damit sich die Zivilgesellschaften begegnen. Oder das Deutsch-Russische Forum, das sich, stark von Wirtschaft geprägt, seit 1995 für einen Dialog zwischen den Ländern einsetzt.
Der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter hat an vielen dieser Begegnungen teilgenommen. Seiner Ansicht nach muss klar sein, "dass jegliche Beschwichtigung von unserer Seite als Schwäche ausgelegt wird und wir eben viel nüchterner und klarer mit Russland umgehen müssen. Interessenorientiert und nicht mehr so demütig, wie wir das in der Vergangenheit waren. Ich glaube, die Änderung unserer Position rührt von einer großen Enttäuschung, dass alle Signale der Annäherung des Deutsch-Russischen Forums, Petersburger Dialog et cetera, überhaupt nichts fruchten. Wir waren nicht harmoniesüchtig, sondern blauäugig."
Roderich Kiesewetter ist ein deutscher CDU-Politiker und ehemaliger Generalstabsoffizier der Bundeswehr. Bei der Bundestagswahl 2009 wurde er im Wahlkreis Aalen – Heidenheim als Direktkandidat in den Deutschen Bundestag gewählt. Er war von 2011 bis 2016 Präsident des Reservistenverbandes.Foto: Kai-Uwe Heinrich | Verwendung weltweit
"Wir müssen viel nüchterner und klarer mit Russland umgehen", meint der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter (picture alliance / Tsp / Kai-Uwe Heinrich)
Derzeit steht offensichtlich alles auf dem Prüfstand. Anlass für diesen Sinneswandel bot der Giftanschlag auf Alexej Nawalny. Der Jurist, Blogger und Oppositionspolitiker deckt seit Jahren mit einem Team Korruption und Bereicherung in Russland auf und macht dabei auch vor dem engsten Umfeld von Präsident Wladimir Putin nicht halt.
Am 20. August brach Nawalny nach einem Wahlkampfauftritt in Sibirien im Flugzeug zusammen. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Krankenhaus in Omsk, wurde er nach Berlin ausgeflogen, zur Behandlung in der Charité. Spezialisten der Bundeswehr und auch Labore in Schweden und in Frankreich stellten eine Vergiftung mit dem Nervengift Nowitschok fest. Der Kampfstoff wurde in der Sowjetunion entwickelt. Die Bundeskanzlerin verurteilte den "versuchten Giftmord" und forderte Russland ungewöhnlich deutlich zur Klärung auf:
"Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt. Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann."
Das Gebäude des FSB in Moskau
Nawalny, Nowitschok, Nervenspiele
Am 20. August wurde der russische Oppositionspolitiker Nawalny auf dem Rückflug von Sibirien ohnmächtig. Die Berliner Charité diagnostizierte eine Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok. Ein Blick auf Russlands Geheimdienste.
Moskau reagiert verärgert auf Nowitschok-Befund
Die russische Regierung hat mit einem Gegenangriff reagiert. Zunächst streuten staatlich kontrollierte Medien verschiedenste und einander zum Teil widersprechende Erklärungen, was tatsächlich mit Nawalny passiert sei: Zu wenig gegessen, zu viel Alkohol, eine Stoffwechselstörung und dergleichen mehr. Nachdem Ärzte in Omsk Nawalnys Angehörigen den Zutritt zu dem Patienten verweigert hatten mit der Begründung, ein Giftstoff könne Besucher gefährden, hieß es später, Nawalny sei gar nicht vergiftet worden.
Als dann schließlich der Laborbericht der Bundeswehr vorlag, der Spuren von Nowitschok bestätigte, reagierte die russische Führung verärgert. Das Nervengift müsse Nawalny später verabreicht worden sein, womöglich in Deutschland. Deshalb sollten die deutschen Behörden den russischen alle Erkenntnisse zu Nawalnys Gesundheit zur Verfügung stellen. In Moskau wurde der deutsche Botschafter einbestellt. In der anschließend veröffentlichten Presseerklärung des russischen Außenministeriums heißt es dazu:
"Der Botschafter wurde darauf hingewiesen, dass das Fehlen der vorgenannten Materialien als Weigerung der deutschen Bundesregierung gewertet wird, mittels einer objektiven Untersuchung die Wahrheit zu ermitteln; und ihr bisheriges und weiteres Vorgehen im Zusammenhang mit A. Navalny wird als grobe feindselige Provokation gegen Russland gesehen, mit schwerwiegenden Folgen für die russisch-deutschen Beziehungen und die internationale Lage."
