
Baycan und Meriyem Varol treffen letzte Vorbereitungen. Der Süßwarenfabrikant legt im Flur flauschige Pantoffeln für die Gäste bereit. Seine Frau rührt in der Küche in den Töpfen, assistiert von Tochter Merve und den Söhnen Mücahid und Malik. Die kleine Mina, jüngster Spross der Familie, ist noch im Windelalter und wird den denkwürdigen Besuch verschlafen. Dabei biegt sich die Tafel im Wohnzimmer unter geräucherten Auberginen, gefüllten Weinblättern und knusprigen Lammkeulen.
"Speisen für Waisen", ist das Motto der Hilfsaktion, für die Altbundespräsident Christian Wulff bei diesem Mittagessen in Hannover werben will. Menschen verschiedener Herkunft und Religion sollen dabei ins Gespräch kommen, nebenbei werden Spenden für Kinder im zerstörten Gaza gesammelt. Die muslimische Hilfsorganisation Islamic Relief Deutschland ruft noch bis Anfang Februar Privatleute, Unternehmen und Vereine zum Mitmachen auf.
"So alleine kommt man gar nicht so in die Ecken. Und außerdem kann Herr Varol wahnsinnig gut Auto fahren. Da macht man am besten die Augen zu und sagt: "Ich sehe das alles gar nicht!"
Gäste der Tafel sind auch Ute und Johannes Köster, beide im Rentenalter. Ihre Freundschaft zu den Varols gründet in einer gemeinsamen Urlaubsreise nach Istanbul. Christian Wulff gibt eigene Reisetipps. Wie beiläufig erwähnt er auch die Ehrenbürgerwürde, die ihm der Magistrat der Hafenstadt Tarsus verlieh.
"Ich habe damals einen Gottesdienst dort angeregt zwischen alle Weltreligionen, in Tarsus, und habe die Stadt Tarsus ein bisschen unterstützt, im Bekenntnis zu ihrem Erbe: dass sie bedeutende Muslime haben, dass sie bedeutende auch jüdische Philosophen beherbergt haben."
Das Zusammenleben von Christen und Muslimen war das prägende Thema seiner Amtszeit. Auch nach seinem Rücktritt im Gefolge staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts engagiert sich der Altbundespräsident für den Dialog der Religionen. Yazid Shammout ist ein Weggefährte. Der Vorsitzende der palästinensischen Gemeinde in Hannover wuchs als Flüchtling in Ost-Berlin mit der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat auf. Wie auch Wulff arbeitet der einflussreiche Unternehmer heute für einen in Hamburg ansässigen Verein, der sich vor allem für den wirtschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und dem arabischen Raum einsetzt.
Eine ganze Weile scheint die Tischgesellschaft bemüht, möglichst jedes Thema zu meiden, das ihre Harmonie trüben könnte. In gelöster Stimmung wird über das Leben mit dem Doppelpass und über die Vorzüge deutscher Automobile diskutiert.
"Ein Terrorakt von Fanatikern"
Erst nach einer Stunde, der Hauptgang ist schon abgeräumt, kommen die Terroranschläge in Paris zur Sprache. Wie gehen Sie damit um?", fragt Wulff in die beklommene Stille. Yazid Shammout spricht von seinem Befremden, er habe den Eindruck, sich von jedem Terrorakt fanatischer Glaubenskrieger distanzieren und seine Religion rechtfertigen zu müssen. Das Protokoll erlaubt keinen Mitschnitt des Gesprächs. Doch später im Interview legt der streitbare Muslim nach:
"Ich vertrete der Meinung, dass diese ISIS, oder IS, wie es bezeichnet wird, eine terroristische Sekte ist, die sich mit dem Islam umhüllt - hat allerdings mit dem Islam nichts zu tun! Das ist hier ein Terrorakt von Fanatikern – und Punkt, fertig!"
Entsetzt seien sie über die Mordtaten, merken die Kösters an. Doch Satire à la Charlie Hebdo mit Zeichnungen des Propheten, nicht selten weit unterhalb der Gürtellinie, sei ihre Sache nicht.
"Satire ist OK, ist super! Wenn also Missstände aufgedeckt werden, finde ich ganz toll! Aber man muss bei der Religion wirklich etwas vorsichtiger sein."
"Man muss mehr Fingerspitzengefühl haben, finde ich!"
Christian Wulff widerspricht mit Inbrunst. Die Meinungsfreiheit sei das höchste Gut, Schmähungen gelte es auszuhalten. Und besser als er, Wulff selbst, könne wohl kaum jemand ermessen, welche Bürde damit verbunden sei.
Der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, sagte Wulff 2010 in einer Grundsatzrede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit – und der damalige Bundespräsident stieß auf heftigen Widerspruch, vor allem in der eigenen Partei. Doch der Satz hat Konjunktur, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihn sich zu eigen gemacht. Christian Wulff sieht sich bestätigt, in seinem Werben für mehr islamischen Religionsunterricht an Grundschulen, für die Ausbildung von Imamen in deutscher Sprache, für mehr Muslime im Schützenverein und bei der Feuerwehr.
"Zum christlich-jüdisch geprägten Abendland gehört die Religionsfreiheit. Und wir alle tun gut daran, dafür einzutreten, dass wir zu einem Frieden kommen, im Miteinander!"
"Meine Kinder gehen auf die Walldorfschule. Und das ist, glaube ich ... deutscher geht es kaum noch!", lacht Yazid Shammout, während Meriyem und Merve Varol, Mutter und Tochter mit Kopftuch bedeckt, Dessert und allerhand Naschwerk auftragen. Einen Weg der Annäherung sieht er in der persönlichen Begegnung, im offenen Gespräch wie es im Wohnzimmer der Familie Varol möglich war.
"Ich bin ja selber hier aufgewachsen, ich bin hier geboren. Und deswegen, denke ich, kann ich auch mit den Menschen, mit meinem Umfeld, ganz anders umgehen, ganz andere Kontakte knüpfen, oder Diskussionen führen, wo ich den Menschen das auch erklären kann, gerade weil ich die deutsche Sprache einfach auch kann," sagt Meriyem Varol zum Abschied. Die Gastgeberin trägt ein müdes Lächeln im Gesicht. Sie sieht ein wenig erleichtert aus.