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"Die Ausgabenseite in den Blick nehmen"

Es besteht Handlungsbedarf im Gesundheitswesen, sagt die Chefin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung, Doris Pfeiffer. Angesichts eines Defizits von 7,8 Milliarden Euro in diesem Jahr müsse die Bundesregierung alle Einsparmöglichkeiten nutzen. Sie rechne bis spätestens Anfang 2011 mit Zusatzbeiträgen für fast alle Versicherten.

Doris Pfeiffer im Gespräch mit Jürgen Liminski | 25.01.2010
    Jürgen Liminski: Schon Platon meinte, das ständige Reden über die Gesundheit sei auch eine Krankheit, aber der kluge Grieche kannte unser Gesundheitssystem nicht, sonst hätte er auch gesagt, hier muss geredet und gehandelt werden. Reden über das notwendige Handeln, das wollen wir nun tun mit Doris Pfeiffer. Sie ist die Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, also des Dachverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen. Guten Morgen, Frau Pfeiffer.

    Doris Pfeiffer: Schönen guten Morgen!

    Liminski: Frau Pfeiffer, heute werden einige Krankenkassen einen Zusatzbeitrag von acht Euro ankündigen. Im Laufe der Woche und der nächsten Monate werden sich mehrere Krankenkassen anschließen. Um eine Größenordnung zu bekommen: Für wie viele Versicherte rechnen Sie mit Zusatzbeiträgen?

    Pfeiffer: Ich gehe davon aus, dass wir zum Ende des Jahres, spätestens im nächsten Jahr bei allen Versicherten solche Zusatzbeiträge haben werden. Es gibt nur einige wenige Kassen, die Zusatzprämien auszahlen können. Die weit überwiegende Mehrheit wird Zusatzbeiträge zahlen müssen.

    Liminski: Also auf mehr als 90 Prozent sagen wir mal aller Versicherten in Deutschland kommen neue Kosten zu. Was decken diese Zuzahlungen eigentlich ab?

    Pfeiffer: Es ist ja mit dem Gesundheitsfonds jetzt neu, dass es einen einheitlichen Beitrag gibt, und wenn die Kassen mit diesem Geld nicht auskommen, weil die Ausgaben steigen, dann müssen sie diese Mittel, die sie brauchen, um Ärzte, Krankenhäuser, Arzneimittel und anderes zu finanzieren, solche Zusatzbeiträge erheben.

    Liminski: Es gibt aber auch Kassen, die Geld zurückzahlen. Ist das also eine Frage des Managements der Kasse, oder der Qualität der Versicherten, jung, gesund, berufstätig?

    Pfeiffer: Sicherlich hängt es mit der Struktur der Versicherten einer Kasse zusammen. Es ist kein Management-Problem. Wir haben insgesamt in der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Jahr ein Defizit von etwa 7,8 Milliarden. Das hängt damit zusammen, dass die Ausgaben für Krankenhäuser, für Ärzte doch sehr deutlich gestiegen sind, gleichzeitig aber die Einnahmen zurückgehen. Von daher ist das ein Problem, das alle Kassen haben. Manche haben noch ein paar Reserven aus der Vergangenheit, andere haben diese Reserven schon aufgebraucht und müssen jetzt Zusatzbeiträge erheben.

    Liminski: Die Zusatzbeiträge sind so was wie der fehlende Boden im Fass namens gesetzliche Krankenkassen. Kann man diesen Boden nicht doch irgendwie einziehen, oder geht das jetzt so weiter, jedes Jahr ein neuer Zusatzbeitrag?

    Pfeiffer: Wichtig ist, dass man bei den Diskussionen um die Gesundheitsreform auf jeden Fall die Ausgabenseite in den Blick nimmt. Wir haben seit Jahren ständig steigende Ausgaben für Ärzte, für Krankenhäuser, für Arzneimittel und dies ist durch die letzte Koalition noch mal massiv verstärkt worden im letzten Jahr. Hier müsste der neue Gesundheitsminister, die Bundesregierung sich sehr genau ansehen, an welchen Stellen tatsächlich hier neue Zuwächse nötig sind, weil beispielsweise die Menschen kränker werden. Meistens haben wir aber die Erfahrung, dass zu viel Geld ausgegeben wird für Dinge, die gar nicht Nutzen für die Versicherten sind.