Die Liste der Kritikpunkte ist lang
Alexej Nawalny ist nicht das erste Opfer:
2006: Ermordung des übergelaufenen ehemaligen russischen Agenten Aleksandr Litwinenko in Großbritannien.
2006: Ermordung der regierungskritischen Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau.
2015: Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow in Moskau.
2018: Versuchter Mord am ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter in Salisbury/England.
Das sind nur die prominentesten Fälle. Bis heute verhindern russische Behörden die Aufklärung. Auch die Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim, das Entfachen eines Krieges im Osten der Ukraine und der Abschuss eines Passagierflugzeugs über dem Donbas mit 298 Toten 2014 belasten das deutsch-russische Verhältnis.
Ebenso wie die Luftangriffe auf zivile Ziele in Syrien, der Mord an einem Tschetschenen mit georgischem Pass im Berliner Tiergarten, Hackerangriffe auf den deutschen Bundestag, die Einmischung unter anderem in den US-Wahlkampf, staatliche Propagandamedien, die Unwahrheiten in westlichen Demokratien verbreiten. Die Liste ist lang. Der Sozialdemokrat Nils Schmid meint, nun sei das Maß voll:
"Der Wendepunkt war die Attacke auf Skripal in Salisbury in England. Seit dieser Attacke haben die Europäer Resilienz gezeigt, indem sie konsequent die russische Verantwortlichkeit für Hackerangriffe, Morde, Attentate, Attentatsversuche benannt haben. Sie haben bei plausiblen Annahmen und mit habhaften Belegen die russische Regierung für die Angriffe verantwortlich gemacht. Und das ist jetzt auch im Fall Nawalny so."
Nils Schmid im Portrait bei einer Rede bei der 164. Sitzung des Deutschen Bundestag in Berlin
Das Maß ist voll, findet der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid mit Blick auf Russland (dpa/picture alliance - Flashpic)
"Wie kann ein solches Regime ein Partner sein?"
Wladimir Kara-Mursa hat das, was der russische Kremlkritiker Alexej Nawalny derzeit durchmacht, am eigenen Leib erlebt. Der 38-Jährige hat eng mit dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow zusammengearbeitet, der vor fünf Jahren in Moskau ermordet wurde. Kara-Mursa hat zwei Giftanschläge überstanden.
"Bei uns ist ein autoritäres, korruptes, kleptokratisches Regime an der Macht, das die Rechte und Freiheiten der Bürger im Inland und die grundlegenden Prinzipien und Normen des Völkerrechts im Ausland verletzt. Wie kann ein solches Regime ein Partner sein?"
Kara-Mursa lebt in Moskau und den USA. Letzte Woche nahm er in Berlin an einer Konferenz des Thinktanks "Liberale Moderne" der ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck zu "Russland und dem Westen" teil.
"Wissen Sie, was mich erstaunt: Ich bin jetzt seit einigen Tagen hier in Berlin, um vor allem mit vielen Bundestagsabgeordneten verschiedener Parteien zusammenzutreffen, und die Menschen fragen als erstes: 'Was soll Deutschland, was soll die Europäischen Union tun?' Vor fünf Jahren wurde der Kopf der russischen Opposition Boris Nemzow vor dem Kreml erschossen. Und Wahlbetrug und die Auflösung friedlicher Demonstrationen und die Schließung der unabhängigen Medien. Alle hätten längst alles über Putins Regime wissen müssen. Es ist schrecklich, dass manchmal erst so etwas passieren muss: dass hier im Zentrum Berlins in der Charité der Kopf der russischen Opposition liegen muss, damit den Leuten die Augen aufgehen. Aber wissen Sie, es gibt ein Sprichwort: Besser spät als nie."
08.09.2020, Berlin: Der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa blickt zu Beginn der Sitzung der FDP-Bundestagsfraktion in die Kamera des Fotografen. Kara-Mursa nimmt an der Sitzung teil. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
Wladimir Kara-Mursa hat selbst zwei Giftanschläge überstanden (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Muss Europa lernen, kontrolliert zu eskalieren?
