Archiv


'Die Arroganz der Schweizer Banken ist schockierend'

Remme: Am Telefon in Genf ist nun der Publizist Jean Ziegler. Er war über lange Jahre Mitglied im schweizerischen Parlament. Guten Morgen Herr Ziegler!

    Ziegler: Guten Tag!

    Remme: Herr Ziegler, Ihr Finanzminister Kaspar Villiger hat es anklingen lassen. Der Absturz der Swissair ist mehr als eine Unternehmenspleite oder?

    Ziegler: Ja, ganz sicher! Es ist ein Erdbeben. Man muss einmal die Dimensionen sehen. Gestern hat die Swissair den Verkehr schon am zweiten Tag komplett stillgelegt. Das heißt in der ganzen Welt haben 39000 Personen nicht abfliegen können. 470 Swissair-Flüge auf der ganzen Welt sind ersatzlos gestrichen worden. Dazu kommt, dass die Swissair das Überschreiben von Flugtickets auf andere Fluggesellschaften nicht möglich gemacht hat. Keine Fluggesellschaft hat ein Swissair-Ticket angenommen. 39000 Personen auf der ganzen Welt sind ohne Flugschein und ohne Möglichkeit einer Überschreibung auf eine andere Airline sitzen geblieben. Dazu kommt, dass die Swissair zum Beispiel in Zürich-Kloten, wo Tausende und Tausende von Menschen aus der ganzen Welt auf den Abflug gewartet haben, sich geweigert hat, etwa Hotels zu bezahlen, was für viele nichtbegüterte Reisende eine Katastrophe war. Da kam dann glücklicherweise die Bevölkerung von Kloten. Das ist die Stadt, wo der Flugplatz ist, ein Ort mit 17000 Einwohnern. Die hat sich dann sehr erbarmungsvoll gezeigt, hat Leute eingeladen, die Heilsarmee, der Zivilschutz, Keller haben sich geöffnet, damit diese Reisenden doch während 48 Stunden irgendwo schlafen konnten. Hinzu kommt der Totalverlust des Aktienkapitals. Ich gebe eine Zahl: 1998 war die Swissair-Aktie noch bei 500 Franken, gestern lag sie bei 1,27 Franken, also ein Totalabsturz, wie man es in der schweizerischen Wirtschaftsgeschichte sonst nicht kannte.

    Remme: Herr Ziegler, ich habe es erwähnt: die Wut der Demonstranten richtet sich gar nicht so sehr gegen das Swissair-Management, sondern gegen die Banken. Ihrer Meinung nach zurecht?

    Ziegler: Nicht nur meiner Meinung nach als Soziologieprofessor, sondern der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung. Gestern gab es ja diese berühmten großen Umzüge in Zürich. Heute lese ich die "Tribune de Geneve", die größte Zeitung in Genf. Der Haupttitel heißt "United Bandits of Switzerland". Die UBS, "United Bank of Switzerland", wird umgeschrieben im großen Titel "United Bandits of Switzerland". Die größte Schweizer Bank wird als Banditen-Bank bezeichnet, nicht von irgendeiner konfusen linksextremen Gruppe, sondern von der größten Tageszeitung der Republik Genf. Das gibt ungefähr die Stimmung wieder, weil der Zynismus der zwei Schweizer Großbanken, Kredit Swiss und UBS, war unglaublich. Die wollten die Swissair liquidieren, und zwar im Schnellverfahren, damit sie nicht einen Sozialplan bezahlen mussten. Während des ganzen Montags war es dem Bundesrat - das ist die Regierung in Bern, also die demokratisch gewählte Regierung der Eidgenossenschaft - physisch unmöglich, mit irgendeinem dieser Großbankiers in Kontakt zu kommen. Die haben das Telefon einfach nicht abgenommen. Stellen Sie sich vor, der Herr Bundeskanzler Schröder würde versuchen, die Deutsche oder Dresdner Bank 12 Stunden lang anzurufen und die nähmen das Telefon einfach nicht ab. Das ist glaube ich das schockierendste Ereignis für das schweizerische Kollektivbewusstsein gewesen, diese totale Arroganz der Banken, die nicht nur Tausenden von Angestellten die kalte Schulter gezeigt haben, sondern die auch noch in der Sparkasse der Swissair den Rückzug der Individualkonten gesperrt hatten und dazu noch überhaupt dem Bundesrat, der gewählten Regierung keine Antwort gegeben haben, nicht einmal das Telefon abgenommen haben.

