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Dichter Jesse Thoor
Werkausgabe eines großen Unbekannten

Seltsame Gedichte mit liedhaftem, beinahe kindlichem jedoch nicht naiven Ton: Der Dichter Jesse Thoor ist bislang oft nur Eingeweihten bekannt, darunter auch Berühmtheiten wie Elias Canetti. Doch die neue Werkausgabe könnte den Bekanntheitsgrad von Thoor nun verändern.

Von Nadja Küchenmeister | 16.09.2014
    Die Nahaufnahmen einer Schreibfeder.
    Der Dichter Jesse Thoor, der sich in "Rufe zur Nacht" ein Denkmal gesetzt hat, gehört zu den großen Unbekannten in der deutschsprachigen Literatur. (picture-alliance/ dpa / Hans Wiedl)
    "In einem Haus
    In einem Haus, auf feinem Tannenreiser,
    sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser.
    Beide summen und lachen und trinken
    und reden laut und leise und winken.
    Ein volles Jahr rollt über das Dach.
    Ein volles Jahr rollt über das Dach."
    Beinahe kindlicher Ton
    Ein seltsames Gedicht. Liedhaft, beinahe kindlich im Ton, einfach, aber nicht naiv. Für den Schriftsteller Peter Hamm, der es bei einer Lesung in der Literaturwerkstatt Berlin vortrug, ist es von großer Bedeutung und auch die Dichter Johannes Bobrowski und Günter Bruno Fuchs schlug es in seinen Bann. Elias Canetti berief sich gar in einem Brief darauf, allein, den Verfasser kennen heute nur noch wenige Leser. Aber das könnte sich jetzt ändern.
    "Ich, der Dichter Jesse Thoor -
    dem Zünglein, Zeh und Ohr
    und die Seele fror!
    Wenn der März alle Bäche taut,
    singe ich wieder laut!
    Du meine hohe Braut!
    Singe ich dein Herz gesund!
    Du meines Sterbens Grund!
    Küsse ich deinen Mund!"
    Werkausgabe auf Basis der Edition der 1960er Jahre
    Der Dichter Jesse Thoor, der sich in "Rufe zur Nacht", vorgelesen von dem Schriftsteller Michael Lentz, ein Denkmal gesetzt hat, gehört zu den großen Unbekannten in der deutschsprachigen Literatur. Eine Werkausgabe, basierend auf der in den sechziger Jahren von Michael Hamburger besorgten Edition, für die Michael Lentz nach dem Tod von Hamburger als Herausgeber verantwortlich zeichnet, erschien nun im Wallstein-Verlag und ist, man kann es nicht anders sagen, eine Offenbarung. Auch Peter Hamm hatte den vom Vergessen bedrohten Dichter in den Siebzigerjahren mit einem Auswahlband in der Edition Suhrkamp gewürdigt. Die vollständige Werkausgabe mit einem einleitenden Essay von Lentz und einem biografischen Nachwort von Hamburger schließt nun letzte Wissenslücken. Sie umfasst neben den Gedichten auch Prosa und Briefe des Dichters. Wer aber war dieser Jesse Thoor, dessen Vorname sich auf den Vater des Königs und Psalmisten David bezieht und dessen Nachname, wenngleich mit einem Doppelvokal versehen, an den germanischen Donnergott erinnert? Geboren wurde er 1905 als Peter Karl Höfler in Berlin, wohin seine aus Oberösterreich stammenden Eltern kurz vor seiner Geburt gezogen waren. Man blieb sieben Jahre, bevor die Familie nach Österreich zurückkehrte, in die ländliche Gemeinde Rohrbach. Kaum brach der Erste Weltkrieg aus, ging es abermals nach Berlin. Die Unruhe seiner Kindertage sollte sich im Leben des Peter Karl Höfler, der nach der Volksschule eine Lehre als Zahntechniker begann, diese abbrach und sich in verschiedenen Handwerken, u. a. als Feilenhauer, Tischler, Silberschmied und Schuster verdingte, noch oft wiederholen. Nach dem Krieg reiste er quer durch Europa und brachte es nicht nur in den Handwerksberufen binnen kürzester Zeit zur wahrer Meisterschaft, sondern auch im Schreiben seiner Sonette.
    Rede von der Anschauung
    "Und es kommen die Vögel von den Bergen und aus jeder Richtung.
    Und es kommen die Fische mit den hellen Kreuzen auf ihren Rücken.
    Und die Sterne mit den verzweigten Augen und mit den weisen Händen.
    Und die Monde mit den silbernen Geräten und den höchsten Reden.
    Und du bleibst immer bei mir, und du verläßt mich nicht.
    Und du wendest mühelos meinen Leib, und du begleitest mich.
    Und du läuterst meine Wünsche, und du änderst meine Gedanken.
    Und du richtest mich wieder auf, und du beendest meine Not.
