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Die ausgequetschte britische Mittelschicht

Die britische Mittelschicht wird durch den Sparkurs der Regierung finanziell förmlich ausgequetscht - die "squeezed middle" ist mittlerweile Bestandteil des Wortschatzes. Und nun muss der britische Finanzminister, Schatzkanzler George Osborne, weitere zehn Milliarden Pfund einsparen.

Von Ruth Rach | 05.12.2012
    In den Einkaufsstraβen glitzert der Weihnachtsschmuck, in Schaufenstern locken grellbunte Schilder mit immer höheren Rabatten. Aber selbst in den relativ wohlhabenden Städtchen im Südosten Englands hat jedes fünfte Geschäft verbretterte Türen, im Norden sind es noch mehr.

    Vereinzelt stehen groβe Ketten vor dem Aus, wie der Elektro-Riese "Comet" – Tausende von Menschen bangen um ihre Arbeitsplätze. Über eine Million Jugendliche haben keinen Job. Arbeitsbeschaffungsprogramme der konservativen Regierung haben nicht gegriffen. Aber selbst Briten, die noch eine Stelle haben, können sich nicht so recht auf Weihnachten freuen.

    Jo, Anfang 30, verdient umgerechnet 25.000 Euro brutto im Jahr. Er bezahlt Steuern und Sozialversicherung, aber nach allen Abzügen hat er knapp hundert Euro in der Woche übrig. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Niemand helfe ihm, schimpft Jo: Wahrscheinlich würde er finanziell besser dastehen, wenn er – wie sein Nachbar – von der Arbeitslosenhilfe leben würde.

    Jo gehört zur sogenannten "squeezed middle", ein Begriff, der in Groβbritannien bereits 2011 zum Wort des Jahres gekürt wurde und die arbeitende Mittelschicht umfasst, deren Einkommen schon seit Jahren stagniert, die jedoch unter den wachsenden Steuerlasten und Lebenshaltungskosten besonders schwer leidet. Daher der Begriff 'squeezed middle' – ausgequetschte Mittelschicht.

    Britische Essenstafeln berichten, dass sie immer mehr Lebensmittel auch an bedürftige Mittelschichtsfamilien verteilen. Über drei Millionen sind 'unterbeschäftigt' – das heißt, sie arbeiten weniger, als sie eigentlich wollen. Jede fünfte Familie ist inzwischen auf Nahrungssmittelspenden angewiesen, sagt Carmel McConnell, Gründerin der englischen Kindertafel 'Magic Breakfast', die dafür sorgt, dass Schüler den Unterricht nicht mit leerem Magen antreten.

    "Mindestens 700.000 Kinder kommen hungrig in die Schule, das sind schändliche, schockierende Zustände."

    Aber Schatzkanzler George Osborne, der schon vor zwei Jahren die Weichen für das härteste Sparprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg gestellt hat, will, dass die Briten den Gürtel noch enger schnallen. Hunderttausende von Stellen im öffentlichen Dienst wurden bereits gestrichen. Es werde länger als geplant dauern, um die Staatsverschuldung abzubauen, erklärte John Osborne schon im Vorfeld des heutigen Berichts zur Lage der Staatsfinanzen.

    Bis zum Jahr 2016 müssten weitere zehn Milliarden Pfund aus dem Sozialbudget gestrichen werden. Wohnzulagen sollen gekappt – Sozialleistungen für arbeitslose Familien mit drei oder mehr Kindern gekürzt werden. Ein umstrittener Plan. Die liberaldemokratischen Koalitionspartner stellen sich quer. Weit weniger umstritten ist allerdings John Osbornes Entscheidung, zumindest ein paar Steuer-Schlupflöcher von Hochverdienern zu schlieβen. Groβkonzerne wie Google, Amazon und Starbucks nutzen schon seit Jahren die Schwächen in der internationalen Steuergesetzgebung, um auch in Groβbritannien - ganz legal - extrem niedrige Steuern zu zahlen.

    Es ist nicht richtig, dass wohlhabenden Leute und umsatzstarke internationale Konzerne Steuern vermeiden, erklärt Osborne. Nun will er den Etat der Steuerbehörde aufstocken, und hofft , Steuergelder in Milliardenhöhe zurückzubekommen.

    Starbucks hat bereits angekündigt, seine Steuersituation zu überprüfen. Kritiker weisen allerdings daraufhin, dass George Osborne den Spitzensteuersatz erst vor einem halben Jahr von 50 auf 45 Prozent senkte, und die Zahl der Steuerfahnder - im Zuge der Sparmaβnahmen - drastisch reduzierte.