    Remme: Aber Herr Ziegler, ist es denn nicht naiv, von den Banken lediglich patriotisches Verhalten zu erwarten?

    Ziegler: Das ist eine gute Frage, aber man könnte minimalen menschlichen Anstand verlangen. Diese Schweizer Großbanken reden ja immer vom Standort Schweiz, von der Wichtigkeit der Rahmenbedingungen, wie sie der Schweiz dienen. Die "Kredit Swiss" hat noch den Namen des Landes im Logo. Swiss heißt ja auf Französisch Schweiz. Diese Manager, die heute an der Spitze dieser Banken stehen, die kümmern sich um die Schweiz, um die Bevölkerung, um die Swissair-Angestellten, um die zehn Tausenden von gestrandeten Fluggäste und damit auch um das Bild der Schweiz in der Welt überhaupt gar nicht. Die leben vom Fluchtgeld aus den Dritte-Welt-Ländern, von den Steuerhinterziehungen aus Deutschland und so weiter, sind weltweit tätig. Durch Zufall haben die noch Hauptquartiere in Zürich und in Basel, vor allem auf dem Paradeplatz in Zürich und der Bahnhofstraße, aber ein Verantwortungsgefühl irgendwie gegenüber dem Kollektivsubjekt schweizerische Eidgenossenschaft oder den Arbeitnehmern und so weiter kann man bei denen nicht feststellen.

    Remme: Herr Ziegler, sind diese Ereignisse auch ein Beispiel dafür, dass Schweizer Einzelwege im Zeitalter der Globalisierung in die Sackgasse führen müssen?

    Ziegler: Sie haben Recht, aber es ist komplizierter als das. Es stimmt: der Schweizer Sonderfall wird immer wieder zitiert. Die Großbankiers weigern sich, der Europäischen Union beizutreten. Die Schweiz ist nicht in der Europäischen Union, weil wir das Bankgeheimnis unbedingt brauchen und behalten wollen. Die Schweiz ist nicht einmal Mitglied der UNO. Dieser Sonderfall wird immer wieder angerufen. Man weiß nicht, warum das eigentlich so ist. Gottes ausgewähltes Volk sollten wir sein. Dafür hat man aber keine Anhaltspunkte. Es geht aber weiter. Das Swissair-Debakel ist das Debakel der sogenannten Züricher Wirtschaftselite, dieser unglaubliche Filz, wo wenn einer in der richtigen Partei ist, am richtigen Platz im Parlament sitzt, geht er automatisch in den Verwaltungsrat der Swissair. Darin saßen also vollständig unkompetente Leute, die diese stolze, durchaus rentable Fluggesellschaft - vor drei Jahren war sie das noch -, eine weltweit großartige Fluggesellschaft, in die Misere gebracht haben. Einerseits haben sie geplündert. Das war eine zwölfköpfige Geschäftsleitung. Jeder hat 500000 Franken im Jahr kassiert. Jeder der wegging hat ein paar Millionen als goldener Fallschirm mitgenommen. Dazu die totale Inkompetenz. Und so ist die Swissair eben vom Himmel gefallen, wenn ich das so sagen kann.