Sergej Lagodinski sitzt für die Grünen im Europaparlament. Er meint, bereits zu Beginn der Krise in der Ukraine sei klar geworden, dass gegenüber Russland Grenzen gezogen werden müssen:
"Ich glaube, wir müssen einfach im Rahmen unseres strategischen Denkens lernen, dass wir nicht immer nur durch eine Deeskalation vorankommen, sondern manchmal muss man auch im Sinne der Signale, aber auch eine Auseinandersetzung mit unerwünschtem Verhalten aus dem Ausland, lernen, auch zu eskalieren, aber auch zu wissen, wie man das kontrolliert tut. Das ist etwas, was nichts Kriegerisches an sich hat, sondern ein ganz normales Instrument aus dem Instrumentarium der Außenpolitik."
Der russische Aktivist Alexej Nawalny wird in einer Isolationskapsel in die Berlin Universitätsklinik Charité eingeliefert
"Noch kein Bruch in den deutsch-russischen Beziehungen"
Putin-Biograf Alexander Rahr meint, man könne nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Kreml hinter der Vergiftung Alexej Nawalnys stecke. Möglicherweise seien Chemiewaffen der Kontrolle des Kremls entwichen.
"In der Sprache sprechen, die von Putin verstanden wird"
Als eine mögliche Maßnahme wird nun der Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2 diskutiert. Diese zweite Röhre der Ostseepipeline sollte ursprünglich bereits Ende 2019 ans Netz gehen und sibirisches Gas von Russland in die Nähe von Greifswald bringen. Das Projekt war von Anfang an umstritten. Seit einem Dreivierteljahr ruhen die Verlegearbeiten. Sie sind rund 150 Kilometer vor der deutschen Küste zum Stehen gekommen. Anlass für den Stopp war eine Sanktionsandrohung aus den USA.
US-Präsident Donald Trump unterzeichnete Ende 2019 ein Gesetz, demzufolge Firmen, die an der Fertigstellung von Nord Stream 2 mitwirken, mit Strafmaßnahmen belegt werden. Am selben Tag stieg das Schweizer Unternehmen Allseas, das bis dahin die Röhren verlegt hatte, aus dem Projekt aus. Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags und einer der Kandidaten für den CDU-Vorsitz, äußerte sich in der aktuellen Stunde des Bundestags am vergangenen Freitag so:
"Meine Position ist, dass Nord Stream 2 der Dreh- und Angelpunkt dafür ist, ob Putin versteht, dass wir es ernst meinen. Wir müssen nämlich die Konsequenzen in der Sprache sprechen, die auch von Putin verstanden wird. Und das ist Nord Stream 2. Nord Stream 2 ist kein Projekt, dass der Energieversorgung Deutschlands dient."
Auch der russische Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa hält einen Stopp von Nord Stream 2 für den richtigen Ansatz.
"Nord Stream 2 ist ein persönliches Projekt Wladimir Putins und seiner nächsten Umgebung. Es ist kein Projekt, das den nationalen Interessen oder den wirtschaftlichen Interessen Russlands entspricht, es entspricht nicht mal den Interessen Gazproms. Das ist bekannt, darüber haben viele Experten geschrieben: Dieses Projekt ist sogar für Gazprom selbst unrentabel. Es entspricht den persönlichen Interessen Putins und seiner nächsten Umgebung."
Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags
Die Sprache, die Putin spreche, heiße Nord Stream 2, sagt Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags (imago/Klaus W. Schmidt)
USA würden gern eigene Gas in Europa verkaufen
Noch ein anderer Grund spricht gegen Nord Stream 2: Die Klimaziele der Europäischen Union, dem wichtigsten Abnehmer von russischem Gas. Michael Harms, Geschäftsführer des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, räumt ein:
"Ich würde sagen, wenn man heute die Pipeline noch mal planen und genehmigen würde, würden vielleicht die Firmen das nicht noch mal so machen."
Einen Stopp der Pipeline kurz vor der Fertigstellung hält er jedoch für den falschen Weg. Zumal die Pipeline von privaten Unternehmen getragen werde.
"Es gibt innerhalb einer feststehenden, klaren Regulierung ein Engagement privater Unternehmen ohne einen Cent europäischen Steuergelds. Also müssen wir doch nicht diskutieren, ob wir das brauchen oder nicht brauchen, sondern das ist ja das Risiko der Firmen."
Die Intervention aus den USA hat die Gegner von Nord Stream 2 in ein Dilemma gebracht. Wer sich nun gegen Nord Stream 2 ausspricht, macht sich verdächtig, amerikanische Interessen zu bedienen. Zumal die USA gern ihr eigenes Gas in Europa verkaufen wollen. Das wird mit Fracking-Methoden gewonnen und ist unter ökologischen Gesichtspunkten viel fragwürdiger als das Gas aus Sibirien.
