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DGB-Chef warnt vor Lohndumping

Deutschland öffnet seinen Arbeitsmarkt für Osteuropa. Nach Ansicht des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer könnte das zu Problemen mit Lohndumping führen. Er fordert deshalb einen gesetzlichen Mindestlohn und eine stärkere Regulierung der Leiharbeit.

Moderation: Jürgen Zurheide |
    Jürgen Zurheide: Der Arbeitsmarkt eilt ja von Rekord zu Rekord, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es gibt so wenig Arbeitslose in Deutschland wie seit 20 Jahren nicht mehr, die Firmen stellen ein, Fachkräfte fehlen, da gibt es viele positive Meldungen. Aber – und dieses Aber kommt dann eben auch, wenn man über den Arbeitsmarkt spricht – es gibt so viele Minijobs wie nie, prekäre Verhältnisse, viele Leiharbeitsverhältnisse und viele klagen darüber. Das alles wird sicher zum 1. Mai diskutiert werden, die Freizügigkeit, über die wir hier in dieser Sendung auch schon gesprochen haben, wird ein Thema sein. Über all das wollen wir reden. Dazu begrüße ich Michael Sommer, den DGB-Vorsitzenden – guten Morgen, Herr Sommer!

    Michael Sommer: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Herr Sommer, zunächst einmal, wie ist eigentlich Ihre Gefühlslage, wenn Sie so Arbeitsmarktzahlen hören und lesen, wie sie diese Woche bekanntgegeben worden sind – ist da die Freude bei Ihnen größer oder die Sorge?

    Sommer: Es ist, glaube ich, schon die Freude. Wissen Sie, ich kann mich noch an die Zeiten erinnern, wo ich mich auf 1.-Mai-Reden vorbereiten musste und dann von fünf Millionen Arbeitslosen reden musste. Heute reden wir von offiziell drei, wenn Sie die Zahlen der tatsächlichen Unterbeschäftigung nehmen, dann reden wir von vier, das ist immer noch viel zu viel, insbesondere wegen der Langzeitarbeitslosen, die dahinterstecken, denn zwei Drittel davon sind Langzeitarbeitslose.

    Aber nichtsdestotrotz, man muss sich darüber freuen. Wir Gewerkschaften sind nie diese Menschen, die sich an Krisen weiden, weil wir wissen, unter Krisen leiden vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite wissen wir auch, wenn wir die Arbeitslosenzahlen sehen und die Beschäftigungszahlen sehen – das ist genau das, was Sie eben in Ihrer Anmoderation sagten –, die andere Seite der Medaille ist. 900.000 Leiharbeiter, 7,3 Millionen Menschen in Minijobs, ungefähr 15 Prozent der Wohnbevölkerung, die unmittelbar vom Hartz-IV-System abhängen – das ist etwas, was einen Sozialstaat und ein Industrieland wie Deutschland, insbesondere dieser Güte, überhaupt nicht in Ruhe lassen kann. Wir haben schon das Problem, dass trotz der guten Arbeitslosenzahlen auf der einen Seite wir immer mehr für Teilbereiche des Arbeitsmarktes die Würde von Arbeit verlieren, und dagegen werden wir auch antreten.

    Zurheide: Jetzt haben wir über die Freizügigkeit in dieser Sendung schon gesprochen, die es seit dem 1. Mai geben wird, wo acht weitere osteuropäische Länder oder die Menschen aus diesen Ländern hier nach Deutschland kommen können – wie sehen Sie das?

    Sommer: Ja, ich habe ja Ihre Beiträge gehört, ich bin ja ein treuer Hörer des Deutschlandfunks …

    Zurheide: Das ist schön so, darüber freuen wir uns.