    Liminski: Die Ausgabenseite, sagen Sie. Hat denn die von der Großen Koalition als Gesundheitskompromiss erfundene Institution des sogenannten Gesundheitsfonds versagt? Ist der überhaupt zukunftsfähig, oder haben sich die gesetzlichen Krankenversicherungen nur verkalkuliert bei der Berechnung der Kosten und Beiträge?

    Pfeiffer: Der Gesundheitsfonds hat in seiner Struktur die Zusatzbeiträge angelegt. Das war von der Großen Koalition gewollt. Damals ist gesagt worden, wir setzen jetzt einheitlich den Beitragssatz fest, die Kassen können dort nicht mehr Einfluss nehmen, und wenn Geld fehlt im Gesundheitsfonds, wie das dieses Jahr der Fall ist, müssen sie Zusatzbeiträge erheben. Das war das Ziel der Bundesregierung. Von daher ist das gekommen, was man sich damals vorgestellt hat. Das bedeutet eben, dass die Versicherten nun Zusatzbeiträge zahlen müssen.

    Liminski: In einem Zeitungsinterview am Wochenende plädieren Sie für ein Ausgabenmoratorium für Arzneimittel und Ärztehonorare. Da sind ja die Kosten oder die Ausgaben auch aus dem Ruder gelaufen. Die Ausgaben sollen zumindest auf dem Niveau von 2009 eingefroren werden. Wie lang soll das dauern? Wie viele Nullrunden soll es für Ärzte geben?

    Pfeiffer: Man muss ja sehen, dass Ärzte und Krankenhäuser in den letzten beiden Jahren erhebliche Zuwächse bekommen haben. Gleichzeitig sehen wir, dass die Versicherten um ihre Arbeitsplätze bangen, zum Teil auch Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, und es kann meines Erachtens nicht sein, dass die Kostenentwicklung in einem solchen Bereich völlig unabhängig von dem geschieht, was in der Gesamtwirtschaft passiert. Das heißt also, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung muss hier eine Rolle spielen, und eine Anbindung an die Entwicklung der Löhne und Gehälter halte ich für unvermeidlich, wenn wir nicht hier die Versicherten massiv belasten wollen.

    Liminski: Sehen Sie denn eine Schieflage in der Belastungsstruktur der Bürger, wenn einerseits Sozialabgaben erhöht werden, wie jetzt, und andererseits die Hotelbranche mit einer Milliarde Euro pro Jahr gemästet wird?

    Pfeiffer: Wir haben schon seit vielen Jahren die Forderung, beispielsweise die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel abzusenken. Hier ist es weiterhin so, dass der volle Mehrwertsteuersatz gezahlt werden muss. Das müssen die Versicherten über Beiträge zahlen, zukünftig dann auch über die Zusatzbeiträge, und hier wäre sicherlich ein wichtiger Punkt, der würde etwa 2,3, 2,4 Milliarden Euro bringen, wenn der Bund auf die volle Mehrwertsteuer verzichten würde, wie man das jetzt für die Hotelbranche getan hat.

    Liminski: Welche Einsparmöglichkeiten oder Ausgabenbegrenzungsmöglichkeiten sehen Sie denn noch?

    Pfeiffer: Wichtig wäre, wenn man zumindest für die Zukunft dann auch dadurch Einsparmöglichkeiten vorsieht, dass man mehr Wettbewerb zulässt. Insbesondere beispielsweise im Krankenhausbereich haben wir nach wie vor einen wettbewerbsfreien Raum für die Kassen. Sie müssen mit jedem Krankenhaus, das in einem Landesplan enthalten ist, Verträge schließen. Das bedeutet, dass sie in einer Region etwa 50 Kilometer um Essen herum mehr als 100 Häuser haben, die beispielsweise Hüfttransplantationen machen. Das wäre ein Bereich, wo man sehr gut sagen könnte, dass einzelne Kassen hier auch Verträge mit einzelnen Krankenhäusern zu günstigen Konditionen mit hoher Qualität schließen, ohne dass die Versicherten dadurch belastet werden.

    Liminski: Vielleicht gehen wir mal zu den Patienten selber. Die Deutschen gehen pro Jahr 18 mal zum Arzt. Sind wir ein krankes Volk, oder handelt es sich hier nicht doch in der Mehrzahl der Fälle um eine Art Gesprächstherapie? Mit anderen Worten: Sollte man die Kunden oder Patienten nicht stärker an den Kosten beteiligen, etwa durch Aufstocken der Praxisgebühr, statt durch Zusatzbeiträge?