10.07.2019, Mecklenburg-Vorpommern, Lubmin: Ein Arbeiter steht auf der Baustelle der Ostseepipeline Nord Stream 2 an der Molchempfangsstation. Durch die Pipeline soll zum Jahresende das erste russische Erdgas strömen. Die 1.200 Kilometer langen Gaspipeline soll jährlich rund 55 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas von Russland nach Deutschland transportieren. Foto: Stefan Sauer/dpa-Zentralbild/ZB | Verwendung weltweit
"Ein ausgesprochen untypischer Hebel für eine Sanktion"
Ein Baustopp der Gaspipeline Nord Stream 2 als Reaktion auf den Fall Nawalny sei "keine klassische Wirtschaftssanktion", sagte der Wirtschaftswissenschaftler Janis Kluge im Dlf.

Nähe der AfD zur russischen Regierung
Tino Chrupalla, Vorsitzender der AfD, sagte in der aktuellen Stunde des Bundestages, die bisherigen Beweisketten im Fall Nawalny seien nicht schlüssig.
"Eines steht fest, Deutschland wird von der Bundesregierung und ihren Steigbügelhaltern vor den Karren der US-Wirtschaft gespannt. Dabei wird eine weitere Eskalation der deutsch-russischen-Beziehungen provoziert. Wollen Sie Europa erneut zum Kriegsschauplatz werden lassen?"
Politiker der AfD zeigen seit Jahren eine besondere Nähe zur russischen Regierung. Sie waren als Beobachter bei dem so genannten Referendum auf der Krim und bei den so genannten Wahlen im Donbass und versuchten so, ihnen Legitimität zu verleihen. Ein AfD-Bundestagsabgeordneter steht im Verdacht, direkte Unterstützung aus dem Kreml bekommen zu haben. Entsprechende Berichte veröffentlichte ein internationaler Rechercheverbund. Russische Staatsmedien greifen Äußerungen der AfD gern auf, und nicht nur ihre.
Sonntagabend, zur besten Sendezeit läuft im Fernsehkanal VGTRK die Sendung Vesti Nedeli – Nachrichten der Woche mit dem Chef der staatlichen Propagandaagentur Dmitri Kißeljow. Als Kronzeuge wird Attila Hildmann herangezogen, gegen den wegen des Verdachts auf Volksverhetzung ermittelt wird. Der Reporter zitiert ihn mit folgender Übersetzung:
"Der Fall Nawalny wird gezielt genutzt, um die Aggression der NATO zu legitimieren. Die Deutschen sind für Putin, die Deutschen wollen Frieden."
Im Konfliktfall auf russisches Gas verzichten
Wie kann Deutschland, wie die EU reagieren, um die Aggression Russlands halbwegs einzudämmen? Der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter ist dafür, im Konfliktfall einfach auf das Gas zu verzichten, das durch Nord Stream 2 strömen soll. Dies sei ein viel besserer Hebel als der Stopp von Nord Stream 2. Kiesewetter möchte außerdem:
"Dass wir eine Kommission einsetzen im Rahmen der Chemiewaffen, im Rahmen der Prüfungskommission der Chemiewaffen, wo auch das Sanktionsregime, das das Chemiewaffenübereinkommen erlaubt gegen Staaten, die das Verbrechen begehen zu sanktionieren."
Der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa wirbt indes in Europa dafür, persönliche Sanktionen gegen hochgestellte russische Beamte und Politiker zu verhängen.
"Es ist erstaunlich, im negativen Sinn, dass diese Leute, diese Mörder, Diebe und korrupten Beamten immer noch frei nach Deutschland reisen dürfen."
Alexej Nawalny hat am Dienstag ein Lebenszeichen aus dem Krankenhaus gesendet
Alexej Nawalny hat am Dienstag ein Lebenszeichen aus dem Krankenhaus gesendet (picture alliance / Capital Pictures)
"Gezielte Sanktionen grundsätzlich besser"
Das Europaparlament setzt sich bereits für ein Gesetz ein. Dabei geht es um Einreiseverbote, oder die Sperrung von Konten. Das Vorhaben richtet sich nicht nur gegen Missetäter in Russland, sondern weltweit, erläutert der Grünen-Abgeordnete Sergej Lagodinski.
"Wir erhoffen uns, dass dadurch Menschenrechtsverbrecherinnen und -verbrecher, meistens sind es Männer, muss man nicht gendern, zur Verantwortung gezogen werden können, gezielt, aber individuell, für ihre Verbrechen. Das wäre ein Novum."
