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Die AIDS-Situation in Deutschland

    Meurer: "Gib AIDS keine Chance", so lautet seit Ende der 80er Jahre der Slogan der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Die Kampagne hatte Erfolg. Viele greifen zum Kondom hierzulande, um sich gegen AIDS zu schützen. Jährlich infizieren sich in Deutschland etwa 2.000 Menschen. Nur 2.000? Hinter dieser Zahl verbergen sich schwere Einzelschicksale, um die sich die Deutsche Aidsstiftung kümmert. Sie ist auch bei der internationalen AIDS-Konferenz in Barcelona vertreten. Dort begrüße ich Ulrich Heide, Vorstandsmitglied der Deutschen AIDS-Stiftung. Herr Heide, 2.000 Neuinfizierte jährlich in Deutschland. Ist es viel oder wenig?

    Heide: Das kommt natürlich auf den Blickwinkel an. Es ist sicherlich aus Sicht derjenigen, die in Deutschland mit dem Thema AIDS zu tun haben, noch zu viel. Im internationalen Vergleich ist es außerordentlich wenig, und es steht für den Erfolg der Präventionskampagne in Deutschland.

    Meurer: Was sind die größten Probleme, die AIDS-Kranke und HIV-Infizierte in Deutschland haben?

    Heide: Zunächst muss man sehr deutlich sagen: Trotz der deutlich verbesserten Behandlungsmethoden, die wir seit Mitte der 90er Jahre haben, ist AIDS alles andere als eine harmlose Krankheit. AIDS kann nach wie vor nicht geheilt werden. Die Kombinationstherapien wirken nicht bei allen Patienten. Sie haben oft ganz deutliche das Wohlbefinden und auch die gesundheitliche Perspektive einschränkende Nebenwirkungen, und das ist der Punkt an dem insbesondere die Deutsche AIDS-Stiftung ansetzt. AIDS ist eine Krankheit, von der einerseits immer mehr Menschen betroffen sind, die ohnehin - vereinfacht gesagt - arm sind, also aus dem sozial eher schlechter gestellten Kreisen kommen. AIDS ist aber auch nach wie vor eine Krankheit, die arm macht oder arm machen kann.

    Meurer: Haben Sie eine Erklärung, warum die unteren sozialen Schichten sozusagen für solche Krankheiten eher disponiert sind?

    Heide: Das hat mit dem Zugang und der Erreichbarkeit durch Informationen zu tun, die in der Regel einen gewissen Ausbildungsstand, einen Informationsstand voraussetzen.

    Meurer: Um es mal drastisch zu sagen: Kondome benutzen, das ist auch eine Frage von Bildung.

    Heide: Im Grunde ja. Und Botschaften müssen überhaupt von Menschen wahrgenommen werden können, und es muss sozusagen in Handlung umgesetzt sein können, und das hat mit Ausbildung und mit Bildung zu tun, mit Sprachbeherrschung, mit der Chance, Dinge, Informationen gerade in den riskanten Situationen auf sein eigenes Leben und Verhalten zu übertragen.

    Meurer: In den 80er Jahren wurden AIDS-Kranke eher noch ausgegrenzt. Manche wollten sie am liebsten ganz wegsperren. Ist das gesellschaftliche Klima besser geworden für AIDS-Kranke und HIV-Infizierte?

    Heide: An der Oberfläche ist es ohne Zweifel besser geworden. Ich glaube aber, dass das auch damit zu tun hat, dass AIDS in Deutschland glücklicherweise nicht das Ausmaß an Infektionszahlen erreicht hat, die bei uns Mitte und Ende der 80er Jahre befürchtet wurden. Mittlerweile haben im Grunde alle Menschen in Deutschland gesehen, dass man sich ganz offensichtlich nicht durch übliche soziale Kontakte mit HIV infizieren kann. Die Infektionszahlen in Deutschland mit ca. 40.000 Infizierten sprechen dafür, dass AIDS nicht ganz so einfach übertragen werden kann, wie das befürchtet wurde. Das lässt auf der einen Seite Hysterie, die wir lange beobachten mussten, nun deutlich schwinden. Es lässt aber auch natürlich ein Teil Gleichgültigkeit entstehen. Ich möchte nochmals kurz auf einen Aspekt zurückkommen. Ich hatte vorhin gesagt: AIDS ist nach wie vor eine Krankheit, die auch arm machen kann, und das hat vor allem mit der Altersstruktur zu tun. Von AIDS sind in Deutschland wie im internationalen Bereich vor allem jüngere Menschen betroffen. Es ist immer noch so, dass fast 50 Prozent derjenigen, die in Deutschland an AIDS sterben, jünger als 40 sind. Und von denjenigen, die sich um Hilfe an die Deutsche AIDS-Stiftung wenden müssen, sind fast 70 Prozent jünger als 40.

    Meurer: Was meinen Sie mit Gleichgültigkeit?

    Heide: Gleichgültigkeit gegenüber dem Thema insgesamt. Es gibt eine deutlich geringere Medienwahrnehmung, und es gibt eine gefährliche Einschätzung, die sagt: AIDS ist zumindest bei uns nicht mehr so problematisch. Ich glaube auch, dass es viele jüngere Menschen gibt - dafür sprechen zumindest einige Untersuchungen -, die in AIDS nicht mehr das Risiko, nicht mehr die Bedrohung sehen, die AIDS für ihre gesundheitliche Situation, letztlich für ihr Leben tatsächlich darstellen kann. Also Einschätzungen über Notwendigkeit, Kondome zu benutzen, also sich und Partnerin bzw. Partner zu schützen, das lässt leider nach.

    Meurer: Wie erklären Sie es sich, wenn es denn stimmt, dass in den letzen Jahren immer mehr Frauen in Deutschland an HIV infiziert werden?

    Heide: Ich glaube, das erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Also es stimmt, der Anteil der Frauen nimmt zu, wobei der Anteil der Frauen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre bei nur 10 Prozent lag, inzwischen bei deutlich über 20 Prozent, also immer noch der klar geringere Anteil ist. Aber das hat mit dem allgemein schwindenden Interesse zu tun, es hat damit zu tun, dass die in den ersten Jahren in Deutschland am stärksten betroffenen Gruppe, also die Gruppe der homosexuellen Männer sicherlich auch die am besten informierte ist, und dass in dieser Gruppe die Infektionszahlen zwar immer noch relativ hoch sind, aber deutlich schwinden.

    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio