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"Die Abweichler werden nicht ausreichen"

Frank Decker hält Christian Wulffs Mehrheit im ersten Wahlgang für nicht gefährdet. Merkels Strategie, die Wahl zum Bundespräsidenten mit einer Art Vertrauensbeweis zur Koalition zu verknüpfen, werde aufgehen.

Frank Decker im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    O-Ton Norbert Lammert: Sehr geehrte Mitglieder der Bundesversammlung, Exzellenzen, verehrte Gäste, ich eröffne die 14. Bundesversammlung zur Wahl des 10. Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland und heiße Sie alle im Reichstagsgebäude in Berlin herzlich willkommen.

    Christoph Heinemann: Im Studio ist der Politikwissenschaftler Professor Frank Decker von der Universität Bonn. Herr Professor Decker, rechnen Sie mit Überraschungen heute?

    Frank Decker: Nein. Vor zwei, drei Wochen sah das sicherlich noch anders aus, aber die Abweichler, die sich geoutet haben, die werden nicht ausreichen, um Christian Wulff im ersten Wahlgang zu gefährden. Allerdings: Es ist eine geheime Wahl, insoweit bleibt immer noch ein Spannungsmoment. Aber ich könnte mir tatsächlich vorstellen, dass die Strategie der Koalition, eben die Bundespräsidentenwahl auch zu verknüpfen mit einer Art Vertrauensabstimmung über die Regierung und darüber die Abgeordneten zu disziplinieren, dass diese Strategie aufgegangen ist.

    Heinemann: Wäre ein zweiter oder dritter Wahlgang ein Schönheitsfehler für den künftigen Präsidenten?

    Decker: Ich denke, dass es für den Präsidenten selber kein Schönheitsfehler wäre. Wir haben das ja in der Bundesrepublik auch öfter erlebt, dass es zweite und sogar dritte Wahlgänge gegeben hat. Gustav Heinemann und Roman Herzog sind erst im dritten Wahlgang gewählt worden, 1969 und 1994, aber das hat ihre Amtsführung in keiner Weise beeinträchtigt, sie waren beide hoch angesehene Präsidenten.

    Heinemann: Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat am Sonntag bei uns im "Interview der Woche" gesagt, diese Wahl solle auch politische Stabilität schaffen. Sie haben das gerade angesprochen. Geht es heute auch darum, wie lange Angela Merkel Bundeskanzlerin bleiben kann?

    Decker: Es ginge tatsächlich darum, wenn sie ihren Kandidaten Christian Wulff nicht durchbringen würde. Das hätte sicherlich nicht unmittelbar Neuwahlen zur Folge gehabt – Neuwahlen sind ja sehr schwer zu erreichen in der Bundesrepublik und die Regierungsparteien haben ja sicherlich im Moment kein großes Interesse an Neuwahlen -, aber Angela Merkel wäre sicherlich in ihrer eigenen Partei stark unter Druck geraten, möglicherweise wäre es dann tatsächlich zu einem Kanzler- oder Kanzlerinnensturz gekommen. Aber das sieht wie gesagt nicht so aus.

    Heinemann: Herr Decker, der "Spiegel" schreibt in dieser Woche, es wirke, als wandle Gauck wie ein Messias durch das Land. Wir hören jetzt einen Auszug aus einer Rede des Kandidaten von SPD und Grünen.

    O-Ton Joachim Gauck: Ich träume von einem Land, in dem ich nicht nur zufrieden bin, weil seine Institutionen funktionieren, sondern das im Stande ist, sich selbst aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse zu erlösen.

    Heinemann: Ja, er spricht fast wie ein Therapeut zu den Menschen. Joachim Gauck kommt ohne Vokabeln wie "Handlungsbedarf" oder Formulierungen wie "ein Stück weit" aus. Das sind diese Floskeln, die man oft hört. Dagegen jetzt mal Christian Wulff:

    O-Ton Christian Wulff: Ich freue mich auf die Aufgabe. Ich denke, man kann Mut machen, auch Optimismus in schwierigen Zeiten machen.