Deutsche Europa-Abgeordnete haben die Bundesregierung aufgefordert, dieses Gesetz noch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, also in diesem Jahr, auf den Weg zu bringen. Ob persönliche Reiseverbote aber dazu beitragen, Verbrechen wie die Vergiftung von Oppositionspolitikern zu stoppen?
"Ich glaube, Trial and Error ist auch etwas, was in internationalen Beziehungen wichtig ist. Ich glaube auch daran, dass gezielte Sanktionen grundsätzlich immer besser sind als breite und undifferenzierte Instrumente, die wir einsetzen und die dann vielleicht die Falschen treffen."
Der französische Parlamentsabgeordnete Jean-Louis Bourlanges lächelt freundlich in die Kamera.
"Putin kämpft für den Erhalt seines Systems"
Der französische Parlamentsabgeordnete Jean-Louis Bourlanges fordert eine einheitliche deutsch-französische Reaktion auf die mutmaßliche Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny.

Auf Russlands Partner in Afrika einwirken
Es geht aber nicht allein um eine europäische Reaktion. Der CDU-Außenpolitiker Kiesewetter spannt den Bogen weiter:
"Es geht auch darum, den Partnern von Russland in Afrika klarzumachen, dass sie sich mit einem völkerrechtswidrig agierenden Partner einlassen. Das bedeutet aber, dass wir unser diplomatisches Engagement in Afrika und im Nahen Mittleren Osten deutlich verstärken müssen."
Dazu aber müssen sich erst einmal die EU-Mitgliedsstaaten auf eine einheitliche Linie gegenüber Russland einigen. Wie schwer das ist, wurde im vergangenen Jahr deutlich. Da kündigte Frankreichs Präsident Emanuel Macron ohne Absprache mit anderen Staatschefs an, die Beziehung zu Russland "neu betrachten" zu wollen."
Marie Mendras ist Professorin für Politische Wissenschaften und hat zeitweise die französische Regierung in Fragen der Russlandpolitik beraten. Macron habe noch bis vor kurzem an seiner Idee eines Neustarts der Beziehungen mit Russland festgehalten, erläutert sie:
"Macron hatte immer noch gehofft, seinen Dialog mit Wladimir Putin weiterführen zu können, um jeden Preis. Was Nawalnys Vergiftung betrifft, war es ein Glück, dass Angela Merkel am 20. August, als Nawalny krank wurde, mit Emmauel Macron an der Riviera war. Denn dort musste Macron mit der Bundeskanzlerin Fragen beantworten. Ich bin mir nicht sicher, ob der französische Präsident andernfalls eine offizielle Erklärung abgegeben und diesen Mordversuch angeprangert hätte. Ich denke, dass jetzt etwas Großes passiert. Es ist ein Wendepunkt in der europäischen Politik."
20.08.2020, Frankreich, Bormes-Les-Mimosas: Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, kommt hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), zur Pressekonferenz in der Sommerresidenz des Staatschefs, dem Fort de Bregancon. Die frühere Festung liegt auf einem Felsen an der Mittelmeerküste in der Nähe von Toulon. Foto: Michael Kappeler/dpa | Verwendung weltweit
Angela Merkel und Emmanuel Macron müssen ihre Russlandpolitik auch mit den anderen 25 EU-Staaten abstimmen (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
Europäische abgestimmte Strategie ist überfällig
Macron habe seinen Alleingang mittlerweile ad acta gelegt, so Mendras. Frankreichs Präsident werde nun auch einen geplanten Besuch in Moskau absagen. Mendras hofft auf ein gemeinsames deutsch-französisches Vorgehen. Das sei aber nicht alles.
"Dieses Führungsteam muss in ständiger Diskussion und Verhandlung mit den anderen 25 Mitgliedstaaten der EU stehen. Das müssen wir lernen: Nicht nur Entscheidungen zu treffen - auch wenn sie von den beiden größten Volkswirtschaften in Europa gefällt werden -, sondern Kompromisse mit den anderen europäischen Ländern zu suchen und diese auch politisch umzusetzen."
Es gibt in Russland ein geflügeltes Wort: "Schto Djelatj?" - "Was ist zu tun?" Eine Antwort darauf ist noch nicht gefunden. Eine europäische abgestimmte Strategie gegenüber der russischen Regierung ist lange überfällig.