    Und ich erwäge den Lauf des Regens und den Rat der Sonne.
    Und ich rufe deinen Namen laut und vor allen Leuten.
    Und ich esse dein Brot, und ich trinke deinen Wein.
    Und es kommen deine Wochentage zu mir mit großer Verheißung.
    Und es kommen deine vier Boten mitsamt den sieben heiligen Zeichen.
    Und dein Wille geschieht zur Zeit. Und geschieht in Ewigkeit."
    In seinem so klugen wie kenntnisreichen Essay erläutert Michael Lentz dicht und genau die wechselvolle Geschichte, die das Sonett seit dem Barock durchlaufen hat, von hoher Wertschätzung bis hin zu vernichtender Ablehnung. Lentz bezweifelt, dass Jesse Thoor die großen Meister des Vierzehnzeilers allesamt gelesen hat, bescheinigt ihm aber dennoch "im Spannungsfeld von Tradition und Selbstbehauptung" eine unverwechselbare Handschrift. Zurecht! Unnachahmlich, wie Thoor die Form eng schnürt und seinen religiös-mystischen Gedichten dennoch Luft zum Atmen lässt, wie er den hohen Ton mit dem Jargon der Gosse kombiniert, wie er volksliedhafte Sentenzen auf psalmodierende Litaneien treffen lässt, wie er, wo er dem Schweigen den Vorzug gibt, die Stille durch Striche markiert, wobei dieser existenzielle Mahner und Rufer, dieser Spötter und Gerechtigkeit einfordernde Dichter, bei aller Vorliebe für die emphatische Wiederholung, für den moralischen Appell und den pathetischen Ausruf niemals sentimental oder gar peinlich wird. Das mag auch daran liegen, dass er, der immer nah am eigenen Herzen schrieb, selbst zu den Armen und Versehrten gehörte, denen im Leben wie in der Literatur seine Zuneigung galt.
    Kommunistische Künstlerkreise
    Im Berlin der späten Zwanziger und frühen Dreißigerjahre trieb er sich in kommunistischen Künstlerkreisen herum und schloss sich der KPD an, aber die SA war ihm auf den Fersen. Er entkam zunächst nach Wien, wo er bei seiner geliebten Tante Josefine Matschl unterkam, der er Zeit seines Lebens auch die meisten Briefe schreiben sollte. Nach dem Anschluss Österreichs floh er ins tschechische Brünn und nannte sich fortan Jesse Thoor. Dort sah er sich jedoch von Gestapo-Spitzeln und misstrauischen Parteigenossen umstellt. Ganz verloren war er dennoch nicht. Franz Werfel empfahl ihn beim Generalsekretär der American Guild for German Cultural Freedom für ein Stipendium, das ihm auch bewilligt wurde. Mehr noch: Man verhalf ihm als einem der letzten Privatpassagiere zur Ausreise nach England. Auch wenn die Zeichen günstig standen - er lernte seine zukünftige Frau, die aus Wien emigrierte Friederike Blumenfeld kennen und Thomas Mann nahm sechs Sonette von ihm in seine Zeitschrift Maß und Wert auf - Jesse Thoor kam in England nie richtig an. Weder lernte er die Sprache fließend sprechen noch schloss er engere Kontakte. Zudem wurde er als angeblicher Nazi denunziert und zwischenzeitlich sogar interniert. In ärmlichen Verhältnissen lebend, zog er sich mehr und mehr zurück, Freunde und Familie sorgten sich um den Dichter, dessen Verhalten bisweilen paranoide Züge annahm. 1948 erschien der einzige zu seinen Lebzeiten veröffentliche, aber wenig beachtete Gedichtband Sonette im Nest-Verlag, nur vier Jahre später starb der Dichter bei einer Bergtour in Österreich, nach einer nicht auskurierten Herzerkrankung.
    Mit der nun vorliegenden Werkausgabe ist auch der melancholisch-humorvolle Prosa-Autor Jesse Thoor zu entdecken, der, das zeigt die eine oder andere stilistische Unsicherheit, jedoch in erster Linie ein Dichter war. Und was für einer: Diese Gedichte können drohen und poltern, sie klagen an und sie berühren. In seinen letzten Lebensjahren nahmen sie deutlicher denn je einen christlich-visionären Zug an und wenngleich es auch ihm nahestehenden Menschen immer schwerer fiel, zu ihm durchzudringen - das Briefeschreiben stellte der Dichter beinahe vollständig ein -, so weiß man diesen bescheidenen Peter Karl Höfler, diesen großen Jesse Thoor doch bis zum Schluss bei sich selbst.
    "Im Dezember
    Da ruft einer und schreit:
    Hochherrliche Zeit!
    Ich bin blank und bloß.
    Aber mein Engel ist groß.
    Ich bin arm und bleich.
    Aber mein Engel ist reich."
    Jesse Thoor: Das Werk
    Wallenstein Verlag, Göttingen