    Heinemann: Worin unterscheiden sich die beiden voneinander, mal abgesehen von der unterschiedlichen Biografie, der Vita, des Alters?

    Decker: Christian Wulff ist der Kandidat des politischen Establishments und er ist ein geborener Parteipolitiker. Darin liegt sicherlich auch eine Eigenschaft, die für die Amtsführung eines Präsidenten nützlich ist. Er muss sich ja auch sozusagen im politischen Geflecht zwischen Regierung und Parlament bewegen, ist dort eingebunden. Joachim Gauck kommt von außen und er verkörpert etwas, was eben gerade in der Öffentlichkeit man mit diesem Amt auch verbindet, nämlich die Vorstellung, dass es eine überparteiliche Amtsführung gibt, und das kann man eben auch mit einem Kandidaten, der nicht geborener Parteipolitiker ist, besser in Verbindung bringen. Insoweit ist es kein Zufall, dass es in der Öffentlichkeit auch eine starke Unterstützung gibt für den Kandidaten, der eben nicht aus dem parteipolitischen Establishment stammt.

    Heinemann: Sie sagen "in der Öffentlichkeit". Viele Medien, "Spiegel", "Zeit" und so weiter, haben sich rasch, sehr rasch auf Gaucks Seite geschlagen, Wulff als Parteimenschen dargestellt, auch ein bisschen bloßstellen wollen. Können Sie sich daran erinnern, dass die Presse jemals so einseitig Partei ergriffen hätte?

    Decker: In dieser Form für den Außenseiter Partei zu ergreifen, das hat es sicherlich nicht gegeben. Aber ich erinnere daran, dass es auch bei der Wahl 2004 und 2009 – da hatten wir die gleiche Konstellation, Köhler gegen Schwan – in der Presse, auch in der konservativen Presse, "Frankfurter Allgemeine Zeitung" beispielsweise, starke Sympathien für die SPD-Kandidatin Gesine Schwan gegeben hat. Also das ist durchaus nicht ungewöhnlich. Es gibt diese Sehnsucht nach einem, über den Parteien stehenden Präsidenten auch im Feuilleton. Was sicherlich jetzt hier dazugekommen ist, das der große Unterschied zur Wahl von vor einem Jahr: Es gibt auch in der Öffentlichkeit selber und bei den Menschen eine starke Sympathie für Joachim Gauck. Das weisen zumindest die Umfragen aus.

    Heinemann: Herr Decker, ganz kurz noch zum Verfahren. Warum wird der Präsident bei uns nicht vom Volk gewählt?

    Decker: Das ist eine ganz bewusste und ich denke auch kluge Entscheidung der Verfassungsväter und –Mütter gewesen. Man wollte eben genau das nicht mehr, was man in der Weimarer Republik hatte: einen starken, auch mit Regierungsbefugnissen ausgestatteten Präsidenten, der über die Direktwahl eine eben auch entsprechende Legitimation verfügte. Diese Frage müssen natürlich die Befürworter einer Direktwahl beantworten: Macht eine Direktwahl Sinn - sie würde ja zu einer Aufwertung des Amtes führen -, wenn man es gleichzeitig bei der politischen Machtlosigkeit des Amtes belässt? Ein direkt gewählter Präsident, an den würden Erwartungen herangetragen durch seine bessere Legitimation, die er eigentlich im Amt selber dann gar nicht einlösen kann. Von daher, denke ich, war das eigentlich eine kluge Entscheidung und man sollte es dabei belassen. Man sollte vielleicht über was anderes nachdenken. Wenn das Amt überparteilich angelegt ist, braucht man dann nicht auch eine Bestellung mit einer größeren Mehrheit, sodass die Parteien zu einem Konsens gezwungen wären?

    Heinemann: Und über diese Frage werden wir uns heute noch im Verlauf dieser Sendung auseinandersetzen. Der Bonner Politikwissenschaftler Professor Frank Decker.