    Sommer: … und ich hab also auch Ihren Einsprengsel von Gysi gehört und auch den Bericht über die Situation in Sachsen. Ich fand das alles ganz spannend. Ich will Ihnen dazu sagen, was mir durch den Kopf ging, abseits der Stanzen, die wir ja dann auch immer von uns geben: Als ich ein junger Mann war, sang Franz Josef Degenhardt das Lied "Der Arbeiter in 2000 wird ein Nomade sein", und ich habe damals gedacht, ach, der spinnt. Heute weiß ich, hier hat er leider recht. Wir leben auch in einem Kontinent der Wanderarbeit, das ist nicht nur so wie in China, wo wir über das Los von Wanderarbeitern uns beklagen, sondern wir haben sie hier und wir nehmen es hin. Und die Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet natürlich auch, dass man der Wanderarbeit jetzt zusätzlich Tür und Tor öffnet. Das ist die eine Seite.

    Wenn man das tut und wenn man sagt, das ist Teil des europäischen Projektes, dass ich mich entscheiden kann, morgen in Finnland Gewerkschaftsvorsitzender zu werden und übermorgen ein Pole in Deutschland, damit habe ich überhaupt kein Problem, sondern mein Problem ist, dass ich sage, dann soll es zu vernünftigen Bedingungen laufen. Das ist das, was wir bislang nicht haben. Wir haben der Bundesregierung sechs, sieben Jahre lang gesagt, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt, müsst ihr Vorkehrungen treffen, und zwar die im europäischen Recht vorgesehen sind, und dazu gehört ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, und der ist bislang nicht da.

    Wir haben immer gesagt, solange die Leiharbeit nicht so reguliert wird, dass nach einer kurzen Einarbeitungszeit gleicher Lohn für gleiche Arbeit bezahlt wird, wird Leiharbeit missbraucht werden. Und wir befürchten ganz einfach, dass in den Bereichen, insbesondere dort, wo man meint, man könne auch mit Billiglöhnern agieren, man versuchen wird, zum Beispiel über den Umweg von Leiharbeit normale Beschäftigungs- und normale Bezahlungsbedingungen zu unterlaufen.

    Wie groß diese Zahl sein wird, weiß übrigens niemand. Wer Ihnen da eine Zahl sagt, der ist genauso treffsicher wie bei der Ziehung der Lottozahlen immer am Freitagabend. Niemand weiß es genau, aber es kann ein Problem werden. Und um dieses Problem zu schützen, braucht man einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, man braucht gleichen Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit und Sie brauchen vor allen Dingen Pflichten der Anmeldung und der Überprüfung. Und genau das sind die Sachen, die in Deutschland fehlen.

    Zurheide: Jetzt gibt es eine neue Studie von Prognos, die sagen, Mindestlohn macht den Staat am Ende sogar reicher, weil natürlich mehr Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden …

    Sommer: Ja, ist doch klar.

    Zurheide: Das heißt, die Zahlen liegen alle auf dem Tisch, trotzdem ist das so zäh. Haben Sie eigentlich eine Hoffnung, dass sich da irgendwann was tut, wie Gysi es richtig sagte? Ich glaube, 100 Staaten haben den Mindestlohn, wir nicht.

    Sommer: Na ja, gut, wir waren natürlich in der Tradition eines Landes …

    Zurheide: Und Sie übrigens als Gewerkschaften waren da lange auch gegen, ne?

    Sommer: Ja, deswegen wollte ich gerade sagen, wir waren natürlich in einer Tradition, wo wir lange Zeit über die Tarifautonomie die Arbeitsbedingungen wirklich flächendeckend regeln konnten. Das ist auch infolge der Agenda 2010 und der Einführung, der flächendeckenden Einführung des Niedriglohnsektors ein Stück verloren gegangen, deswegen muss die natürliche Reaktion darauf der gesetzliche Mindestlohn sein. Und wenn Sie mich nach der Hoffnung fragen, dann sage ich Ihnen, ich sage jedem, der es hören will, ich bin noch drei Jahre DGB-Vorsitzender und ich will noch erleben, dass der allgemeine gesetzliche Mindestlohn im Bundesgesetzblatt steht, und zwar in einer Höhe von mindestens 8,50 Euro. Und dafür werde ich kämpfen.

