Über den mutmaßlichen Giftanschlag auf Kreml-Kritiker Alexej Nawalny haben sich die Spannungen zwischen Russland und Europa verschärft. Alexej Nawalny, der schärfsten Gegner von Präsident Wladimir Putin, erkrankte am 20. August bei einem Inlandsflug in Russland schwer. Auf Drängen seiner Familie wurde er nach Berlin in die Charité verlegt. Die Bundesregierung sieht es nach Untersuchungen in einem Spezial-Labor der Bundeswehr als erwiesen an, dass er mit einem militärischen Nervenkampfstoff vergiftet wurde. Unterstützer Nawalnys vermuten Moskau hinter der Tat.
Jean-Louis Bourlanges ist Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung und dort stellvertretender Vorsitzender des Europa-Ausschusses. Im Interview mit dem Deutschlandfunk forderte er eine einheitliche deutsch-französische Reaktion auf die mutmaßliche Vergiftung Nawalnys. Er trat für eine harte Reaktion gegenüber Russland ein. Die russische Regierung habe die Beziehungen zum Westen wieder verhärtet. Die Schuld dafür liege bei beiden Seiten: Die EU habe sich Russland gegenüber in der Vergangenheit ungeschickt verhalten. Zurzeit sei allerdings Wladimir Putin für die Lage verantwortlich. Seine Haltung werde durch seine Angst vor einer demokratischen Ansteckungsgefahr in seinem Land bestimmt, so Jean-Louis Bourlanges.
Christoph Heinemann: Die russische Seite verlangt Beweise. Gilt die Unschuldsvermutung?
Jean-Louis Bourlanges: Beweise zu fordern, ist ziemlich unglaubwürdig. Sorgfältig ermittelte Beweise wird es in dieser Sache niemals geben. Ich halte die Äußerungen der deutschen Bundesbehörden und vor allem die der Kanzlerin für begründet, wenn sie sagen, dass sehr wahrscheinlich staatliche russische Stellen in diese Affäre verwickelt sind. Umso mehr, als es – leider - eine Erfahrung und eine Vergangenheit gibt. Diese Methoden galten für den Kreml immer. Der Begriff Unschuldsvermutung passt hier nicht ganz. Wir befinden uns nicht in einem Gerichtsverfahren. Es geht um internationale Beziehungen. Und die Russen werden sehr wahrscheinlich nicht die notwendigen Garantien beibringen, damit man ihnen glauben könnte, dass sie an diesem schrecklichen Verbrechen nicht schuldig sind.
"Ein Land, in dem Oppositionelle für gewöhnlich verschwinden"
Heinemann: Welche Botschaft geht von dieser Vergiftung aus?
Bourlanges: Es ist das Bekannte. Das ist ein Land, in dem Oppositionelle für gewöhnlich verschwinden. Unsere demokratische Kultur, die Achtung der Opposition, sind den Sitten und Bräuchen des KGB und seiner Nachfolger zuwider. Gibt es eine internationale Botschaft? Wahrscheinlich ja, die, dass die demokratischen und liberalen Werte, die im Westen von Europa hochgehalten werden, die russischen Regierungsstellen nicht wirklich betreffen.
Heinemann: Wie sollte die Europäische Union auf diese Tat reagieren?
Bourlanges: Der erste wichtige Schritt – und das ist nicht einfach, wenn man das unterschiedliche Empfinden in dieser Frage zwischen Präsident Macron und Kanzlerin Merkel bedenkt - der erste Schritt wäre eine möglichst einheitliche deutsch-französische Reaktion. Das ist die wichtige Lehre, die ich aus der glücklichen Phase der deutsch-französischen Beziehungen des Paares Giscard d`Estaing – Schmidt gelernt habe. Ich erinnere mich an Helmut Schmidts Worte: Das Wichtigste ist, dass es - damals der Sowjetunion gegenüber - nicht den geringsten Unterschied in den Positionen von Deutschland und Frankreich gibt. Die Frage stellt sich natürlich: Reichen Proteste oder geht man auf eine höhere Ebene? Also ob man das gesamte Gas-Projekt infrage stellt, diesen Eindruck hatte ja die Kanzlerin vermittelt.
"Die Russen müssten ihre Haltung ändern"
Heinemann: Sollte man das Projekt Nord Stream 2 beenden?
Bourlanges: Spontan befürworte ich eher eine harte Reaktion. Ich kenne allerdings die Einzelheiten nicht ausreichend, um alle Folgen abwägen zu können. Aber es ist sicherlich eine Option, die die westeuropäischen Staaten sehr ernsthaft in Betracht ziehen sollten. Denn dies würde die russischen Interessen sehr stark treffen. Ich verstehe nicht, wieso sich Russland, das vor 15 Jahren, vor allem in der Zeit von Jelzin und Medwedew, die Beziehungen mit dem Westen aufgelockert hatte, entschieden hat, diese nun wieder zu verhärten. Die Russen müssten ihre Haltung ändern. Dazu sind sie aber nicht bereit. Ich bin eher besorgt, was sie noch alles in Belarus anstellen könnten.
Heinemann: Was denn?
Bourlanges: Ich schließe eine militärische Intervention nicht aus, um zu verhindern, dass das Regime in Minsk kippt. Putin vertritt die Grundsatz-Position, dass er von einer Liberalisierung seines eigenen Landes nichts wissen will. Jedes Land, das sich auf den Weg einer Liberalisierung begibt, erscheint ihm als direkte Bedrohung für Russland. Das ist bedauerlich, denn wir könnten mit Russland vieles gemeinsam machen. Wir könnten enge Beziehungen haben. Wir könnten zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Wir verfügen über viele Gemeinsamkeiten, während es die tatsächliche Verbundenheit zwischen Russland und China eigentlich gar nicht geben dürfte. Beide sind harte Konkurrenten. Es herrscht eine Anomalie.
"Europa hat sich ungeschickt verhalten"
Heinemann: Wer trägt die Schuld an dieser Anomalie?
Bourlanges: In der Geschichte ist die Schuld immer geteilt. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion hat Gorbatschow schlecht verhandelt. Wir sind weitergegangen als die Russen tatsächlich zu ertragen bereit waren. Vor allem was die NATO-Mitgliedschaft der baltischen Staaten betrifft. Wir haben allerdings gesehen, dass das nötig war, denn die Drohungen sind Realität. Es gab also diesen Augenblick, in dem die Russen erniedrigt wurden. Noch mehr unter Jelzin und durch die wirtschaftliche Abhängigkeit. Das war eine sehr schwierige Lage. Außerdem hat sich Europa ungeschickt verhalten bei den Abkommen, die mit Russlands Nachbarstaaten abgeschlossen wurden. Wir waren vielleicht nicht entschieden genug in der Wortwahl, als die Amerikaner den Wunsch äußerten, dass die Ukraine der NATO beitreten solle. Wir haben uns dem allerdings widersetzt. Wir haben uns nicht immer geschickt verhalten. Aber insgesamt ist Putin für die Lage verantwortlich. Seine Haltung wird durch seine Angst vor einer demokratischen Ansteckungsgefahr in seinem Land bestimmt.
Heinemann: 2019 hat Emmanuel Macron Wladimir Putin in seiner Sommerresidenz dem Fort de Bregancon empfangen und einen strategischen Dialog mit Russland auf den Weg gebracht. Sollte dieser Dialog fortgesetzt werden?
Bourlanges: Gegenwärtig wäre das wirklich riskant. Das gab es doch schon: Merkel und Hollande haben in Minsk Abkommen über die Ukraine geschlossen. Wir suchen stets die Verbindung mit Russland, weil wir das für folgerichtig halten. Und man ist jedes Mal enttäuscht. Nicht erwähnt habe ich – und da kann ich Putins Ärger verstehen – dass man ihn nicht für die Bewältigung des Problems mit Syrien hinzugezogen hat. Die Russen verfolgen Interessen in Syrien, die legitim oder auch nicht sein mögen, die aber real sind. Man hätte sie einbeziehen müssen. Es gab viele Ungeschicklichkeiten. Heute haben sich die Probleme zugespitzt. Und die Sache befindet sich an einem toten Punkt.
"Von den Dämonen der Vergangenheit regiert"
Heinemann: Sie haben gesagt, dass man Russland nicht umgehen könne bei der Lösung von Problemen, die auch die Interessen von Europa, Frankreich und Deutschland betreffen. Kann man gleichzeitig bestrafen und einen Dialog führen?
Bourlanges: Das ist schwierig. Ich möchte gern einen historischen Vergleich anstellen: Russlands Lage seit dem Ende der Sowjetunion kann man mit der Frankreichs nach dem Zusammenbruch Napoleons I. vergleichen. Die Ordnung, die nach 1815 galt, war sehr im Interesse Frankreichs. Aber es gab eben die Nostalgie nach dem großen Kaiserreich. Und die Franzosen hatten große Schwierigkeiten, den Status Quo zu akzeptieren. Also haben sie ihn infrage gestellt. Und das führte dann für Frankreich zu dem Desaster von 1870. Dasselbe in Russland: Es gibt eine Sehnsucht nach dem alten System, die zu einer Feindschaft der Russen gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten führt. Nur sollten sie in der Wirklichkeit erkennen, dass sie in der Verbundenheit mit Westeuropa eine bedeutende Unterstützung, einen wichtigen Hebel für die Entwicklung finden könnten. Der Fehler in diesen Ländern besteht darin, dass sie von den Dämonen der Vergangenheit regiert werden, anstatt sich an den Chancen der Zukunft zu orientieren.
Heinemann: Wie geht man damit um?
Bourlanges: Das weiß ich nicht. Wir befinden uns in einer Sackgasse. Das Wichtigste ist, dass sich die Europäer nicht spalten und dass sie zusammenbleiben. Und das Projekt der Gasleitung gehört auf den Tisch. Vielleicht kann man es einfrieren und versuchen herauszufinden, ob die Blockade auf russischer Seite aufgelöst werden kann. Ich bin allerdings sehr pessimistisch, weil ich glaube, dass Putin für den Erhalt seines Systems kämpft. Dabei besteht das russische Volk nicht nur aus Nationalisten und Anhängern des gegenwärtigen Herrschaftssystems. Ein großer Teil dieses Volkes würde gern die Segnungen der Freiheit und der Rechtssicherheit genießen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.