    Remme: Dieser Filz, den Sie angesprochen haben, der findet ja möglicherweise seine Entsprechung in der Politik, in der Zauberformel, in der Konsensdemokratie, dass dort praktisch seit Jahrzehnten ohne Opposition regiert wird. Muss diese Situation angesichts einer Wirtschaftspleite auch überdacht werden?

    Ziegler: Ich glaube, Sie haben das Grundübel angesprochen. Es gibt keine Opposition in dieser uralten Demokratie. Die schweizerische Eidgenossenschaft wurde 1291 gegründet. Das ist lange, lange her. Wir, also der heute Bundesstaat, leben unter der Verfassung von 1848. Es gibt also keine Opposition. Alle wesentlichen Parteien sind in der Koalitionsregierung, die es gar nicht gibt. Es gibt einfach sieben einzeln gewählte Bundesräte, Minister, aber es gibt auch keinen Koalitionsvertrag. Die sind da so in einem Beton-Konsens und weil es keine Opposition gibt, gibt es auch keine lebendige Kritik, gibt es keine eigentliche politische Diskussion und auch keine Kontrolle. Dazu kommt, dass unser Parlament, also die zwei Kammern - die machen zusammen 244 Abgeordnete, der nationale Ständerat, die Kantonskammer und die Volkskammer, Männer und Frauen, leider weniger Frauen - keine Unvereinbarkeit haben. Das ist für einen Kollegen vom Bundestag zum Beispiel nicht nachvollziehbar. Wenn einer in der richtigen Partei ist, wird er sofort als Parlamentarier in die Verwaltungsräte der Großbanken und so weiter übernommen, so eben auch der Swissair. Da saß eine Hausfrau aus Zürich, eine Frau Spöri, im großen Swissair-Verwaltungsrat. Da saß ein ehemaliger Regierungsrat, der Präsident von Zürich war, weil der Vater schon im Bundesrat war, einer namens Honecker. Total unfähige Leute, aber eben in der richtigen Partei. Weil es kein Unvereinbarkeitsgesetz gibt, ist das auch ganz legal.

    Remme: Herr Ziegler, Sie haben den Ist-Zustand der Schweizer Politik beschrieben. Die Schweizer haben das ja toleriert. Sonst hätte es nicht so lange gedauert. Auch mit Blick auf das Attentat in Zug und diese Pleite sprechen viele Kommentatoren von einer Verunsicherung der Schweizer. Sehen Sie Indizien dafür, dass sich die Zustände ändern?

    Ziegler: Ich möchte eine ganz widersprüchliche Antwort geben. Einerseits ist die Schweiz ein ganz großartiges Land, von der Geschichte und der Kultur her. Vier europäische Kulturen auf 42000 Quadratkilometern, also auf kleinstem Boden: die Rätoromanen, die italienisch sprechenden, die französisch sprechenden, die alemannisch sprechenden - Deutsch darf man ja nicht sagen. Das sind lebendige Kulturen. Diese Eidgenossenschaft ist wirklich eine Eidgenossenschaft, ein konfliktuelles Zusammenleben von ganz verschiedenen lebendigen Völkern mit tiefen historischen Wurzeln. Darin ist viel Leben. Wir sind von diesen Großbanken, von dieser Bankenoligarchie aber kolonisiert. Die Tatsache, dass die Schweiz trotz ihrer ethnisch-kulturellen Zusammensetzung nicht in der Europäischen Union ist, ist eine totale komplette Absurdität. Sie wird es 30 Jahre lang nicht sein. Es wird ja ständig wieder abgestimmt, das letzte Mal im März. Der Beitritt wird per Volksabstimmung ständig verweigert und das führt dann zu einem Albanien der Alpen, zu einer Korruption, zu einer Verunsicherung, wie Sie sagen, und zu einer ganz tiefen, tiefen Identitätskrise. Das ist bitter, bitter schade für dieses Volk und dieses Land.

    Remme: Vielen Dank! - Das war der Publizist Jean Ziegler aus Genf.

    Link: Interview als RealAudio