    Pfeiffer: Das Problem ist ja, dass man in der Regel davon ausgehen kann, dass 80 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen auf 20 Prozent der Versicherten entfallen. Das heißt, das sind in der Regel chronisch Kranke oder schwer Kranke, die man nicht durch eine solche Kostenbeteiligung steuern kann, oder gar sollte. Ich denke, das ist wichtig, dass die auch regelmäßig zum Arzt gehen und dort eben die entsprechenden Kontrolluntersuchungen machen.
    Unser Eindruck ist häufig, dass durch Wiedereinbestellungen, die möglicherweise nicht notwendig sind, hier zusätzliche Kosten produziert werden. Das versucht man ja gerade auch durch diese speziellen Chroniker-Programme zu steuern und dabei eben darauf zu achten, dass die Qualität der Versorgung gut ist, ohne dass hier unnötige Kosten produziert werden.

    Liminski: Was halten Sie eigentlich von der Idee einer Gesundheitsprämie, die die ehemalige Reformkommission der Union unter Leitung von Altbundespräsident Roman Herzog ins Spiel gebracht hatte und die auch Minister Rösler anscheinend ganz gut findet?

    Pfeiffer: Der entscheidende Punkt bei der Gesundheitsprämie ist ja, dass sie keinen Einkommensbezug mehr hat. Heute haben wir einkommensbezogene Beiträge. Das heißt, es findet innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung ein Solidarausgleich statt zwischen Höherverdienenden und Geringerverdienenden, zwischen Familien und Alleinstehenden. Hier würde man natürlich diesen Einkommensausgleich aus der Krankenversicherung herausnehmen und müsste ihn anderweitig organisieren. Das heißt also, man müsste hier entsprechende Steuermittel vorsehen, aber nicht nur die Mittel vorsehen, sondern auch ein Verfahren organisieren, das ähnlich automatisch abläuft, wie das in der Krankenversicherung derzeit passiert. Da ist mir noch nicht klar, wie das funktionieren soll. Da bin ich gespannt, was die jetzt einzusetzende Regierungskommission denn da für Vorschläge machen wird.

    Liminski: Immer mehr große gesetzliche Krankenkassen fusionieren. Das prominenteste Beispiel ist das Zusammengehen der Barmer Ersatzkasse mit der GEK, zusammen jetzt ein Volumen von rund 22 Milliarden Euro und die größte Kasse in Deutschland. Geht diese Fusionietis weiter, bis zum Schluss dann nur noch eine einzige gesetzliche Krankenkasse übrig bleibt und damit auch dieser komplizierte Solidarausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen wegfällt?

    Pfeiffer: Wir beobachten seit vielen Jahren einen Konzentrationsprozess, der wahrscheinlich einmalig ist im Gesundheitswesen. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Kassen halbiert und wir gehen davon aus, dass dieser Fusionsprozess weitergeht. Ich gehe aber auch davon aus, dass es nicht zu einer Einheitskasse kommen wird, und ich denke, die Politik sollte auch dann alles tun, dieses zu vermeiden, weil es wichtig ist, dass man einen Wettbewerb der Kassen auch zukünftig hat, damit die Versicherten wählen können und die Kassen sich durch Service, aber auch durch besonders günstige, qualitativ hochwertige Angebote um die Kunden werben. Von daher hoffe ich, dass wir auch zukünftig hier einen guten Wettbewerb haben und genügend Wettbewerber, die dann der Versicherte wählen kann.

    Liminski: Was erwarten Sie konkret von Gesundheitsminister Philipp Rösler für die nächsten 100 Tage?

    Pfeiffer: Wichtig ist – das hat er ja Gott sei Dank jetzt am Wochenende schon angekündigt -, dass man sich auch der Ausgabenseite widmet, insbesondere der Arzneimittelbereich. Hier ist die Preisgestaltung nach wie vor ein großes Problem. Wir haben immer noch die Situation, dass die Pharmaindustrie neue Produkte auf den Markt bringt und die Preise quasi frei festsetzen kann. Die Kassen müssen zahlen und hier beobachten wir nach wie vor massive Zuwächse. Das wäre schon ein wichtiger Ansatzpunkt, wenn die Regierung hier eingreifen würde, um die Ausgaben zu begrenzen und damit die Versicherten nicht mit dieser Belastung allein zu lassen.

    Liminski: Es besteht Handlungsbedarf im Gesundheitswesen, sagt die Chefin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung, Doris Pfeiffer, hier im Deutschlandfunk. Besten Dank für das Gespräch, Frau Pfeiffer.

    Pfeiffer: Ich danke Ihnen.