    Wir haben Fortschritte erzielt. Wenn Sie bedenken, vor drei Jahren, vier Jahren war das ein Tabuthema, heute sagen 80 Prozent der Bevölkerung, wir brauchen den gesetzlichen Mindestlohn. Mittlerweile haben wir branchenspezifische Mindestlöhne, wir haben ihn übrigens jetzt auch für die Leiharbeit, das das wenigstens nach unten abriegelt, das heißt, auch selbst bei einer schwarz-gelben Regierung erzielt man Fortschritte – erstaunlicherweise. Aber der große Durchbruch fehlt, und an dem Durchbruch werden wir arbeiten.

    Und ich bin mir sicher, er wird kommen, weil auch die Konservativen erkennen möglicherweise nicht die Liberalen – aber da weiß man ja nicht, ob der Rösler neue Erkenntnisse bringt oder hat. Aber bei den Konservativen wird sich das verfestigen, dass man ohne den gesetzlichen Mindestlohn letztendlich eine Würde von Arbeit in diesem Land nicht mehr garantieren kann und damit dann auch letztendlich die Tarifautonomie kaputt macht. Wir brauchen diese Abriegelung nach unten, um darauf aufbauend wirklich dann Tarifautonomie gestalten zu können. Und ich glaube, das wird auch kommen.

    Zurheide: Wie groß ist Ihre Sorge eigentlich, Herr Sommer, dass durch die inflationären Tendenzen, die sich da so vorsichtig zeigen, dass die recht ordentlichen Lohnerhöhungen wieder aufgefressen werden, wie beobachten Sie das?

    Sommer: Ja, uns ging es in diesem Jahr erst mal darum, wirklich Reallohngewinne durchzusetzen, nach langen Jahren der Reallohnverluste, und wenn Sie zum Beispiel den Abschluss in der chemischen Industrie ansehen, da kann man ja nur stolz drauf sein, was die Kolleginnen und Kollegen dort erreicht haben. Natürlich sind wir immer in der Gefahr, dass eine Lohnerhöhung durch Inflation aufgefressen wird.

    Momentan hält sich das alles in Grenzen, wir wissen nicht, wie sich die Energiepreise entwickeln werden infolge der Energiewende, die ich übrigens für notwendig halte, unabhängig davon, ob sie zu kleineren Preissteigerungen führt oder nicht. Ich halte sie aus prinzipiellen Gründen für notwendig. Da muss man andere Vorkehrungen treffen. Bislang muss man sagen, sind die Befürchtungen nicht eingetroffen, aber im Zweifelsfall werden die Gewerkschaften auch in der Lage sein müssen, tarifpolitisch zu reagieren.

    Zurheide: Das heißt, da kommen Nachforderungen möglicherweise?

    Sommer: Nein, Sie wissen ja, das deutsche Tarifvertragssystem zeichnet sich dadurch aus, dass es eine hohe Form von Vertragstreue gibt und auch eine hohe Form von Friedenspflicht. Solange wir die Tarifverträge haben, werden wir uns dran halten. Sie haben gesehen, bei der Metallindustrie hatten wir die Möglichkeit vorzuziehen, das haben einige Betriebe gemacht, und wir werden dann bei den nächsten Runden sehen, was da zu machen ist. Momentan haben wir keinen Anlass, ich sag mal, jetzt wirklich in den Bereich von Nachforderungen zu gehen, sondern erst mal wirklich zu sagen, wir wollen die Tarifforderungen, die wir aufgestellt haben, auch durchsetzen.

    Zurheide: Das war der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Michael Sommer im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herr Sommer, ich bedanke mich, auf Wiederhören!

    Sommer: Bitte schön, Herr Zurheide!


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